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Interkonfessionelle Aushandlungen im protestantischen Drama

Mittelalterliche Traditionslinien des geistlichen Spiels im Bibeldrama der Reformationszeit

von Maximiliane Johanna Antonia Gürth (Autor:in)
©2020 Dissertation 414 Seiten

Zusammenfassung

Das geistliche Spiel des Mittelalters erfuhr während der Reformationszeit maßgebliche Veränderungen. Dennoch lebten Teile der mittelalterlichen Spieltradition auch in den geistlichen Dramen protestantischer Dramatiker fort, indem sie reflektierten Transformationsprozessen unterworfen wurden, die semantische Verschiebungen, Adaptionen und Modifikationen mit sich brachten. Die komparatistische und interdisziplinäre Studie von Maximiliane Johanna Antonia Gürth beleuchtet vielfältige Erscheinungsformen, Aspekte und Kontexte dieser Transformationen im protestantischen Drama des 16. Jahrhunderts und zeigt, wie die theologischen Brüche, inter- und binnenkonfessionelle Konflikte, aber auch transkonfessionelle Gemeinsamkeiten, über interkonfessionelle Austauschprozesse immer wieder neu verhandelt wurden. Die Autorin untersucht und analysiert den Einfluss diskursiver und gesellschaftlicher Kontexte auf die konkrete Realisierung von Interkonfessionalität im protestantischen Drama und entwirft einen neu perspektivierten Blick auf die kommunikative Interaktion der Konfessionen in der Reformationszeit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Abkürzungsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • 1 Fragestellung
  • 2 Methodische Überlegungen und Vorgehensweise
  • I. Exkurs: Toleranz in der Frühen Neuzeit
  • 2.1 Eingrenzung des Textkorpus
  • 2.2 Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit – Begriffliche Überlegungen und Eingrenzung
  • 2.2.1 polemisch
  • 2.2.2 implizit
  • 2.2.3 explizit
  • 2.2.4 konfessionsneutral
  • 2.3 Transkonfessionalität
  • 3 Forschungsstand
  • 4 Das geistliche Spiel des Mittelalters – Frömmigkeit und Furcht
  • 4.1 Das Weihnachtsspiel
  • 4.2 Das Oster- und Passionsspiel
  • 5 Das geistliche Drama der Reformationszeit – Transformation und Neuperspektivierung
  • 5.1 Luther und das Theater
  • 5.2 Das Kirchenlied und der Gemeindesang
  • II. Textanalysen
  • 1 Christi Geburt
  • 1.1 Heinrich Knaust
  • 1.1.1 Widmungsvorrede
  • 1.1.2 Prolog und Argumentum
  • 1.1.3 Analyse der Haupthandlung
  • 1.1.4 Zwischenfazit – Die Anfänge interkonfessioneller Aushandlung
  • 1.2 Christoph Lasius
  • 1.2.1 Prolog
  • 1.2.2 Analyse der Haupthandlung
  • 1.2.3 Zwischenfazit – Polemik als Kampf- und Propagandamittel
  • 1.3 Ambrosius Pape
  • 1.3.1 Widmungsvorrede
  • 1.3.2 Prolog
  • 1.3.3 Analyse der Haupthandlung
  • 1.3.4 Zwischenfazit – Ein Pastor wider „irrige Meinungen“ und das „verrckte[…] Gottlose[…] leben“
  • 1.4 Sebastian Wild – Ein Sonderfall seiner Zeit
  • 1.4.1 Meistersinger, Schneider und Lehrer? – Die Antwort auf eine ‚forschungsgeschichtliche Identitätskrise‘
  • 1.4.2 Das Theater in Augsburg und dessen interkonfessionelle Relevanz
  • 1.4.3 Der konfessionelle Mittelweg bei Sebastian Wild
  • 1.4.3.1 Titel, Widmungsvorrede und Prolog
  • 1.4.3.2 Analyse der Haupthandlung
  • 1.4.3.3 Zwischenfazit – Der ‚wilde‘ Grenzgang
  • 1.4.4 Hieronymus Ziegler – Infanticidium
  • 1.4.5 Konfessionelle Kompromisse in Augsburg
  • 2 Passion Christi
  • 2.1 Joachim Greff
  • 2.1.1 Die Widmungsvorrede
  • 2.1.2 Der Prolog
  • 2.1.3 Analyse der Haupthandlung
  • 2.1.4 Zwischenfazit – Wer an Mich gleubet / der hat das ewige Leben (Joh 6,47)
  • 2.2 Jakob Ruf
  • 2.2.1 Titelblatt, Widmungsvorrede und Prolog
  • 2.2.2 Analyse der Haupthandlung
  • 2.2.3 Zwischenfazit – Reformatorisches Gedankengut im traditionellen Gewand
  • 2.3 Sebastian Wild
  • Exkurs: Grimald und Wild – die Parallelen in Werk und Leben
  • 2.3.1 Prolog
  • 2.3.2 Analyse der Haupthandlung
  • 2.3.3 Zwischenfazit – Konfessionelle Konsenssuche: Der feste Glaube als gemeinsamer Ausgangspunkt der christlichen Heilswahrheit
  • III. Schlussbemerkung – Zwischen Tradition und Reformation
  • IV. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 1 Primärquellen
  • 2 Archivalische und ungedruckte Quellen
  • 3 Forschung
  • 4 Internetquellen

