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Der Einfluss der Migration auf Sprach- und Kulturräume / The Impact of Migration on Linguistic and Cultural Areas

von Ulrich Hoinkes (Band-Herausgeber:in) Matthias L.G. Meyer (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 308 Seiten

Zusammenfassung

Migrationen verändern bestehende Sprach- und Kulturräume. Nur mithilfe genauerer migrationswissenschaftlicher Kenntnisse der Bedingungen des individuellen und sozialen Sprachgebrauchs können kleinere Sprachgemeinschaften von Migranten gegenüber konkurrierenden Nationalsprachen geschützt werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich diesem Thema aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Länder und Fachrichtungen, darunter der Sprachkontaktforschung, der Soziolinguistik, der Bildungspolitik, der Neurophänomenologie und den Kulturwissenschaften.
Migration alters existing linguistic and cultural areas. Only a more precise knowledge of the conditions that determine individual and social language use enables us to protect smaller speech communities of migrants from competing national languages. The contributions in this volume examine this range of topics from the perspective of various countries and research disciplines including language contact studies, sociolinguistics, education policy, neurophenomenology and cultural studies.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis / Table of Contents
  • Der Einfluss der Migration auf Sprach- und Kulturräume / The Impact of Migration on Linguistic and Cultural Areas (Ulrich Hoinkes & Matthias L.G. Meyer)
  • 1 Theoretische, systematische und kulturgeographische Überlegungen zu Migration und Globalisierung / Theoretical, Systematic and Cultural-geographical Reflections on Migration and Globalisation
  • Zur Gestaltung dynamisch-plurilingualer Räume durch Migration und ihrer methodischen Erfassung (Carolin Patzelt)
  • Faktoren für Veränderungen der Bedingungen von Kommunikation und Demarkation im Zeitalter der Globalisierung: Einige auch migrationswissenschaftliche Überlegungen (Georg Kremnitz)
  • Der Beitrag der Linguistik zu den Migrationswissenschaften (Ulrich Hoinkes)
  • Die Remodellierung des Strata-Theorems aus der Perspektive einer diachronen Migrationslinguistik (Roger Schöntag)
  • 2 Spracherwerb, Sprachbeherrschung und Sprachverwendung im Kontext von Migration / Language Acquisition, Language Proficiency and Language Use in the Context of Migration
  • The Acquisition of English as an Additional Language by Multilingual Heritage Speakers (Eliane Lorenz & Peter Siemund)
  • Sprachgebrauch und Sprachkenntnisse in der Migrationsgesellschaft: Ergebnisse einer Studie zu deutsch-italienischsprachigen Jugendlichen (Katja F. Cantone)
  • “Die große Spinne ist die Mama. Papa ist der große Spinner.” Was sprachliche Fehler von Kindergartenkindern mit Deutsch als Zweitsprache uns erzählen (Reyhan Kuyumcu)
  • Two-way Integration of Migrants and Minoritized Speakers: Voices from Catalonia (Tilman Lanz, Eva J. Daussà & Renée Pera-Ros)
  • 3 Mehrsprachigkeit, interkulturelle Spannungsfelder und Schulausbildung im Zusammenhang mit Migration / Multilingualism, Intercultural Areas of Tension and School Education in Migration Contexts
  • Bilingualism and Migration in Catalonia: Examples of the Phenomenon ‘Catanyol’ in Literature and in the Media (Mar Mañes-Bordes)
  • Diskriminierung und Ausgrenzung im Kontext von migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit (İnci Dirim & Paul Mecheril)
  • Facing the Complexity of Bilingual Special Education: An Activity Theoretical Approach to Understanding Anxiety-Mediated Tensions in Discussions with Teachers and Administrators Serving Bilingual Children with Disabilities (Patricia Martínez-Álvarez & Bàrbara Roviró)
  • Inside the No-man’s-land Between Cultural Identities: A Neurophenomenological Exploration of Intercultural Life (Liya Yu)
  • Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes / The Authors of this Volume
  • Reihenübersicht

Ulrich Hoinkes & Matthias L. G. Meyer

Der Einfluss der Migration auf Sprach- und Kulturräume / The Impact of Migration on Linguistic and Cultural Areas

