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Alltag in Dostojewskijs Russland

von Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)
©2019 Dissertation 148 Seiten

Zusammenfassung

In Dostojewskijs Romanen und Erzählungen sind eine Fülle von Schilderungen zumeist städtischer Lebensweisen in Russland zu finden. Sie betreffen typische Wohnsituationen, das ökonomische Denken, soziale Gliederungen und Wertvorstellungen u.v.m. Der Band blickt auf diese russischen Alltagswelten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Prisma der Literatur, die in dieser Zeit danach strebt das Typische und Wesentliche menschlicher Lebensumstände zu schildern und den Durchschnittsmenschen als Helden entdeckt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Das Russland Dostojewskijs: Politisches System, Gesellschaft, Lebenswelten
  • Figuren der Enge. Zur Metamorphose des „Winkels“ bei Dostojewskij
  • Zur Kultur des Wohnens bei Fjodor Dostojewskij
  • Verausgaben oder Sparen. Zum ökonomischen Denken in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts
  • Der unbegreifliche Tod in F. M. Dostojewskijs „phantastischer“ Erzählung „Die Sanfte“ (Krotkaja, 1876)
  • Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie1
  • Horst-Jürgen Gerigk: Vom Igor-Lied bis Doktor Schiwago. Lesetipps zur russischen Literatur1
  • DEUTSCHE DOSTOJEWSKIJ-BIBLIOGRAPHIE 2017
  • Abbildungsverzeichnis

Carsten Goehrke

Das Russland Dostojewskijs: Politisches System, Gesellschaft, Lebenswelten

Am Morgen des 22. Dezember 1849 öffneten sich die Gefängnistore der Peter-und-Paul-Festung in der russischen Hauptstadt St. Petersburg und entließen 21 Häftlinge – aber nicht in die Freiheit, sondern auf den Richtplatz. Dort verlas man ihnen das Todesurteil, ließ sie das Kreuz küssen, zerbrach über ihren Köpfen den Degen und streifte ihnen weiße Hemden über, die „Todestoilette“. Drei Pfähle waren aufgerichtet, an die jeweils eine Dreiergruppe der Todeskandidaten für die Exekution angebunden wurde. Das Erschießungspeloton nahm Aufstellung, legte an und der kommandierende Offizier hob den Säbel. Doch statt des Kommandos „Feuer!“ wurde die Trommel gerührt, das Peloton musste die Gewehre absetzen, und der Offizier verlas einen Befehl des Kaisers, der den Verurteilten das Leben schenkte und sie zu langjähriger Zwangsarbeit begnadigte. Zur zweiten Gruppe derer, die erschossen werden sollten, gehörte ein achtundzwanzigjähriger ehemaliger Oberleutnant des kaiserlichen Ingenieurskorps namens Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij.

Was hatten er und die übrigen 20 Delinquenten verbrochen, dass man ihnen eine so barbarische Tortur mit einer Scheinhinrichtung zumutete? Sie alle gehörten zu einem Gesprächszirkel um den jungen Titularrat Michail Butaschewitz-Petraschewskij, in welchem man die Bücher vorwiegend französischer utopischer Sozialisten las und politisch-philosophische Diskussionen führte. Natürlich ging es dabei auch um das aktuelle politische System in Russland, doch von eigentlichen Umsturzplänen konnte keine Rede sein. Durch einen in den Kreis eingeschleusten Spitzel denunziert, wurde ihnen von der Anklage aber genau das vorgeworfen. Der Staat wollte den Anfängen politischer Verunsicherung wehren und daher ein Exempel statuieren, das Nachahmungstäter abschrecken sollte. Dabei waren die Petraschewzen, wie man sie nach Michail Butaschewitz-Petraschewskij titulierte, allesamt Angehörige der gesellschaftlichen Elite – junge Studenten, Offiziere und höhere Beamte. Ganz offensichtlich fürchteten die Kreise um Kaiser Nikolaj I. ein Wiederaufleben des ←13 | 14→Dekabristenaufstandes von 1825, als Hunderte von Gardeoffizieren die Thronvakanz nach dem überraschenden Tod Kaiser Alexanders I. nutzen wollten, um in einem Militärputsch das Kaisertum zu stürzen und Russland in eine konstitutionelle Monarchie oder in eine Republik umzuwandeln.