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I. Einleitung

Ein Flugblatt mit der Überschrift Jnhalt zweierley predig / yede in gemein in einer kurtzen summ begriffen des Lutheraners Georg Pencz1 aus dem Jahr 1529 zeigt eine evangelische und eine katholische Predigt, die sich antithetisch gegenüberstehen.

Abb. 1: Künstler: Georg Pencz, Text: Hans Sachs, Druck: Wolfgang Resch, Jnhalt zweierley predig 1529, Inventarnr.: 643–7, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin.

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Auf der linken Seite des Flugblatts ist ein hagerer Prediger abgebildet, der aus der Heiligen Schrift vorliest und Gottes Wort verkündet, während auf der rechten Seite ein beleibter Geistlicher ohne Schriftgrundlage von einer Kanzel herab predigt. Unter der bildlichen Darstellung des Holzschnittes findet sich ein vom Nürnberger Meistersinger Hans Sachs verfasster Text, der den Inhalt der beiden Predigten summiert.2 Der Konspekt der protestantischen Predigt auf der linken Seite expliziert die Lehrstücke und theologischen Grundsätze der protestantischen Glaubenslehre und proklamiert diese als das war Christlich leben. Bei näherer Betrachtung der rechten Seite fällt auf, dass es sich mitnichten um eine neutrale Zusammenfassung der katholischen Glaubenslehre handelt, vielmehr werden die Verfehlungen der römisch-katholischen Kirche aus protestantischer Sicht thematisiert.

Diese dezidiert anti-katholische Konzeption zeigt, dass es sich hier nicht um eine neutrale Rekapitulation der verschiedenen Glaubensrichtungen oder gar um ein irenisches Zeugnis handelt, sondern um eine polemische Gegenüberstellung. Konträr zu dieser Feststellung erscheint schließlich ein mittig unter die Inhaltsangaben platzierter Satz: Hierinn vrteil du frmmer Christ | Welche leer die warhaffts ist. Dieser Aussage zufolge steht es dem Leser frei, sich für die katholische oder die protestantische Glaubenslehre zu entscheiden. Angesichts der eindeutig polemischen Konzeption wird allerdings deutlich, dass die Wahl zwischen dem katholischen und dem evangelischen Glauben nur eine vermeintliche Alternative darstellt. Über die Diffamierung der römisch-katholischen Kirche und positiven Herausstellung der protestantischen Glaubensinhalte wird vielmehr die protestantische Identität beworben und der Wahrheitsanspruch des evangelischen Glaubens hervorgehoben.

Mit illustrierten Flugblättern,3 wie dem von Pencz und Sachs, wurde der Streit zwischen den konkurrierenden Glaubensgemeinschaften „plakativ ins ←16 | 17→Bild gesetzt“4 und konnte aufgrund einer Vielzahl Neuer Medien eine breite Öffentlichkeit erreichen. Im Zuge des Glaubensstreits entstanden viele solcher schriftlichen Zeugnisse, die der Forschung bis heute erhalten sind. Die Medienrevolution im 16. Jahrhundert beförderte die Entstehung Neuer Medien,5 die von den Protestanten im Kampf um den ‚rechten Glauben‘ zur Verbreitung der neuen Glaubenslehre genutzt wurden. „Zwischen Reformation und Aufklärung entfalteten sich frühmoderne Öffentlichkeiten, in denen sich Informationsaustausch, Meinungspflege, Propaganda und Kommunikationspolitik multimedial entwickelten.“6 Es wurde ein Kommunikationsraum geschaffen, der die Welt des ←17 | 18→Wissens7 geografisch und thematisch erheblich erweiterte.8 Seine weiträumige Verbreitung und Einflussnahme verdankte der Buchdruck jedoch auch der Bildungskultur der Zeit:9

