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Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen

von Jörg Bundle (Autor:in)
©2019 Dissertation 238 Seiten

Zusammenfassung

Anlass für die Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Probleme Großer Koalitionen gab die Dritte Große Koalition im 18. Deutschen Bundestag (22. Oktober 2013 bis 24. Oktober 2017), in welchem die Regierungsfraktionen über eine Zweidrittelmehrheit verfügten. Den Oppositionsfraktionen war es insbesondere nicht möglich, zwei wichtige Mittel des Opponierens, die Minderheitenenquete und die abstrakte Normenkontrolle, aus eigener Kraft zu nutzen. Dieses Dilemma entschärfte der Deutsche Bundestag etwas, indem er einen befristeten Geschäftsordnungskompromiss in § 126a GO-BT aufnahm, dennoch wurde diese kleine parlamentarische Errungenschaft von der Rechtsprechung wieder deutlich abgemildert. Der Autor zieht hieraus als Lehre von der Dritten Großen Koalition die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagungen
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einführung
  • I. Aktuelle Fragen zum Minderheitenschutz in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
  • II. Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen
  • III. Die Einordnung einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit in das verfassungsrechtliche Gefüge des Grundgesetzes
  • 1. Die bisherigen Großen Koalitionen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Bundestag und in den Landesparlamenten
  • a) Deutscher Bundestag
  • b) Landesparlamente
  • c) Fazit: Übermächtige Große Koalitionen sind Verfassungswirklichkeit
  • 2. Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen – eine Begriffsbestimmung der Großen Koalition
  • 3. Die „Opposition“ im Grundgesetz und deren verfassungsmäßige Garantie
  • a) Das Institut der „Opposition“ im staatsrechtlichen Sinne, ein Überblick über die Historie ab 1945 und die bisher gescheiterten Reformbestrebungen
  • aa) Entwicklungen ab 1945 bis zum Parlamentarischen Rat
  • bb) Erstmalige Normierung der Opposition im Bereich des Staatsschutzes
  • cc) Eine „kleine Parlamentsreform“ als Auswirkung der Ersten Großen Koalition
  • dd) Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Reform des Grundgesetzes (1991–1993)
  • b) Normierung der Opposition und Rechtezuweisungen in den Länderverfassungen
  • aa) Freie und Hansestadt Hamburg
  • bb) Land Schleswig-Holstein
  • cc) Land Berlin
  • dd) Freistaat Sachsen
  • ee) Land Sachsen-Anhalt
  • ff) Land Brandenburg
  • gg) Land Mecklenburg-Vorpommern
  • hh) Freistaat Thüringen
  • ii) Land Niedersachsen
  • jj) Freie Hansestadt Bremen
  • kk) Freistaat Bayern
  • ll) Land Rheinland-Pfalz
  • mm) Zwischenfazit
  • c) Der Begriff der Opposition in der Politikwissenschaft
  • d) Der Begriff der Opposition in der Rechtswissenschaft
  • aa) Das Verständnis der Opposition in der Literatur
  • bb) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zur Opposition und deren Gefüge im Grundgesetz
  • (1) Bildung und Ausübung einer Opposition als Prinzip der freiheitlich demokratischen Grundordnung
  • (2) Die Garantie von Minderheitenrechten der Opposition durch das Bundesverfassungsgericht mittels Verfassungsinterpretation
  • e) Zwischenfazit
  • 4. Die Minderheitenrechte im parlamentarischen Prozess
  • a) Definition der Minderheitenrechte
  • b) Die Entwicklung des Enqueterechts zum Minderheitenrecht
  • c) Herleitung und Umfang der heutigen Minderheitenrechte
  • d) Differenzierung zwischen absoluten und relativen Minderheitenrechten
  • e) Rechtsschutzmöglichkeiten für die Minderheit
  • f) Zwischenergebnis
  • B. Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen mit Zweidrittelmehrheit
  • I. Bestandsaufnahme: Die Rechte der Parlamentarier im Deutschen Bundestag – Einzeln, in Zusammenschlüssen und als Gruppe
  • 1. Die Rechte des einzelnen Abgeordneten
  • a) Die parlamentarischen Mitwirkungsrechte des einzelnen Abgeordneten
  • b) Die parlamentarischen Mitwirkungsrechte des einzelnen Abgeordneten im Untersuchungsausschuss und im Parlamentarischen Kontrollgremium
  • c) Zwischenfazit zu den Rechten des einzelnen Abgeordneten
  • 2. Die Rechte einer Fraktion oder eines der gleichgestellten Quoren
  • a) Die Rechtsfigur der Fraktion im Deutschen Bundestag
  • aa) Die Rechtsstellung der Fraktionen nach den Vorstellungen der Legislativen
  • bb) Die fehlende Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtstellung der Fraktionen
  • cc) Die Rechtsnatur der Fraktion nach Ansichten in der Rechtswissenschaft
  • b) Aufstellung der Rechte der Fraktion oder eines dem gleichgestellten Quorum
  • aa) Rechte aus Bundesgesetzen
  • (1) Parlamentsbeteiligungsgesetz
  • (2) Bundesverfassungsgerichtsgesetz
  • (3) Zwischenergebnis
  • bb) Rechte in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
  • (1) Fraktionsrechte oder Rechte eines fraktionsstärkengleichen Quorums von fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie Rechte einer Fraktion und eines Drittels der Ausschussmitglieder in Ausschüssen
  • (a) Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Gleichstellung von Fraktionen und (anerkannten) Gruppen nach § 10 Abs. 4 GO-BT
  • (b) Exklusive Fraktionsrechte
  • (2) Rechte einer Fraktion oder eines fraktionsstärkengleichen Quorums von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages
  • (a) Allgemeine Verfahrensrechte
  • (b) Verfahrensrecht im Rahmen der Gesetzgebung, bei Vorlagen und Wahlen
  • (c) Verfahrensrechte im Rahmen der Angelegenheit der Europäischen Union
  • (d) Kontrollrechte
  • (3) Rechte einer Fraktion und eines Drittels der Ausschussmitglieder in Ausschüssen
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Rein quorenabhängige Rechte
  • a) Quoren nach dem Wahlprüfungsgesetz
  • b) Quoren von einem Viertel
  • aa) Quoren von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestag nach dem Grundgesetz
  • (1) Das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages zur Durchführung einer Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof
  • (2) Das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages zur Durchführung eines Untersuchungsausschusses
  • (3) Das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages zur Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle
  • (4) Zwischenergebnis
  • bb) Rechte eines Quorums bei Vorlagen, die Angelegenheiten der Europäischen Union betreffen, aus einfachem Gesetz
  • cc) Quoren von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestag in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