Migration ist ein Thema, das nicht nur in der öffentlichen Diskussion und Politik, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich einen großen Raum einnimmt. Dabei zeigt sich, dass Migration als soziales Problemfeld der Gegenwart zum Teil weit zurückreichende historische Wurzeln hat und auch die Debatten um unsere drängenden Zukunftsfragen maßgeblich mitbestimmt. Die aus vielen fachlichen Forschungszweigen entstandenen Migrationswissenschaften geben selbstverständlich auch der sprachwissenschaftlichen Perspektive einen gewichtigen Raum. Dabei geht es inzwischen um viel mehr als nur die Beschreibung von sprachlichen Kontaktphänomenen. In Zusammenhang mit Fragen der Migration wird die Sprache vor allem als ein soziales und kulturelles Phänomen in den Blick genommen, wobei auch Aspekte der Sprach- und Bildungspolitik eine besondere Rolle spielen. Aber Sprache und Migration sind auch eine Herausforderung an die fachlichen Traditionen der Forschung in den Philologien, die sich in Bezug auf dieses Thema den Kulturwissenschaften in besonderer Weise öffnen.

Der vorliegende Band der Reihe “Kieler Forschungen zur Sprachwissenschaft” ist nicht der erste dieser Reihe, der Themen behandelt, die Bausteine zu einer Migrationslinguistik darstellen. Insbesondere sei hier auf den von Thorsten Burkard und Markus Hundt herausgegebenen Band SprachmischungMischsprachen: Vom Nutzen und Nachteil gegenseitiger Sprachbeeinflussung (Peter Lang, 2018) verwiesen. Während letzterer sich vornehmlich den Auswirkungen des Sprachkontakts in Gegenwart und Geschichte widmet, behandelt dieser Band verschiedene Aspekte des Einflusses von Migration auf den Sprachgebrauch und nimmt hierfür bewusst eine weite, Nationen, Sprachen und Kulturräume übergreifende Optik ein, die sich auch interdisziplinären Fragestellungen öffnet. Er dokumentiert damit ein sehr breites Verständnis des sprachwissenschaftlichen Beitrags zu den Migrationswissenschaften und verdeutlicht zugleich die Übergänge der wesentlichen Fragestellungen zu weiteren Disziplinen.

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Die Herausgeber haben die 12 Beiträge dieses Bandes in drei Themenbereiche gruppiert. Sie beginnen mit dem Bereich ‘Theoretische, systematische und kulturgeographische Überlegungen zu Migration und Globalisierung’, dem vier Beiträge zugeordnet sind.

Den Anfang macht Carolin Patzelt (Bremen) mit einer Studie zur Gestaltung dynamisch-plurilingualer Räume durch Migration und ihrer methodischen Erfassung. Sie stellt mit besonderem Blick auf die Romania grundsätzliche Überlegungen darüber an, ob sich plurilinguale Räume mit den bisherigen Methoden der Kontakt- oder Soziolinguistik adäquat erfassen lassen. Dabei zeigt sie die Grenzen konventioneller Methoden auf und gibt zu bedenken, dass Migration sprachliche Vielfalt durch Sprecher mit unterschiedlichem Hintergrund an einem Ort bündeln kann. Sie macht deutlich, dass Sprecher die von ihnen bevorzugten Formen aus verschiedenen Registern, Sprachen oder Dialekten auswählen, wobei die Indexikalität der Formen, also ihr Beitrag zur Selbstdefinition des Sprechers als Mitglied einer bestimmten Gruppe, eine besondere Rolle spielt.

Es folgen grundlegende Reflexionen von Georg Kremnitz (Wien) zu den Faktoren für Veränderungen der Bedingungen von Kommunikation und Demarkation im Zeitalter der Globalisierung. Kremnitz untersucht mit Blick auf mehrere Sprach- und Dialekträume sowie unter Einbeziehung ihrer historischen Entwicklung das konfliktbeladene Verhältnis von Kommunikation (insbesondere über Sprach- oder Dialektgrenzen hinweg) einerseits und der jedweder Kommunikation inhärenten Demarkation andererseits. Mit letzterer bezeichnet der Verfasser die vor allem sprachliche Abgrenzung der Sprecher von ihren Adressaten. Er zeigt ferner, wie die Demarkation etwa durch Betonung eines lokalen Dialekts vergrößert, aber auch z.B. durch den Einsatz einer lingua franca gemildert werden kann. Sein Beitrag beleuchtet auch die unterschiedlichen Motive für Migration sowie deren Folgen aus einer überzeitlichen Perspektive.