Ohne den aus den romanischen Ländern sich nach Norden verbreitenden Humanismus mit seinem Glauben an die allgemeine Bildungsfähigkeit der Menschen und der damit verbundenen Hinwendung zu den Texten der Antike wäre eine rasche Ausbreitung der Buchdruckerkunst nicht möglich gewesen.10

Martin Luthers Bibelübersetzung11 in die Volkssprache, vor allem aber die rasante Verbreitung der gedruckten Lutherbibel ab 1534, legte schließlich den Grundstein für eine einheitliche deutsche Schriftsprache12 und machte das Wort Gottes jedem zugänglich, der lesen konnte. Die Ausformung Neuer Medien und Kommunikationswege führte dazu, dass das geschriebene Wort über den Klerikerkreis hinaus auch einem gebildeten Publikum zugänglich wurde. Doch auch die leseunkundige Bevölkerung wurde erreicht, wenn literati den illiterati die Druck-Erzeugnisse vorlasen.13 Die Medien der Frühen Neuzeit umfassten nicht nur gedruckte Medien, wie das Flugblatt und die Buchpublikation,14 im ←18 | 19→Vordergrund stand vor allem die „orale Vermittlung durch die Predigt, den Gesang (Volkslied und der beginnende Kirchengesang der Reformation) [und] das (laute) Lesen und Vorlesen.“15 Zur Verbreitung des reformatorischen Gedankenguts schreibt Jürgen Drommert: „Eine wichtige Voraussetzung der erstaunlichen Anfangserfolge reformatorischer Bestrebungen in Deutschland […] bildete die rasche Verbreitung reformatorischer Ideen quer durch alle sozialen Schichten.“16 Neben den Flugblättern wurde vor allem das Theater zu einem relevanten Medium für Protestanten,17 da die protestantischen Glaubensinhalte aufgrund ←19 | 20→der öffentlichen Vorführungen schnell verbreitet und internalisiert werden konnten und eine Aufführung somit die öffentliche Meinung unmittelbar zu beeinflussen vermochte.

„[D];ie explosionsartige Entwicklung des Druckgewerbes“18 förderte auch die Verbreitung geistlicher protestantischer Dramen.19 Eine Vielzahl dieser Reformationsdramen entstand, wie das Flugblatt von Pencz und Sachs, aus dem Verlangen heraus, die römisch-katholische Kirche und ihre Verfehlungen mithilfe von Polemik zu denunzieren und gleichzeitig die protestantische Glaubenslehre und damit den ‚rechten Glauben‘ und die ‚rechte christliche Lehre‘ herauszustellen und zu bewerben. Hierzu konstatiert Barbara Könneker: „Die Entdeckung des Wortes als Waffe und seine gezielte Einsetzung zur Gewinnung und Mobilisierung der öffentlichen Meinung ist literarhistorisch gesehen eine der wichtigsten Neuerungen dieses Zeitalters.“20 Obwohl im 16. Jahrhundert noch keine umfassende deutsche Rhetoriktheorie21 vorlag, gab es bereits genügend volkssprachliche Rhetorik- und Dialektikbücher die unter anderem Anleitungen zur Beweisführung und Widerlegung lieferten oder konkret polemische Beispiele von anderen Mitstreitern im Glaubenskampf, auf die ein Polemiker der Frühen ←20 | 21→Neuzeit zurückgreifen konnte, um sich für einen kontroverstheologischen Streit zu wappnen.22 Die rhetorische ‚Waffe‘ der Polemik wurde von den Reformatoren überaus häufig eingesetzt, um die päpstliche Kirche – die die Menschen vom Vertrauen auf Gott und Christus abgelenkt und dazu geführt hatte, ihr Heil in den eigenen Anstrengungen zu suchen und so die eigene Leistung statt Gottes Gnade in den Mittelpunkt zu stellen – zu verspotten und zu verurteilen.23 Die Ursache hierfür bringt Volker Leppin auf den Punkt: „Wer Neues beginnt, strengt sich an, das Vorherige alt aussehen zu lassen.“24 Aber auch das Bedürfnis, sich der eigenen Identität zu versichern, stellte eine grundlegende Ursache für die negative Abgrenzung in Form von Polemik dar. Hierzu stellt Edith Feistner heraus:

Die Ausbildung von Identität schließt notwendig ein Moment der Unterscheidung des ‚Eigenen‘ von einem (wie auch immer definierten und bewerteten) ‚Anderen‘ ein. Das gilt auf kollektiver und auf individueller Ebene. Die komplexe Gemengelage von positiver, durch ‚eigene‘ Merkmale definierter Identität und negativer, durch Abgrenzung vom ‚Anderen‘ definierter Identität ist nicht nur historisch variabel, sondern ebenfalls kontext- und situationsabhängig. Ganz allgemein liegt aber die Vermutung nahe, dass in Phasen akuter, zumal kriegerischer Konflikte […] die Bedeutung der negativen Identität signifikant erhöht ist: Die Wahrnehmung des ‚Anderen‘ […] wird hier zum Feindbild reduziert, von dem man sich selbst – unter Nivellierung interner Heterogenität und Dissonanz – entsprechend scharf abgrenzt.25

Doch auch jenseits von instrumentalisierender Polemik gab es ein protestantisches geistliches Drama der Reformationszeit. Diese Dramen verzichteten bewusst auf einen polemischen Unterton, um nicht in einen Kampf, sondern in einen Diskurs über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu treten. Grundsätzlich sollten natürlich auch diese Dramen von den Glaubensgrundsätzen der protestantischen Lehre überzeugen. Der bedeutende Unterschied liegt in diesen ←21 | 22→Fällen jedoch darin, dass die Kunst der Rhetorik tatsächlich als persuasives Instrument genutzt und damit Abstand von der plakativ subversiven rhetorischen ‚Waffe‘ genommen wurde. Anstatt die andere Glaubenslehre nur derb zu denunzieren, sollte akademisch-argumentativ überzeugt werden, wodurch ein neues Niveau im theologischen Streit innerhalb des Gelehrtenkreises Einzug hielt. Der Unterschied zwischen abwertenden und wertenden Texten erscheint gering, beschreibt jedoch zwei gänzlich verschiedene Dimensionen von Kommunikation: Bekehrung vs. Überzeugung, Streit vs. Diskussion, Invektiven vs. kontroverstheologischer Sachlichkeit, Anschuldigung vs. Diskurs. Man kann nicht behaupten, dass die ‚neue‘ Rhetorik jenseits von Polemik konkret deeskalierend oder gar friedensstiftend gewirkt hätte, jedoch war sie eine implizite Absage an klischeehafte Feindbildpropaganda.26 Vor diesem Hintergrund muss erneut festgehalten werden, dass sich die vorliegende Arbeit nicht mit der Inszenierung rhetorischer Streitkultur auseinandersetzt, sondern interkonfessionelle Austausch- und Kommunikationsprozesse anhand geistlicher Dramen erforscht, welche ohne Polemik auskommen. Damit möchte diese Untersuchung – über die in der Forschung immer noch wenig differenzierte Unterscheidung des polemischen und nicht-polemischen Dramas hinaus – einen Beitrag zur Vervollständigung des religiösen Profils im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts leisten. Zudem kann mit der näheren Untersuchung des nicht-polemischen Dramas dazu beigetragen werden, die Kommunikations- und Interaktionsprozesse zwischen den sich herausbildenden Konfessionen im 16. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der neueren Interkonfessionalitätsforschung, aus einer neuen Perspektive näher zu beschreiben und neue Einsichten hinsichtlich interkonfessioneller Durchlässigkeiten und einer protestantischen Kommunikationsreform zu geben. Wie das polemische Flugblatt von Pencz und Sachs zeigt, eignen sich polemische Textzeugnisse hierfür nicht, da sie ausschließlich auf bewusster Abgrenzung basieren und damit keine Annäherung im Sinne von ‚Aushandlung‘ jenseits des Glaubenskampfs möglich ist.

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1 Fragestellung

Die Tatsache, dass auch im Protestantismus der Frühen Neuzeit vorreformatorische Traditionen des geistlichen Spiels weiterwirkten, findet in der Forschung zum frühneuzeitlichen Drama immer noch kaum Beachtung. Besonders für den Zeitraum zwischen ca. 1530 und 1590 liegen keine entsprechenden Untersuchungen vor, welche die Ursachen, Möglichkeiten und Grenzen des Fortlebens mittelalterlicher Traditionen des geistlichen Spiels jenseits von Polemik beschreiben. Das Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass es bereits vor dem Beginn des Jesuitentheaters auch ein protestantisches geistliches Drama gegeben hat, das in mittelalterlichen Traditionslinien des geistlichen Spiels stand, ohne jedoch dabei Teil des polemischen Glaubenskampfs zu sein. Die Weiterführung der mittelalterlichen Tradition des geistlichen Spiels im protestantischen Drama ist demnach ein Erbe der spätmittelalterlichen Theater- sowie christlichen Frömmigkeitskultur und damit ein konfessionsübergreifendes Phänomen. Die Fragen nach den Hintergründen und Ursachen einer unpolemischen Dramenkonzeption sowie der Vielgestalt ihrer Form und Funktion sollen in den folgenden Kapiteln beantwortet werden.