  • dd) Quoren von einem Viertel der Mitglieder des jeweiligen Ausschusses
  • (1) Untersuchungsausschuss
  • (2) Verteidigungsausschuss als exklusiv zuständiger Untersuchungsausschuss auf dem Gebiet der Verteidigung
  • (3) Haushaltsausschuss
  • (4) Federführende Ausschüsse
  • (5) Zwischenergebnis
  • c) Quoren von einem Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages
  • d) Quoren von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages oder der anwesenden Mitglieder
  • aa) Anklage des Bundespräsidenten
  • bb) Änderung des Grundgesetzes
  • cc) Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen des Plenums
  • dd) Zwischenergebnis
  • 4. Zusammenfassung
  • II. Entwicklungen in der 18. Wahlperiode
  • 1. Maßnahmen der Opposition und des Gesetzgebers zur Wahrung der Minderheitenrechte und Reaktion durch die Regierungsfraktionen
  • a) Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zwecks Sicherung der Minderheitenrechte der Opposition im 18. Deutschen Bundestag (BT-Drs. 18/379)
  • b) Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Oppositionsrechte in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (BT-Drs. 18/380)
  • c) Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung zur besonderen Anwendung der Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode (BT-Drs. 18/481)
  • d) Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 39, 44, 45a, 93) (BT-Drs. 18/838)
  • e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vom 2. April 2014 (BT-Drs. 18/997)
  • 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Mai 2016, Az. 2 BvE 4/14
  • a) Zulässigkeit
  • aa) Statthafter Antragsgegenstand nach § 64 Abs. 1 BVerfG
  • bb) Prozessstandschaft
  • cc) Rechtsschutzbedürfnis
  • dd) Zwischenergebnis zur Zulässigkeit des Antrags
  • b) Begründetheit
  • aa) Antrag auf Effektuierung der Kontrollfunktion der Opposition durch Einräumung von weiteren Oppositionsrechten auf Ebene der Verfassung
  • bb) Antrag auf Effektuierung der Kontrollfunktion der Opposition durch Einräumung von weiteren Oppositionsrechten auf Ebene des einfachen Rechts und auf Ebene der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
  • c) Zwischenergebnis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Mai 2016, Az. 2 BvE 4/14
  • 3. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Oktober 2016, Az. 2 BvE 2/15, und des Bundesgerichtshofs vom 23. Februar 2017, Az. 3 ARs 20/16, zum sog. NSA-Untersuchungsauschuss der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
  • a) Gang des Untersuchungsausschusses und gerichtliche Verfahren
  • aa) Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, Az. 2 BvE 2/15
  • bb) Verfahren vor dem Bundesgerichtshof, Az. 3 ARs 201/16
  • b) Beschluss des BVerfG vom 13. Oktober 2016, Az. 2 BvE 2/15
  • c) Beschluss des BGH vom 23. Februar 2017, Az. 3 Ars 20/16
  • d) Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes
  • III. Einfluss einer Großen Koalition mit Zweidrittel-/Dreiviertelmehrheit auf die Rechte der Parlamentarier
  • 1. Erhebung einer Subsidiaritätsklage nach Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG
  • a) Art. 23 Abs. 1a Satz 2 GG als minderheitsschützende Norm
  • b) Unionsrechtliche Einordnung des Klagerechts des Parlaments
  • c) Unionsrechtliche Zulässigkeit der Zuweisung eines Klagerechts an eine parlamentarische Minderheit
  • d) Einordnung des Antragsrechts der parlamentarischen Minderheit im Lichte einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit
  • 2. Einberufung des Deutschen Bundestages nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG
  • a) Einordnung des Einberufungsrechts des Bundestagspräsidenten
  • b) Weiterer Inhalt des Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG und Ausübung in der parlamentarischen Praxis
  • c) Auswirkung einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit auf die Ausübung des Einberufungsverlangens der parlamentarischen Minderheit
  • 3. Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen des Plenums nach Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG
  • a) Der Ausschluss der Parlamentsöffentlichkeit
  • b) Der Ausschluss der Öffentlichkeit als unbedeutendes Ausnahmerecht?
  • c) Materiell-rechtliche Voraussetzungen für einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit
  • aa) Notwendigkeit des Vorliegens von Gründen für den Ausschluss der Öffentlichkeit und Konsequenz eines fehlerhaften Ausschlusses der Öffentlichkeit
  • bb) Zusammenfassung
  • 4. Der neuralgische Punkt: Das Recht der Minderheit einen Untersuchungsausschuss, nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG einzusetzen
  • a) Die Bedeutung des Art. 44 GG als Minderheitenrecht
  • b) Die Ausgestaltung des parlamentarischen Untersuchungsausschussrechts als Minderheitenrecht
  • c) Die Bedeutung der Minderheitenenquete in einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit und Lösungsansätze
  • 5. Tätigwerden des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss nach Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG
  • a) Ursprung und Reichweite der Norm
  • b) Der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss bedarf einer gesonderten Konstituierung
  • c) Qualität und Umfang des Minderheitenschutzes nach Art. 45a Abs. 2 Satz 2 GG
  • d) Zusammenfassung
  • 6. Änderung des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 2 GG
  • a) Problemaufriss
  • b) Historische Spurensuche
  • c) Ansichten in der Literatur
  • d) Zwischenergebnis
  • 7. Die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG
  • a) Die abstrakte Normenkontrolle als objektives Beanstandungsverfahren eines beschränkten Antragstellerkreises
  • b) Die Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle als Recht der parlamentarischen Minderheit
  • c) Einfluss einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit auf die Ausübung der abstrakten Normenkontrolle durch eine parlamentarische Minderheit
  • 8. Das Rederecht des einzelnen Abgeordneten im Licht einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit
  • a) Die Geschäftsordnungsautonomie des Deutschen Bundestages nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG
  • b) Die Rolle des einzelnen Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG
  • c) Zwischenfazit
  • C. Korrekturmöglichkeiten zur Aufwertung der effektiven parlamentarischen Opposition bei einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit
  • D. Thesen
  • Literaturverzeichnis