Ebenfalls grundlegend setzt sich Ulrich Hoinkes (Kiel) in seiner Studie mit dem Beitrag der Linguistik zu den Migrationswissenschaften auseinander. Hoinkes betont, dass Migrationen und ihre Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Sprachgebrauch, die Sprachverbreitung und den Sprachwandel von jeher ein wichtiges Thema in der Soziolinguistik, aber auch schon in der Tradition der historischen Sprachwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert sind. Deshalb sollte die heutige Sprachwissenschaft ihren Beitrag zur modernen Migrationsforschung kritisch reflektieren und eine methodische Grundlage dafür schaffen, die Bedeutung und die Bedingungen des Erhalts von Migrantensprachen in mehrsprachigen Gesellschaften wissenschaftlich zu beschreiben, wobei in der Regel die gemeinschaftliche Bindungsfunktion der Sprache und Formen eines sprachlich basierten kulturellen Gedächtnisses eine zentrale Rolle spielen.

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Den Abschluss des Theorieteils bildet die historiographische Studie von Roger Schöntag (Erlangen) zur Remodellierung des Strata-Theorems aus der Perspektive einer diachronen Migrationslinguistik. Er beschäftigt sich mit den linguistischen Termini Substrat, Superstrat und Adstrat, deren konzeptionelle Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen und die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert eine Erklärungsgrundlage für migrationsbedingten historischen Sprachkontakt in der Romanistik darstellten. Schöntag will zu einer weiter gefassten Perspektive auf das Strata-Modell beitragen, indem er moderne Erkenntnisse zu mehrdimensionalem Sprachkontakt, Plurilingualismus und Migrationsprozessen einbezieht, deren Entwicklung und Formulierung er durchaus innerhalb des modernen romanistischen Denkens selbst verortet.

Der zweite Themenblock unseres Bandes umfasst empirische Studien zu Spracherwerb, Sprachbeherrschung und Sprachverwendung, die in Zusammenhang mit Migrationskontexten stehen.

Er beginnt mit einem englischsprachigen Beitrag von Eliane Lorenz (Trondheim) und Peter Siemund (Hamburg) zum Spracherwerb des Englischen an weiterführenden Schulen durch zwei- oder mehrsprachige Sprecher (multilingual heritage speakers). Die betreffenden Sprachlernenden sprechen neben einer Herkunftssprache (z.B. Russisch als Erstsprache) noch eine zusätzliche Sprache, die für sie oft die dominante Sprache ist (z.B. Deutsch als Zweitsprache). Das Hauptaugenmerk der Verfasser liegt dabei auf der Beeinflussung des Englischen durch die Herkunftssprache und/oder die dominante Sprache. So kann etwa der Progressive- oder der Artikelgebrauch im Englischen durch eine früher erworbene Sprache gestützt oder behindert werden. Die Autoren zeigen, dass es hier signifikante Unterschiede zwischen monolingualen, symmetrisch bilingualen und asymmetrisch bilingualen Sprechern gibt.

Einer ganz anderen Sprechergruppe, nämlich deutsch-italienischen Jugendlichen, widmet sich Katja Cantone (Duisburg) in ihrer Studie zu Sprachgebrauch, Sprachkenntnissen und Sprachhaltungen in der Migrationsgesellschaft. In ihrer empirischen Untersuchung zu einer Probandengruppe italienischstämmiger Jugendlicher filtert sie vier Sprechertypen heraus, die etwas über den Gebrauch des Italienischen als Minderheitensprache in Deutschland aussagen. Die Autorin beleuchtet ferner Hintergründe zum Verlust der Herkunftssprache in der dritten Generation und verbindet dies mit der Frage, inwieweit sich Sprachverlustmuster dieser Gruppe als typisch erweisen. Nicht zuletzt klärt ihr Beitrag auch, welche Faktoren den Spracherhalt begünstigen oder gefährden.