Im 16. Jahrhundert erhielt das Theater und mit ihm das geistliche Drama als Ort des interkonfessionellen Diskurses besondere Bedeutung.27 Die protestantische Bearbeitung biblischer Stoffe führte zu Brüchen innerhalb der mittelalterlichen Tradition des geistlichen Spiels. Viele Elemente der geistlichen Spiele wurden transformiert und in eine neue Form gebracht. Die Transformation der altkirchlichen Spielpraxis brachte Neugestaltungen, Modifikationen, Adaptionen und semantische Verschiebungen mit sich und veränderte das Spielverständnis grundlegend. Diese Arbeit ist bestrebt zu zeigen, inwiefern sich protestantische Dramatiker über gezielte Abgrenzungs- und Annäherungsstrategien mit der Frage auseinandersetzten, wie sich die mittelalterliche Tradition der geistlichen Spiele für den neuen Zweck – die protestantische Glaubenslehre ←23 | 24→über das geistliche Drama zu vermitteln und zu internalisieren – nutzen ließ. Dafür wurden einerseits die aus protestantischer Sicht alten und überkommenen Funktionen der geistlichen Spiele durch neue Funktionen ersetzt, die der neuen Wirkungsabsicht und dem neuen Wahrheitsanspruch gerecht wurden. Andererseits wurden etliche, nicht spezifisch altgläubige Motive, Figuren usw. beibehalten und für den protestantischen Anspruch modifiziert. Durch diese Überlegungen ließ sich für die Dramatiker vorkonfessionell Gemeinsames sowie überkonfessionell Verbindendes, aber auch unüberbrückbar Verschiedenes identifizieren. Dieser Vorgang der Abwägung, Annäherung, Abgrenzung und Kompromissschließung, der für die Entstehung eines protestantischen geistlichen Dramas jenseits von Polemik zwingend notwendig war, wird im Folgenden als ‚interkonfessionelle Aushandlung‘ bezeichnet.

Die Untersuchung möchte herausstellen, dass das geistliche Spiel erst mithilfe dieser, durch Bearbeitung und Neuperspektivierung einsetzende, Transformation der protestantischen Dramatiker,28 einen Funktionswandel erfuhr, welcher es möglich machte, dass das geistliche Spiel auch zur Zeit der Reformation fortleben konnte. Geistliche Dramen hatten nicht mehr nur eine katechetische Funktion zur Festigung des Glaubens, sondern wurden darüber hinaus zu einer Plattform der interkonfessionellen Auseinandersetzung. Die geistlichen Reformationsdramen hatten stets Zeitbezug und fungierten auch als Glaubensbekenntnis, indem sich die Verfasser über konfessionsspezifische Marker in den externen Paratexten wie dem Vorwort sowie in den spielinternen Paratexten den Prologen und Epilogen selbst konfessionell positionierten. Diese Marker, die aus den Paratexten, aber auch aus der Anlage des Textes ersichtlich werden, konnten dabei mehr oder weniger ausgeprägt und auffällig sein.

Die Überlegungen der protestantischen Dramatiker zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Glaubensrichtungen lassen sich in den Reformationsdramen auf einer inneren wie auf einer äußeren Ebene beobachten. Auf übergeordneter Ebene eröffnet der Vorgang dieser dezidierten Überlegungen einen diskursiven ←24 | 25→Kommunikationsraum, in dem interkonfessionelle Aushandlungsprozesse29 in den geistlichen Dramen der Reformationszeit sichtbar werden. Wie bereits zu Anfang dargestellt, unterscheidet diese Arbeit dabei zwischen zwei verschiedenen Kommunikationsräumen innerhalb des geistlichen Dramas: Zum einen gibt es die interkonfessionelle Aushandlung und zum anderen den polemischen Glaubenskampf. In diesen Kommunikationsräumen setzen sich die Autoren mit den konfessionellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten entweder polemisch (polemischer Glaubenskampf) oder implizit, explizit wie auch konfessionsneutral30 (interkonfessionelle Aushandlung) auseinander.