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A. Einführung

I. Aktuelle Fragen zum Minderheitenschutz in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages

Der Parlamentarische Rat, der auch als die sog. „Väter und Mütter des Grundgesetzes“1 bezeichnet wird, entschied sich bei der Reorganisation des deutschen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg für ein parlamentarisches Regierungssystem mit zentraler Stellung des durch das Volk direkt gewählten Bundestages sowie des vom Deutschen Bundestag gewählten Bundeskanzlers.2 Der Bundestag ist eine parlamentarische Volksvertretung und wird dadurch legitimiert, dass Abgeordnete nach demokratischen Wahlgrundsätzen vom Volk berufen werden.3 Die Verfassung verbürgt nach der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht mit Art. 38 GG, dass dem Bürger ein Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht und die verfassungsmäßigen Wahlgrundsätze eingehalten werden, und es wird gewährleistet, dass den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht zusteht, an den Wahlen teilzunehmen, dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.4 Mit der Konstituierung des Bundestages als Volksvertretung wird dieser Körperschaft kraft Staatsform der parlamentarischen Demokratie ein unentziehbarer Kernbestand an Befassungs-, Entscheidungs- und Regelungsvollmachten zugewiesen.3

Spannungsfelder in Form von kollidierenden Verfassungsgrundsätzen können sich jedoch ergeben, wenn eine (gewählte) Mehrheit im Deutschen Bundestag so groß ist, dass die Minderheit bzw. die Nichtregierungsparteien über keine Möglichkeit mehr verfügen, ihre Minderheitenrechte autark – also ohne Mithilfe von Abgeordneten der die Regierung tragenden Fraktionen – geltend zu machen. Namentlich ist hier die sog. „Minderheitsenquete“5 zu nennen. Auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages kann ein Untersuchungsausschuss nach Art. 44 Abs. 1 GG eingesetzt werden. Sollte aber solch eine (Große) Koalition aus verschiedenen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien über drei ←21 | 22→Viertel der Abgeordnetenmandate des Deutschen Bundestages verfügen, ist eine „Minderheitsenquete“ weiterhin rechtlich möglich, aber faktisch bzw. realpolitisch schwierig umsetzbar. Gerade aber die nicht die Regierung tragenden Abgeordneten sind typischerweise auf Untersuchungsausschüsse angewiesen, wenn eine Sachaufklärung erfolgen soll. Klein bezeichnet es als „Grunddilemma der Untersuchungsausschüsse“, dass ihre Mitglieder unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems in aller Regel kein gemeinsames Aufklärungsinteresse verfolgen, da sich in diesem Ausschuss die Regierungsmehrheit und Opposition gegenüberstehen.6