Ein dritter empirisch basierter Beitrag zum Sprachlernverhalten von Migranten wird von Reyhan Kuyumcu (Kiel) beigesteuert. Ihre Untersuchungsgruppe umfasst Kindergartenkinder mit türkischem Migrationshintergrund, die ←9 | 10→Deutsch lernen und typische Fehler beim Zweitspracherwerb machen. Kuyumcus Untersuchung basiert auf dem Verfahren der Fehleranalyse und hebt sprachliche Normverstöße als Lernmuster hervor. Dabei stützt sie sich auf die soziokulturelle Theorie nach Wygotski sowie auf neurolinguistische Forschungen zum Thema. In einer Reihe von konkreten Beispielen zeigt sie auf, wie Kinder Satzbildungsmuster aus ihrer Erstsprache Türkisch fehlerhaft in die Zweitsprache Deutsch übertragen, dabei aber dennoch das Ziel sprachlicher Kommunikation erfolgreich verwirklichen.

Der vierte und letzte Beitrag in dieser Sektion ist dem Katalanischen gewidmet und stammt von Eva Daussà, Tilman Lanz (beide Groningen) und Renée Pera-Ros (Marburg). Immigranten, die in Katalonien Fuß fassen wollen, müssen sich entscheiden, ob sie zunächst das Katalanische als die Landessprache erlernen wollen oder (allein) auf das Spanische setzen, das sie zum Teil auch schon als Erst- oder Zweitsprache beherrschen. Die Bereitschaft, Katalanisch zu lernen, kann, so die Autoren, durch den sog. ‘mirror effect’ gefördert werden, d.h. durch die Tatsache, dass sich Einwanderer, deren Erst- oder Zweitsprache in ihrem Ursprungsland eine Regional- oder Minderheitensprache ist (z.B. Quechua in Bolivien), im Zielland die Mehrsprachigkeitsverhältnisse besser einschätzen können und somit dem integrativen, identitätsstiftenden Gebrauch der regionalen Landessprache den Vorzug geben. In einer umfassenden empirischen Untersuchung werten die Verfasser eine Reihe von Interviews zu dieser Frage mit Probanden und Betroffenen aus.

Der dritte Teil des Bandes wird thematisch durch Mehrsprachigkeit, interkulturelle Spannungsfelder und Schulausbildung im Zusammenhang mit Migration bestimmt. Auch in diesem Teil gibt es vier Beiträge, die recht unterschiedlichen Aspekten gewidmet sind.

Den Auftakt macht hier Mar Mañes-Bordes (Kiel), die ebenfalls zum Katalanischen gearbeitet hat. In ihrem Beitrag geht es zunächst grundsätzlich um den Einfluss der historischen Migrationsströme auf den Sprachgebrauch in Katalonien, insbesondere die Konkurrenzsituation der beiden offiziellen Sprachen Katalanisch und Spanisch. In einem zweiten Teil widmet sich die Verfasserin spezieller dem sog. ‘Catanyol’ (Blend aus català und espanyol), womit die gegenseitige Beeinflussung von Katalanisch und Spanisch als alltägliche Kontaktsprachen gemeint ist. Elemente dieser Beeinflussung werden als grammatische, lexikalische und phonetische Besonderheiten des Sprachgebrauchs illustriert. Sodann beschreibt Mañes-Bordes das spezielle Phänomen der literarischen Verarbeitung des ‘Catanyol’ am Beispiel von Joan Olivers adaptiver Übersetzung von George Bernard Shaws Pygmalion in das Katalanische, bevor sie abschließend ←10 | 11→der Frage nachgeht, ob und wie ‘Catanyol’ in heutigen Mustern der Alltagskonversation Verwendung findet.