Die in dieser Arbeit untersuchten nicht-polemischen geistlichen Dramen belegen, dass die Polemik in einem protestantischen Reformationsdrama nicht zwangsläufig von konstitutiver Relevanz war. Natürlich steht außer Frage, dass auch die negative Bezugnahme auf die andere Konfession eine Form der Kommunikation darstellt, jedoch werden die Grenzen der Konfessionen hierbei nicht überwölbt, sondern betont; mithin bleibt es folglich bei der strikten Abgrenzung und Betonung der Unterschiede, wodurch eine interkonfessionelle Aushandlung, die auch immer einen Moment der friedlichen und kommunikativen Annäherung impliziert, nicht zustande kommen kann. Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt auf der Herausarbeitung der verschiedenen Formen von interkonfessioneller Aushandlung im Sinne von positiv-verbindender Interkonfessionalität31 und leistet damit auch einen Beitrag zur Dialog- und Friedensforschung.

Die vielgestaltigen Formen von interkonfessioneller Kommunikation im protestantischen Drama veranschaulichen, inwiefern eine Transformation der Tradition es ermöglichte, abseits des Glaubenskriegs32 über konfessionelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu reflektieren. Ein weiterführendes Ziel ←25 | 26→dieser Untersuchung ist es daher, das immer noch stark einseitig herausgestellte Bild der interkonfessionellen Kommunikation in der Frühen Neuzeit zu erweitern, indem die verschiedenen Varianten von interkonfessioneller Kommunikation im Reformationsdrama herausgestellt und beschrieben werden.

Die vorliegende Untersuchung, die von der These ausgeht, dass das geistliche Spiel in der Reformationszeit nicht von den Bühnen verdrängt und aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde, sondern auch im protestantischen Raum in transformierter Form weiterhin Bestand hatte, greift neueste Forschungsansätze im Bereich der Konfessionalisierungs- und Interkonfessionalitätsforschung auf. Gerade vor dem Hintergrund der Kritik33 am Konfessionalisierungsparadigma34 erscheint es bedeutsam, inter- wie transkonfessionelle Durchlässigkeiten und Konstellationen sowie der frühneuzeitlichen Theologie inhärente Motive, Kontexte und Wirkungen, jenseits von staatlicher Formierung zu untersuchen. Auf diese Weise antwortet die vorliegende Arbeit auf ein Desiderat der Forschung und möchte einen Beitrag zum besseren Verständnis der vielgestaltigen Austauschprozesse zwischen den Konfessionen in der Frühen Neuzeit leisten.

2 Methodische Überlegungen und Vorgehensweise

„terra incognita“.35 Diese Einschätzung, die Wolfgang F. Michael in den 1980er Jahren zur Ausgangssituation der Erforschung von Reformationsdramen gab, ←26 | 27→trifft mittlerweile zwar nicht mehr zu, gleichwohl eröffnet sich im Hinblick auf die Erforschung von Reformationsdramen ein eher unübersichtliches Spektrum, da ein Großteil der protestantischen Dramen nicht ediert und allenfalls im VD16 erfasst ist. Die Bedingungen für die Erforschung dieses Gegenstandes sind insuffizient, denn häufig bleibt nur der Rückgriff auf den ursprünglichen Druck aus dem 16. Jahrhundert.36 Dass sich die Forschung mit der vielgestaltigen und vielschichtigen Art der protestantischen Dramen schwertut, belegt auch die mannigfaltige Terminologie, die schon bei den mittelalterlichen geistlichen Spielen für Unschärfe sorgt: Liturgische Feier, kirchliches Drama oder mittelalterliches Schauspiel? Die Frage, mit welchem Begriff das Phänomen des geistlichen Spiels beschrieben werden soll, ist in der Forschung umstritten, was an der ebenfalls strittigen Entstehung, Entwicklung und Funktion37 der Spiele liegen mag.38 Dieselben Inkongruenzen finden sich bei den geistlichen Dramen der Frühen Neuzeit, denn der institutionelle Kontext, in dem die Spiele entstanden und dargeboten wurden, war vielfältig. So finden sich Begrifflichkeiten wie: Reformationsdrama, protestantisches Schuldrama, oder später auch Bürger- oder Volksspiel. Diese disputable Terminologie für die Dramatisierung religiöser, vor allem biblischer Stoffe vor protestantischem Hintergrund markiert keine eindeutige Gattungsgrenze.39 Mit den Voraussetzungen zur Bildung ←27 | 28→eines Gattungsbegriffs haben sich Bernd Neumann und Dieter Trauden in ihrem grundlegenden und richtungsweisenden Aufsatz zur Neubewertung des religiösen Schauspiels auseinandergesetzt.40 Auch Detlef Metz merkt zum Gattungsbegriff an:

Für das [geistliche] Drama ist zunächst festzuhalten, dass es gattungsgemäß eine Schaltstelle bildet. In ihm finden mehrere in der Reformationszeit gängige Gattungen Anwendung, so dass das Drama in gewisser Weise einen Kulminationspunkt für verschiedene Genres, sozusagen für deren Übergang in einen anderen Aggregatzustand darstellt. So nimmt das Drama zunächst die Gattung des Dialogs auf, dessen Grenze zum Drama ohnehin eine fließende ist. In den Rahmenstücken, aber auch in der Handlung selbst, bietet das Drama dazu predigthafte Elemente. Die Gattung Lied findet immer wieder Aufnahme in den Stücken […]. Eine weitere, häufig Verwendung findende Gattung ist die des Gebets, zitiert von den Darstellenden. Ferner besteht bei manchen Dramen eine Verbindung zum Medium des Bildes […]. Das Drama bündelt insbesondere Gattungen, die zum Vortrag bzw. zur Rezitation bestimmt sind; diese kombiniert es mit den für das Drama konstitutiven Elementen des Visuellen und der actio […] wodurch es zu einem Zusammenwirken mündlicher und visueller Kommunikation kommt.41

Obwohl dem Reformationsdrama in den letzten Jahrzehnten mehr Aufmerksamkeit zuteilwurde, ist das protestantische geistliche Drama bis heute immer noch nicht hinreichend erforscht. Es steht außer Zweifel, dass den Reformationsdramen von ihren Zeitgenossen ein höherer Wert beigemessen wurde als von der modernen Literaturwissenschaft.42 Warum den geistlichen Dramen des 16. Jahrhunderts bisher eher weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde, könnte mit dem Umstand erklärt werden, dass die komplexen Kompositionsprinzipien vieler Texte nicht erkannt und die gattungseigenen Gestaltungsmittel nicht verstanden wurden.43 Hierzu konstatieren Neumann und Trauden:

Eine der Gattung gerecht werdende Beurteilung ihrer literarischen Qualität hat von mehreren Prämissen auszugehen: 1. Die in den Texten dargebotenen Inhalte müssen ermittelt und im Gesamtgefüge des geistig-kulturellen Umfelds ihrer Zeit verortet werden. 2. Die gattungsspezifische Art und Weise der Darbietung dieser Inhalte und ←28 | 29→die Gründe für das Vorgehen der Verfasser […] sind zu erhellen. 3. Dafür ist ebenfalls notwendig zu untersuchen, aus welchen sozialen Schichten die Verfasser […] der Aufführungs- bzw. Lesetexte […] stammten, an welches Publikum sie sich richteten, welche Absichten sie verfolgten und mit welchen Kontrollmechanismen […] sie sich konfrontiert sahen.44

Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist daher, unter der Berücksichtigung einer interkonfessionellen Fragestellung, die Erschließung dieser Prämissen, um die bisher eher unterschätzte Komplexität und Vielgestaltigkeit dieses Untersuchungsgegenstandes45 aufzuzeigen.

Im Fokus der folgenden Analyse steht die Dramatisierung der biblischen Heilsgeschichte in Form von reformatorischen Weihnachts-, Passions- und Osterspielen (Geburt, Leiden und Sterben Jesu Christi). Hierfür werden sieben protestantische Dramen unter hermeneutischen und komparatistischen Gesichtspunkten auf konfessionelle Durchlässigkeiten und interkonfessionelle Aushandlungsprozesse hin untersucht.

Zu Beginn dieser Arbeit werden die methodischen Überlegungen und die Vorgehensweise erläutert sowie die der Arbeit zugrunde liegende Hauptthese in den bereits bestehenden Forschungszusammenhang eingeordnet und eine Einführung in das Thema ‚Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit‘ gegeben. Ein knappes Kompendium der Reformation, Luthers Lehren und des konfessionellen Zeitalters soll dabei helfen, die vorliegende Studie in einen historischen Kontext einzuordnen. In diesem Zusammenhang werden die methodischen Begrifflichkeiten dieser Untersuchung – Trans- und Interkonfessionalität – eingehend erläutert und die verschiedenen Konzepte bzw. Varianten von Interkonfessionalität – polemisch, implizit, explizit und konfessionsneutral – näher definiert. Mit diesen analytischen Instrumenten, die als Ergänzung des methodischen Ansatzes zu verstehen sind, lassen sich die folgenden Textbeispiele bearbeiten und systematisch einordnen, was der bereits erwähnten Unübersichtlichkeit abhelfen soll. Diese Termini sind Bestandteil der Methodik der bisherigen Interkonfessionalitätsforschung46 und stellen die Grundlage aller Beschreibungen von konfessionsindifferenten oder konfessionsdifferenten Phänomenen dar. Davon ←29 | 30→ausgenommen ist der Begriff der ‚Konfessionsneutralität‘, der in dieser Arbeit erstmalig als Form von interkonfessioneller Kommunikation herausgestellt und anhand eines konkreten Fallbeispiels erläutert wird.