Das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2013 führte zu einer Großen Koalition zwischen den Parteien Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU) und Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Dritte Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die 631 Sitze im Deutschen Bundestag teilten sich in der 18. Wahlperiode7 folgendermaßen auf:

Abb. 1: Sitzverteilung, eigene Grafik

Tab. 1: Sitzverteilung in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestags

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Die Freie Demokratische Partei (FDP) war erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr im Deutschen Bundestag vertreten, die selbsternannte Wunschkoalition aus CDU/CSU und FDP (Kabinett Merkel II) aus der 17. Wahlperiode konnte demnach nicht mehr fortgesetzt werden. Der Vorsitzenden der CDU, Angela Merkel, stand als realistischer Koalitionspartner neben der CSU nur die SPD oder Bündnis 90/Die Grünen zur Verfügung. Nach kurzen Sondierungsgesprächen traten die CDU/CSU und SPD in (längere) Koalitionsverhandlungen und präsentierten einen Koalitionsvertrag. Für die Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin waren nach Art. 63 Abs. 2 GG somit 316 Stimmen der Abgeordneten notwendig.8 Die Abgeordneten der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD kamen in ihrer Gesamtheit sogar auf 504 Mandate. Die Regierungskoalition verfügte in der 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages über eine Zweidrittelmehrheit von 79,87 %; demnach entfielen auf das Lager der nicht die Regierung tragenden Fraktionen nur noch 20,13 % der Sitze des Deutschen Bundestages.

Das Phänomen einer Großen Koalition9 mit Zweidrittelmehrheit ist nicht neu. In der Ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 (Kabinett Kiesinger) vereinten die CDU/CSU und SPD insgesamt 468 der 518 Abgeordnetenmandate auf sich;10 dies entsprach prozentual sogar 90,3 % der Sitze. Die nicht die Regierung tragende Fraktion bestand lediglich aus der FDP mit 9,7 % der Abgeordnetenmandate. Auch wenn dieser Umstand keine juristische Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Probleme einer Großen Koalition nach sich zog, wie noch gezeigt werden wird, führte dies aber realpolitisch u.a. zur Gründung der Außerparlamentarischen Opposition, der sog. „APO“11. Die Zweite Große Koalition ←23 | 24→von 2002 bis 2009 (Kabinett Merkel I) fand sich erst weit über 30 Jahre später im 16. Deutschen Bundestag zusammen, diese bestand wiederum aus CDU/CSU und SPD. Das Regierungslager vereinte 499 der 603 Sitze des Deutschen Bundestages und somit 73 % der Abgeordnetenmandate auf sich; die restlichen Mandate entfielen auf Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.12

Die Erste Große Koalition (1966–1969) führte nicht dazu, dass die verfassungsrechtlichen Probleme einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit in der Rechtswissenschaft – soweit ersichtlich – vertieft diskutiert wurde. Es bestand wohl keine realpolitische Notwendigkeit hierfür und eine Große Koalition wurde wohl eher als seltenes Ereignis für ‚große Aufgaben‘ gesehen. Zwischen der Zweiten (2002–2009) und Dritten (2013–2017) Großen Koalition lag nur eine Legislaturperiode. Der Abstand, in dem sich eine Große Koalition auf Bundesebene konstituierte, wurde kürzer, und es ist nicht auszuschließen, dass das Phänomen ‚Große Koalition‘ zukünftig häufiger anzutreffen sein wird.13 Zeitgleich mit der Bundestagswahl in der Bundesrepublik Deutschland fand die Nationalratswahl in der Republik Österreich statt. Die Große Koalition zwischen der konservativen Österreichischen Volkspartei und der Sozialdemokratischen Partei Österreichs wurde wieder fortgesetzt; seit dem Jahr 1945 hatte es lediglich zwischen den Jahren 1966 bis 1987 sowie 2000 bis 2007 keine Große Koalition gegeben.14 Im historischen Kontext und bei einem Blick über den bundesdeutschen Tellerrand lohnt sich die juristische Auseinandersetzung mit dem ←24 | 25→Phänomen einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und mit der Frage, inwieweit das Grundgesetz gerade für solch einen Fall gewappnet ist.

So sehr sich das Grundgesetz auch stabile Regierungsverhältnisse15 wünscht und im Kontext zur fortschrittlichen, aber zu wehrlosen Weimarer Reichsverfassung zu sehen ist, stellt sich angesichts der aktuellen politischen Lage die Frage, inwieweit das Grundgesetz für solche politischen Gegebenheiten überhaupt gerüstet ist. Konkret formuliert: Kann sich eine Demokratie eine Zweidrittelmehrheit der die Regierung tragenden Abgeordneten im Deutschen Bundestag (dauerhaft) leisten, oder wird das Verhältnis von Regierung und parlamentarischer Opposition zu sehr gestört? Staatspolitisch wird eine Große Koalition mit Zweidrittelmehrheit nicht unkritisch gesehen. So führt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, im Jahr 2013 in einem Interview aus:

„Sie müssen bedenken, dass jedenfalls dann, wenn eine Große Koalition quasi zur Regel werden sollte im parlamentarischen System der Bundesrepublik, das parlamentarische System als solches wirklich eminent geschwächt würde. Die Politik würde, ich sage es mal etwas salopp, entparlamentarisiert werden. Das heißt, die politischen Auseinandersetzungen würden sich dann weitgehend verlagern auf eine außerparlamentarische Opposition, was wiederum extremistische Parteien, sei es im linken, sei es im rechten Lager, stärken würde.“16

Papier hatte bei seiner Äußerung wohl die Entparlamentarisierung zu Zeiten der Ersten Großen Koalition (1964–1969) und die Reaktion aus Teilen der politischen Bevölkerung zur Gründung einer außerparlamentarischen Opposition vor Augen. Schönberger befürchtete, „dass die Ankündigungen von CDU/CSU und SPD, die Rechte der Opposition in dieser Legislaturperiode mit besonderer Sorgfalt zu schützen, sich als leere Versprechungen erweisen könnten.“17

Staatspolitisch wurde dieses Thema dennoch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD (Kabinett Merkel III, 2013–2017) aufgegriffen, denn die zukünftige Bundesregierung sah dieses Problem selbst. Dazu führten unter der Überschrift „Rechte der Opposition“ die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag näher aus:

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„Eine starke Demokratie braucht die Opposition im Parlament. CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen. Auf Initiative der Koalitionspartner wird der Bundestag einen Beschluss fassen, der den Oppositionsfraktionen die Wahrnehmung von Minderheitenrechten ermöglicht sowie die Abgeordneten der Opposition bei der Redezeitverteilung angemessen berücksichtigt.“18

Natürlich wurde dieses Dilemma auch von der Opposition aufgegriffen und politisiert. So forderte der Sprecher der fraktionsstärksten Nichtregierungsfraktion und Abgeordnete der Partei Die Linke, Gregor Gysi, eine Grundgesetzänderung zur weiteren Sicherung der Oppositionsrechte.19 Bereits kurz nach der Bundestagswahl lehnte die Unionsfraktion eine Grundgesetzänderung zur Stärkung von Minderheitenrechten zugunsten der Opposition ab.20 Der Unions-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer (CDU) meinte, die Befugnisse einer Opposition können auch auf anderem Wege gewährleistet werden.20 Welche Wege damit gemeint waren, wurde aber nicht näher erläutert. In einem weiteren Entwurf legte die Große Koalition einen Vorschlag zur Erweiterung der Oppositionsrechte im Bundestag vor; mit diesem sollte die Geschäftsordnung des Bundestages geändert werden, die Verfassung bliebe aber unberührt.21 Man ←26 | 27→entschied sich seitens der Regierungsfraktionen also für eine kleine Lösung und keine große, verfassungsrechtliche Lösung.

Auch wenn diese Änderung der Geschäftsordnung durch die Bundesregierung versuchte die Wogen etwas zu glätten, war die parlamentarische Opposition im Deutschen Bundestag noch immer auf das „Wohl und Wehe“ der Regierungsfraktionen angewiesen, denn die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages kann auch von der Mehrheit der Parlamentarier – in Form einer Rolle rückwärts durch eine erneute Änderung der Geschäftsordnung – erneut geändert werden. Gerade bei hochbrisanten politischen Themen oder der Regierung unangenehmen Fragestellungen könnte eine Große Koalition mit Zweidrittelmehrheit die altruistisch großzügig gewährten Rechte wieder – ohne größeren Aufwand – zurücknehmen. Die Nichtregierungsfraktion Die Linke legte wegen der kleinen Lösung beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde ein, über die am 3. Mai 2016 entschieden wurde, jedoch ohne den Antragstellern spezifische Oppositionsschutzrechte zuzusprechen.22 Bei einer ex post Betrachtung der 18. Wahlperiode im Lichte der Minderheitenrechte könne als Resümee gezogen werden, dass die Nichtregierungsfraktionen in der 18. Wahlperiode nicht zu einer hinsichtlich ihrer Kontrollfunktion bedeutungslosen Opposition verkommen wären, was jedoch nur maßgeblich dem auf die 18. Wahlperiode befristeten Geschäftsordnungskompromiss in § 126a GO-BT zu verdanken sei.23

Für das Thema dieser Arbeit heißt das konkret: Ist eine effektive Kontrolle der Regierung durch die Nichtregierungsfraktionen überhaupt noch möglich? Was sind die unveräußerlichen und unabdingbaren Rechte einer parlamentarischen Opposition in einem Parlament? Bei alldem ist aber auch zu beachten, dass es sich hierbei um ein Ergebnis von demokratischen Wahlen handelt. Dies führt zu einem verfassungsrechtlichen Dilemma, denn diese verfassungsrechtlich nicht unproblematische Lage wurde durch eine freie Wahl durch den Souverän herbeigeführt. Unweigerlich treten hier Erinnerungen an das Ende der Weimarer Republik hervor, auch wenn die aktuelle Situation und politische Lage derzeit fernab der Verhältnisse des Weimarer Reichs sind. Es stellt sich daher weiter die Frage, inwiefern Korrekturen aufgrund von demokratischen Wahlen um der Demokratie willen erfolgen müssen/dürfen.