Dostojewskij wurde nach der Urteilsverkündung in Ketten gelegt und zur Verbüßung seiner Strafe nach Omsk in Westsibirien deportiert. Im Zuchthaus begegnete er unter seinen Mitsträflingen – fast alles Kriminelle – dem Abschaum der Gesellschaft. In einem ausführlichen Brief über seine Erlebnisse, den er erst am 22. Februar 1854 nach seiner Entlassung an seinen Bruder Michail nach Petersburg schreiben konnte, notiert er über sie:

Es sind rohe, gereizte und erbitterte Menschen. Der Hass gegen den Adel ist grenzenlos […]. Sie hätten uns am liebsten aufgefressen, wenn sie nur gekonnt hätten. Sie sagten: ‚Ihr Adelige habt eiserne Schnäbel, ihr habt uns zerhackt. Früher, als ihr Herren wart, habt ihr das Volk gepeinigt, und jetzt, wo es euch schlecht geht, wollt ihr unsere Brüder sein.‘ Dieses Thema wurde vier Jahre lang behandelt.1

Wohl erstmals in seinem Leben hatte Dostojewskij es direkt mit Angehörigen des einfachen russischen Volkes zu tun. Und er machte die Erfahrung, dass es selbst unter Raubmördern nicht nur vertierte Menschen gab, sondern auch „tiefe, starke und schöne Naturen“, wie er in dem schon genannten Brief schreibt.2 Diese und seine Erfahrungen als Kettensträfling (Abb. 1) goss er 1861/62 in seinen Roman Aufzeichnungen aus einem Totenhause (Zapiski iz mërtvogo doma).

Nach Beendigung seiner Zuchthausstrafe am 15. Februar 1854 wurde Dostojewskij wieder in das Militär eingeteilt und nach Semipalatinsk im heutigen Kasachstan versetzt. Allerdings musste er seine Karriere wieder als Gemeiner beginnen. 1856 wurde er zum Fähnrich befördert. Als 1855 nach dem Tod Kaiser Nikolaj I. dessen liberal gesinnter Sohn Alexander II. den Thron bestieg, nutzte Dostojewskij diese Chance, um unter Vermittlung einflussreicher Gönner seine Rehabilitierung zu betreiben. 1857 erhielt er seine Bürgerrechte und sein Adelspatent zurück, und 1859 durfte er aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit auch den Militärdienst quittieren – mittlerweile wieder als Leutnant. Doch erst zum Ende des Jahres erhielt er die ←14 | 15→Erlaubnis, auch in seiner Heimatstadt Petersburg Wohnsitz zu nehmen. Von nun an konnte er sich ganz dem Schreiben widmen.

1 Das System der russischen Autokratie

Den politischen Repressionsapparat des Regimes hatte Dostojewskij zur Genüge kennengelernt. Doch auch unter den späteren Zaren blieben Zwangsarbeit und Verbannung politischer Oppositioneller oder gar nur Verdächtiger üblich.