Einen migrationspädagogischen Beitrag zum Themenfeld steuern Inci Dirim (Wien) und Paul Mecheril (Bielefeld) bei. Sie beschäftigen sich mit Diskriminierung und Ausgrenzung im Kontext von migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und richten ihr Augenmerk dabei besonders auf den schulischen Kontext. Die Verfasser erklären ausführlich, welche Formen der sozialen Diskriminierung es gibt und inwiefern Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und anderen Erstsprachen als Deutsch im deutschen Bildungskontext von diesen betroffen sind. Sie problematisieren dabei das Konzept legitimer und illegitimer Sprachen sowie deren Gebrauchsbedingungen im Schulalltag und zeigen auf, dass eine große pädagogische Verantwortung mit dieser Frage verbunden ist. Unter anderem verdeutlichen sie den Wert persönlicher Mehrsprachigkeit und weisen darauf hin, dass die Schaffung öffentlicher Akzeptanz für den nicht diskriminierten biographisch bedingten Sprachgebrauch eine Voraussetzung dafür ist, den Schülerinnen und Schülern die notwendige Freiheit zu ihrer individuellen und sozialen Identitätsfindung zu geben. Dabei ist es wichtig, sie als Sprecher des Deutschen und ihrer jeweiligen Erstsprache gleichermaßen anzuerkennen.

Mit der Studie von Patricia Martínez Álvarez (New York) und Bàrbara Roviró (Bremen) wechselt der empirische Untersuchungshintergrund vom deutschen Bildungskontext zu demjenigen in den USA, bezieht sich aber weiterhin auf die Problematik der Mehrsprachigkeit an Schulen. Der Beitrag widmet sich den Auswirkungen des Drucks und der Ängste, die bei Bildungsverantwortlichen und Lehrenden an US-amerikanischen Schulen angesichts der Herausforderungen zu erkennen sind, eine immer größere Zahl von zweisprachigen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erfolgreich zu unterrichten und dabei auch geeignete Bedingungen für Inklusion zu gewährleisten. Die Verfasserinnen machen deutlich, dass entsprechende Angstdiskurse unter Lehrkräften an inklusiven bilingualen Schulen (Spanisch-Englisch) zu Problemen und Spannungen führen. Sie stützen ihre Beobachtungen empirisch auf die kritische Analyse von Interviews mit betroffenen Lehrkräften und zeigen auf, welche Auswirkungen die Sorgen um den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler auf das institutionelle Lehren und Lernen haben. Schulinterne Aspekte wie curriculare Vorgaben und die Beachtung der Evaluationsbedingungen, aber auch außerschulische Faktoren wie das soziale Familienumfeld kommen in der Datenanalyse zur Sprache. Dabei zeigt sich eine systemisch bedingte Schwierigkeit, den Erfordernissen der Zweisprachigkeit und denjenigen des Inklusionsbedarfs gleichermaßen und angemessen zu begegnen.

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Der letzte Beitrag dieses Bandes stammt von Liya Yu (New York), die das Thema der Identitätsfindung von mehrsprachigen Migrantinnen und Migranten aufgreift und dabei vor allem die biographische Zusammenführung sehr unterschiedlicher Sprachen und Kulturräume im Blick hat. Die Studie geht von der provokanten, aber erfahrungsbedingten These des “Niemandslandes” aus, das sich im Prozess der Migrationserfahrung des Einzelnen als Füllraum der Identitätsbestimmung zu erkennen gibt. Yu stützt ihre Studie auf eine Reihe von case studies, d.h. auf Informanten, mit denen sie längere Tiefeninterviews zum Thema geführt hat, um diese dann auszuwerten. Ihre analytische Referenz ist die Gehirnforschung und damit ein neurophänomenologischer Ansatz zur Beschreibung des Aufbaus persönlicher Selbstbestimmungs- und Wertebezugsmuster, die die Konstruktion der eigenen Identität unter Beteiligung zweier jeweils sehr unterschiedlicher Sprachen und Kulturen bestimmen. Yu argumentiert, dass wir einen radikal neuen theoretischen und methodischen Rahmen finden müssen, um die besondere Form des “interkulturellen Lebens” dieser Menschen zu verstehen und auch um zu zeigen, dass Erfahrungen der Verunsicherung und der Isolation bei ihrem Ringen um die innere Selbstfindung als Elemente eines konstruktiven neuropsychologischen Prozesses erklärt werden können, der durch die Funktionsweise unseres menschlichen Gehirns determiniert wird.