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II. Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen

Wenn sich zwei Große zusammentun und einem Kleinen gegenübertreten, kann es für den Kleinen unangenehm werden – je nachdem, mit welcher Gesinnung die Großen handeln. In dem vorgenannten Sandkastenbeispiel ist es nicht anders, wenn sich Fraktionen in einem Parlament zu einer Koalition zusammenschließen und diese Koalition eine zahlenmäßig übermächtige Regierungsmehrheit bildet. Ist diese Mehrheit derart groß, dass die parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten der Nichtregierungsparteien eingeschränkt sind, ist das zumindest bedenklich. Verfassungsrechtlich kann das jedoch kritisch werden, wenn die parlamentarische Opposition nicht oder nicht effektiv Minderheitenrechte ausüben kann. Namentlich sei hier das Recht eines Viertels der Mitglieder des Bundestages auf Einberufung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG genannt, was später noch vertieft werden wird.

Diese Problematik um eine übermächtige Regierung ist aber keine neue Erscheinung der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Zu Meinungsverschiedenheiten bei Reichweite, Umfang und Schutz von Minderheitenrechten im Untersuchungsausschuss zwischen der Regierung und der parlamentarischen Opposition kam es bereits in der Vergangenheit; nicht im Deutschen Bundestag, aber in den Landesparlamenten. Besonders in den späten 1970er-Jahren bis ins Jahr 1980 hatte es zu diesem Problempunkt drei Eklats in den Länderparlamenten gegeben: Im Jahr 1978 klagte die Opposition im Schleswig-Holsteiner Landtag erfolgreich ihr Recht vor dem Bundesverfassungsgericht ein, dass die Mehrheit grundsätzlich den von der Minderheit bezeichneten Untersuchungsgegenstand durch Zusatzfragen, gegen den Willen der Minderheit, erweitern darf;24 das sog. Bepackungsverbot. Im Baden-Württembergischen Landtag kam es im Jahr 1979 zu einem Eklat, nachdem die Mehrheit ein Minderheitenmitglied aus dem Untersuchungsausschuss ausgeschlossen hatte, da sie dieses für befangen gehalten hatte.25 Im Jahr 1980 klagte schließlich die Opposition als Minderheit im Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags, da die Regierungsmehrheit ihre Anträge in diesem Ausschuss abgelehnt hatte.25

Die verfassungsrechtlichen Problematiken, welche sich aus dem Zusammenschluss von zwei oder drei großen politischen Parteien ergeben können, sind vielfältig und konfrontieren das Grundgesetz mit einer neuen Politikrealität. Das vorbezeichnete deutliche Beispiel um die Schwächung einer Minderheitsenquete ←28 | 29→wurde nur als ein markantes Problem herausgegriffen und kurz angerissen. Eine Bestandsaufnahme und eine Untersuchung sollen daher den Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen bilden.

Es ist vorrangig zu klären, welche Rechte der Nichtregierungsfraktionen, oder allgemein gesprochen: der (nicht notwendigerweise deckungsgleichen) Minderheit, überhaupt verletzt werden können.

III. Die Einordnung einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit in das verfassungsrechtliche Gefüge des Grundgesetzes

In einem Vorschritt soll hinsichtlich der aktuellen Problematik einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit zunächst mit einem geschichtlichen Rückblick in die Geschichte der Großen Koalitionen in der Bundesrepublik Deutschland begonnen werden (Seiten 11ff.); hierfür werden die bisherigen Großen Koalitionen auf Bundes- und Landesebene betrachtet. Zur Gewährleistung einer konsequenten Begrifflichkeit werden die Definitionen auf den Seiten 14ff. vereinheitlicht. Welche Rolle die Opposition im Vorfeld um die Beratung über das Grundgesetz spielte, welche Reformvorschläge der Gesetzgeber umsetzen wollte oder umsetzte, und wie der bisher verwendete Begriff „Opposition“ überhaupt zu verstehen ist, wird ab Seite 16 ausgeführt. Von der Opposition ist die parlamentarische Minderheit zu unterscheiden, die im Anschluss ab Seite 47 betrachtet wird.

1. Die bisherigen Großen Koalitionen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Deutschen Bundestag und in den Landesparlamenten

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es bisher, wie bereits erwähnt, dreimal eine Große Koalition im Deutschen Bundestag,26 in welcher den Abgeordneten der Regierungsparteien (hier jedes Mal eine sog. Große Koalition bestehend aus den Fraktionen CDU/CSU und SPD) eine kleine parlamentarische Opposition gegenüberstand. Da in den 18 Wahlperioden des Deutschen Bundestages bisher nur dreimal eine Große Koalition gebildet wurde, wird ←29 | 30→die Betrachtung zur Wahrung eines umfassenden Gesamtüberblicks auf die Landesparlamente ausgedehnt.

a) Deutscher Bundestag

Die Erste Große Koalition bildete sich in der 5. Wahlperiode (1965–1969) aus den Parteien CDU/CSU und SPD.27 Insgesamt umfasste der Deutsche Bundestag 518 Sitze, wovon 251 auf die CDU/CSU, 217 auf die SPD und 50 auf die FDP entfielen.28 Die parlamentarische Opposition bestand aus der FDP und vereinigte nur 9,65 % der Sitze des Deutschen Bundestages, somit weniger als ein Zehntel der Gesamtsitze, auf sich.