Kaiser Nikolaj I. litt bis zu seinem Lebensende an dem Trauma des Aufstandes vom Dezember 1825, der seinen Herrschaftsantritt überschattet hatte. Die Stützen des Zarenregimes – die Petersburger Gardeoffiziere – hatten aus seiner Sicht das Regime verraten. Wer konnte sich da noch seiner sicher sein? Daher gründete Nikolaj mit der Gendarmerie eine politische Polizei, die über ein weitverzweigtes Spitzelsystem die Gesellschaft unterwanderte, um alle regimekritischen Anwandlungen bereits im Keim zu ersticken. Aber nicht nur dadurch ruinierte der Kaiser das positive Bild, das Westeuropa seit den napoleonischen Befreiungskriegen von Russland ←15 | 16→gewonnen hatte.3 Auch die brutale Niederschlagung des Aufstandes von 1830/31, mit dem Polen sich von der Herrschaft des Zarenreiches befreien wollte, rief alte Vorurteile vom barbarischen, despotischen Russland erneut ins Leben. Und die westeuropäische Öffentlichkeit erinnerte sich mit einem gewissen Sarkasmus einer ebenfalls alten Tradition der russischen Selbstinszenierung – der pokazucha – der Vorgaukelung falscher Tatsachen, um im Konzert der europäischen Mächte einen Entwicklungsstand vorzutäuschen, den es gar nicht gab.4

Was war das Wesen der Autokratie, die das politische System Russlands zur Zeit des jungen Dostojewskij bestimmte? Wie die westeuropäischen Karikaturen und Dorés Historie vom Heiligen Russland zeigen, setzte man im „aufgeklärten Abendland“ russische Autokratie und orientalische Despotie gerne gleich. Dies ist jedoch eine unzulässige Verkürzung, denn das politische Handeln des Zaren war zumindest in der Theorie an die moralischen Werte des Christentums gebunden, die reine Willkür ausschlossen. Außerdem war die Entscheidungsfreiheit des Zaren durch den Machtapparat eingeschränkt, auf den er sich stützen musste – nämlich die staatliche Bürokratie, den Adel und die Kirche. Die Autokratie folgte einerseits dem Vorbild des byzantinischen Kaisertums, das vor allem durch Vermittlung der orthodoxen Kirche nach Russland gelangt war, speiste sich andererseits aber auch aus autogenen Wurzeln ostslawischer Fürstenherrschaft. Doch hatte bis zum 15. Jahrhundert die Aufsplitterung Russlands in Teilfürstentümer und Stadtstaaten wie Nowgorod und Pskow verhindert, dass sich die Machtträger zu „autokratisieren“ vermochten. Erst die Liquidierung dieser politischen Vielfalt unter den Zaren Iwan III. und Wasilij II. schuf seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Rahmen eines „Einheitsstaates“ unter Moskauer Ägide die Voraussetzungen für die Entstehung einer autokratischen Herrschaft. Die orthodoxe Kirche stand dabei Pate und machte sich sehr ←16 | 17→schnell daran, den zarischen Selbstherrscher als Stellvertreter Gottes auf Erden zu sakralisieren, damit irdischen Zugriffen, sogar christlich begründetem Widerstand zu entziehen und so den Grund für einen Zarenmythos zu legen. Der erste Zar, der seine Herrschaft ganz in diesem Sinne deutete, war Iwan IV. Grosnyj (1547–1584). Dass seine Regierungspraxis dabei zu einer reinen Willkürherrschaft entartete, sollte aber die Ausnahme bleiben. In der Folgezeit versteinerte die Autokratie mehr und mehr zu einem Amalgam aus politischen Intentionen des Zaren, bürokratischer Praxis, Interessen des Adels und der Kirche.

Vergleicht man diese Entwicklung mit derjenigen Lateineuropas, wo Stände- und Städtewesen sowie die Verrechtlichung der politischen Kultur selbst den absoluten Monarchen Zügel anlegten, stellt sich die Frage, warum das politische System Russlands sich in der Neuzeit so anders entwickeln konnte. Ich sehe vor allem vier Gründe:

Details

Seiten
148
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631796450
ISBN (ePUB)
9783631796467
ISBN (MOBI)
9783631796474
ISBN (Paperback)
9783631790021
DOI
10.3726/b15907
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Alltags- und Mentalitätsgeschichte Durchschnittshelden Wohnsituation Das Typische Ökonomisches Denken
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 148 S., 2 farb. Abb., 9 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)

Christoph Garstka ist als Professor für Russische Kultur am Slavischen Seminar/Lotman-Institut für Russische Kultur an der Ruhr-Universität Bochum tätig.

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