Als Herausgeber danken wir allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich dafür, dass sie mit ihrer Expertise zu diesem Band über die Migrationslinguistik beigetragen haben. Das thematische Spektrum wird durch ihre Beiträge in einer Breite und Vielfalt abgedeckt, die den interdisziplinären Charakter der Migrationswissenschaften berücksichtigen, dabei aber auch den philologischen Forschungstraditionen angemessenen Raum geben. Die Sprachwissenschaft geht hier zum Teil eine enge Verbindung mit der Kulturwissenschaft ein, und beide öffnen sich ihrerseits wieder anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, den Bildungswissenschaften oder den Neurowissenschaften. So kooperieren verschiedene wissenschaftliche Fachrichtungen in dem gemeinsamen Versuch, das Phänomen der Migration und ihre Implikationen für Individuum und Gesellschaft besser zu erklären. Wir hoffen, dass der vorliegende Band durch die Berücksichtigung der genannten Fachdisziplinen auch zu einem besseren Verständnis der Folgen von Migration auf den Sprachgebrauch beitragen möge. Angst vor sprachlicher (und somit auch vor kultureller) Vielfalt beruht oft auf Unkenntnis, so dass ein genaueres Bild der sozialen und sprachlichen Verhältnisse in Sprachkontaktzonen uns helfen kann, kulturelle Vielfalt zu respektieren und sie als eine Bereicherung anzusehen.

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Short introduction in English

Migration is widely discussed in politics, in the public at large and in various scientific disciplines. It has now become common to perceive migration as a multifaceted problem that has a long history and that features prominently in our discussion of and worries about the future. Among the numerous scientific contributions to migration that stem from a wide range of disciplines, many adhere to a linguistic point of view which goes well beyond a mere description of linguistic contact phenomena. In the context of migration, language is primarily seen as an important tool for social interaction and for establishing cultural identity. The latter is typically linked to questions of language policy and language teaching.

The present volume of the series “Kieler Forschungen zur Sprachwissenschaft” is one more to include topics that help define migration linguistics and in fact complements vol. 9 of this series, namely Thorsten Burkard and Markus Hundt’s SprachmischungMischsprachen: Vom Nutzen und Nachteil gegenseitiger Sprachbeeinflussung (Peter Lang, 2018). While the latter mainly addresses the more general topic of language contact and its history, the present volume specifically focusses on the impact of migration on language use and consciously adopts a broad, cross-national, cross-linguistic, cross-cultural and interdisciplinary perspective. As editors, we would like to thank our authors for contributing their specialist studies that on the one hand highlight the interdisciplinary character of migration studies but on the other also reflect philological research traditions. In various places, linguists here join forces with experts in cultural studies, history, education and neuroscience in an endeavour to provide a more detailed and complete picture of the phenomenon of migration and its implications for society and the individual. We hope that by embracing all these disciplines the present volume will help foster our understanding of the linguistic consequences of recent language contact. Fear of linguistic diversity (which is part of cultural diversity) is often based on ignorance and thus detailed knowledge of what happens in areas of recent language contact may better allow us to respect and to even welcome cultural diversity.

Details

Seiten
308
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631815410
ISBN (ePUB)
9783631815427
ISBN (MOBI)
9783631815434
ISBN (Hardcover)
9783631797204
DOI
10.3726/b17397
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 308 S., 7 s/w Abb., 26 Tab.

Biographische Angaben

Ulrich Hoinkes (Band-Herausgeber:in) Matthias L.G. Meyer (Band-Herausgeber:in)

Ulrich Hoinkes ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft und Didaktik am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Matthias L.G. Meyer ist Professor für Englische Philologie (Sprachwissenschaft) am Englischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ulrich Hoinkes is professor of linguistics and subject-specific teacher education at the Department of Romance Studies of Kiel University, Kiel, Germany. Matthias L.G. Meyer is professor of English philology (linguistics) at the English Department of Christian-Albrecht-University, Kiel.

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