Die Bundestagswahl 2005 (16. Wahlperiode, 2005–2009) wird in der Politikwissenschaft als Durchbruch zu einem echten bundesweiten Fünf-Parteien-System in Deutschland verstanden.29 Von den insgesamt 614 Mandanten des Deutschen Bundestages entfielen 226 auf die CDU/CSU-Fraktion, 222 auf die SPD-Fraktion, 61 auf die FDP-Fraktion, 53 auf die Fraktion Die Linke und 51 auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.30 Die Opposition, bestehend aus den Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, hielten 26,87 % der Sitze des Deutschen Bundestages, somit knapp über ein Viertel der Gesamtsitze. Die Zweite Große Koalition verfehlte demnach die Zweidrittelmehrheit nur knapp.

In der 18. Wahlperiode (2013–2017) standen von allen 630 Sitzen des Deutschen Bundestages den Regierungsfraktionen, bestehend aus CDU/CSU mit 310 Sitzen und SPD mit 193 Sitzen, insgesamt 504 Sitze zu; denen gegenüber standen den Oppositionsparteien Die Linke 64 Sitzen und Bündnis 90/Die Grünen 63 Sitze – somit insgesamt 127 Oppositionssitze – zu.31 Die Oppositionsparteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen hielten 20,15 % der Mandate, was rund einem Fünftel der Sitze entspricht.

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b) Landesparlamente

Von allen bisherigen Großen Koalitionen in den Landesparlamenten existierte einmal in Bremen und in Schleswig-Holstein jeweils eine Große Koalition, die über mehr als zwei Drittel der Abgeordnetenmandate verfügte.

In der 16. Wahlperiode der Bremischen Bürgerschaft (2003–2007) zählte die Große Koalition, bestehend aus den Fraktionen der SPD mit 40 Sitzen und der CDU mit 29 Sitzen, insgesamt 69 Sitze und die Opposition 14 Sitze, verteilt auf die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen mit zwölf Sitzen und jeweils einem Sitz für die Parteien FDP und DVU.32 Im Ergebnis umfassten die Oppositionsparteien 16,86 % der Sitze der Bremischen Bürgerschaft, was weniger als einem Fünftel der Gesamtsitze entspricht.

Ebenfalls in der 16. Wahlperiode des Schleswig-Holsteinischen Landtags (jedoch im Zeitraum 2005–2009) bestand eine Große Koalition aus den Fraktionen CDU und SPD. Die Regierungsfraktionen der Großen Koalition hielten von allen 69 Sitzen gemeinsam 59 Sitze, die CDU 30 und SPD 29, die FDP vier, Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls vier und die Regionalfraktion Südschleswigscher Wählerverband (SSW) zwei Sitze.33 Die Oppositionsfraktionen erhielten somit 10,42 % der Sitze des Schleswig-Holsteinischen Landtags, was wiederum einem Zehntel der Gesamtsitze entsprach.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass bei den Wahlen zum 15. Bayerischen Landtag am 21. September 2003 auf die CSU von insgesamt 180 Sitzen 124 entfielen, auf die Fraktionen SPD 41 und auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 15.34 Die Oppositionsfraktionen erhielten somit 31,1 % der Sitze des Bayerischen Landtags, was rund einem Drittel der Gesamtsitze entspricht. Hier vereinigte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine einzige Fraktion über zwei Drittel der Sitze des Landtags auf sich. Die Gefahren die sich für die Fraktionen der parlamentarischen Opposition ergaben waren mindestens vergleichbar mit jenen bei einer übermächtigen Großen Koalition – wenn sie nicht sogar höher sind –, da keine interfraktionelle Abstimmung innerhalb der Regierungsfraktionen erfolgen muss.

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c) Fazit: Übermächtige Große Koalitionen sind Verfassungswirklichkeit

Aufgrund der Tatsache, dass es bisher in Bund und Ländern insgesamt fünf Große Koalitionen mit Zweidrittelmehrheit, bestehend aus den Parteien CDU/CSU und SPD, gab, zeigt sich, dass die Große Koalition eine realpolitische Wirklichkeit geworden ist. Die Große Koalition ist in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland angekommen, und die Schlagzahl, in der diese gebildet wird, hat sich erhöht. Zudem ist aufgrund von äußeren Faktoren nicht auszuschließen, dass wir auch zukünftig weiterhin Große Koalitionen sehen werden.35 Die Summe von unterschiedlichen Kontrolleuren der Bundesregierung (Oppositionsfraktionen, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident) gewährleistet nach Strohmeier zwar eine gute zeitliche, rechtliche und thematische Abdeckung wichtiger Kontrollbereiche, doch dieses System ist nicht ausreichend auf eine politische Kontrolle einer Großen Koalition eingestellt.36

2. Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen – eine Begriffsbestimmung der Großen Koalition

In der Politikwissenschaft wird nach Strohmeier zwischen Großen Koalitionen, somit einem Regierungsbündnis, an dem die beiden mandatsstärksten Parteien bzw. Fraktionen beteiligt sind, und Minderheitskoalitionen als einer minimalen Mehrheitskoalition und einer überzähligen Mehrheitskoalition unterschieden.37 ←32 | 33→Eine weitere Binnendifferenzierung wäre zwischen der Großen Koalition als Minderheitskoalition, Minimaler Mehrheitskoalition und Überzähliger Mehrheitskoalition vorzunehmen.37 Erstere liegt vor, wenn ein Regierungsbündnis weniger als die Hälfte der Parlamentsmandate hält;37 Zweitere betrifft ein Regierungsbündnis mit mehr als der Hälfte der Parlamentsmandate, bei dem der Austritt eines Koalitionspartners aber zum Verlust der absoluten Mehrheit führt, und Letztere ist ein Regierungsbündnis mit mehr als der Hälfte der Parlamentsmandate, bei dem der Austritt eines Koalitionspartners aber nicht zwingend zum Verlust der absoluten Mehrheit führt.37 Eine Große Koalition als Minderheitskoalition oder Überzählige Mehrheitskoalition im Sinne der Politikwissenschaft wird verfassungsrechtlich bedenklich, wenn diese Form der Großen Koalition über zwei Drittel der Mandate des Parlaments verfügt. Die vorgenannte Differenzierung aus der Politologie ist aber für die Frage der verfassungsrechtlichen Bearbeitung von Großen Koalitionen mit Zweidrittelmehrheit nicht zweckmäßig. Bei der rein verfassungsrechtlichen Betrachtung ist die Zusammensetzung einer Großen Koalition unerheblich. Relevant ist hier rein der Status nunc – verfügt eine Große Koalition über eine Zweidrittelmehrheit oder nicht. Bei der juristischen Bewertung dieses Sachverhaltes spielt es daher eine untergeordnete Rolle, wie sich diese Große Koalition tatsächlich zusammensetzt. Maßgeblich ist, ob eine Zweidrittelmehrheit originär erreicht wird. Daher ist der Begriff „Grosse Koalition mit Zweidrittelmehrheit“ im Sinne dieser Arbeit so zu verstehen, dass sich mindestens zwei meistens, aber nicht unbedingt mandatsstärkste Parteien bzw. Fraktionen in einem Parlament zu einer Koalition zusammenschließen und diese Koalition nach dem Zusammenschluss über mindestens zwei Drittel der Stimmen des gesamten Parlaments verfügt.38 Eine Große Koalition ist in Deutschland typischerweise, aber nicht zwangsweise ein Zusammenschluss der Volksparteien SPD und CDU/CSU39 zu einem Regierungsbündnis.

Brocker spricht bei einer Großen Koalition mit Zweidrittelmehrheit von einer „ganz großen Koalition“.40 Cancik definiert eine Große Koalition mit einer ←33 | 34→großen Parlamentsmehrheit, welche die Wahrnehmung der Fraktionsrechte der Minderheit entwertet und die Wahrnehmung der Quorenrechte unmöglich macht, verfassungsrechtlich als eine „qualifizierte Große Koalition“.41 Der Begriff ist wohl an die rechtstechnische „qualifizierte Mehrheit“, z.B. nach Art. 79 Abs. 2 GG, angelehnt, nach welcher bei einer Verfassungsänderung eine Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und Zweidritteln der Stimmen des Bundesrates notwendig ist.42 Cancik kleidet das Phänomen einer Großen Koalition mit Entwertung der Rechte der Minderheit und Pervertierung der Minderheitenrechte treffend in bekanntes juristisches Vokabular ein,43 dennoch wird nachfolgend dieser Definition nicht uneingeschränkt gefolgt.

Die verschiedenen Minderheitenrechte, welche normativ garantiert werden, sind an verschiedene Quoren gebunden, wie noch gezeigt werden wird. Es ist daher insbesondere die Frage zu stellen, welche Quoren eine schützende Wirkung für die Abgeordneten der Nichtregierungsfraktionen haben, und welche nicht. Aus diesem Grund wird die „qualifizierte Große Koalition“ in eine „Große Koalition mit Zweidrittelmehrheit“ und „Große Koalition mit Dreiviertelmehrheit“ differenziert. Eine Befassung mit einer Großen Koalition mit einfacher Mehrheit ist im Rahmen dieser Arbeit überflüssig, da hierdurch nicht die Minderheitenrechte entwertet werden.

Details

Seiten
238
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631796702
ISBN (ePUB)
9783631796719
ISBN (MOBI)
9783631796726
ISBN (Hardcover)
9783631791707
DOI
10.3726/b15935
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
Untersuchungsausschuss Minderheitenenquote abstrakte Normenkontrolle Opposition Verfassungsänderung Oppositionsschutz Minderheitenrechte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 238 S., 1 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Jörg Bundle (Autor:in)

Jörg Bundle ist Rechtsanwalt und hat sein Studium der Rechtswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Juli 2011 mit der Ersten Juristischen Prüfung abgeschlossen. Die Zweite Juristische Staatsprüfung legte er im Oktober 2013 ab.

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Titel: Verfassungsrechtliche Probleme Großer Koalitionen
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