Da die Termini der bisherigen Interkonfessionalitätsforschung in ihrem Ursprung eher abstrakt definiert wurden, erfolgt zunächst eine Vorstellung der originären Definition, bevor diese durch den Bezug auf den Gegenstand der Forschung dieser Untersuchung erweitert wird. Das Kapitel zu den spezifischen Termini bzw. zum analytischen Instrumentarium bemüht sich um eine grundsätzliche Begriffserklärung mit dem Ziel, die Wahrnehmung der zu beschreibenden interkonfessionellen Aushandlungs- oder Kommunikationsformen durch eine präzisere Unterscheidung zu ermöglichen und zu konkretisieren.

Im darauffolgenden Kapitel wird festgelegt, was unter der Gattung des geistlichen Spiels im Mittelalter und dem protestantischen Drama der Frühen Neuzeit zu verstehen ist. Die Unterschiede, die Gemeinsamkeiten sowie die Funktionen werden erläutert und die Entwicklung des mittelalterlichen geistlichen Spiels hin zum protestantischen Drama nachgezeichnet. Die Definition zur Gattung ‚geistliches Spiel‘ wird auf die Beschreibung der Weihnachts- sowie Oster- und Passionsspiele hin beschränkt.

Im Anschluss wird mithilfe des erarbeiteten analytischen Instrumentariums bei den sieben Reformationsdramen eine vergleichende Textanalyse47 durchgeführt. Die protestantischen Weihnachts-, Passions- und Osterspiele werden auf die Fragen hin überprüft, inwiefern sie noch in mittelalterlichen Traditionslinien stehen, welche konkreten Elemente der mittelalterlichen Spieltradition in ihnen weiterwirken und welche Transformationsprozesse zu beobachten sind.48 Darüber hinaus wird geprüft, welchem Zweck die Dramen dienen sollten, wie ←30 | 31→komplex die Kompositionsprinzipien angelegt wurden und welche Form von interkonfessioneller Kommunikation vorliegt. Die Reformationsdramen sollen auf ihre Eigenheit und Neuperspektivierung hin untersucht, aber auch auf das Fortleben mittelalterlicher Traditionslinien hin überprüft werden. Um herauszustellen, wie die protestantischen Dramatiker das geistliche Spiel zur Zeit der Reformation erneuerten und welche Wirkungsabsicht sie damit verfolgten, werden transkonfessionelle Motive und Figuren wie auch interkonfessionelle Konzepte herausgearbeitet und analysiert sowie ihre jeweilige Funktion beschrieben. Die Textanalyse soll vor allem das Neue und Eigenständige der geistlichen Dramen der Frühen Neuzeit aufzeigen und die vielfältigen Formen des Austauschs zwischen den Konfessionen beleuchten. Dabei soll gleichzeitig gezeigt werden, dass sich das protestantische Drama der Reformationszeit aus dem geistlichen Spiel des Mittelalters entwickelte, weshalb sich die geistlichen Dramen nie zur Gänze aus den mittelalterlichen Traditionslinien herauslösten.

Obwohl die polemische Variante in dieser Arbeit nicht im Fokus steht, wird dennoch in der Textanalyse das polemische Weihnachtsspiel von Christoph Lasius näher beleuchtet. Zum einen, weil auch das polemische Konzept zur ‚interkonfessionellen Skala‘49 gehört und zum anderen, weil dadurch ein negatives Vergleichsbeispiel aufgezeigt werden soll. Erst durch den direkten Vergleich wird deutlich werden, dass sich polemische Dramen und die breite Skala von nicht-polemischen Dramen in zwei gänzlich verschiedenen Kommunikationsräumen bewegen und interkonfessionelle Aushandlungen ausschließlich im nicht-polemischen Raum, also jenseits von ‚Krieg und Kampf‘, stattfinden können.

Die Arbeit wird darüber hinaus belegen, dass die Fortführung der mittelalterlichen Tradition eine von den Verfassern intendierte Strategie war, um die damit beim Publikum erregten Affekte neu zu semantisieren und auf die Inhalte der protestantischen Glaubenslehre zu übertragen. Die Kapitel der Textanalysen sollen darlegen, auf welche Art und Weise protestantische Dramatiker in ihren geistlichen Dramen die reformatorischen Umbrüche verarbeiteten und die Problematiken der Glaubensspaltung und des damit einhergehenden Glaubenskrieges – auch ohne Polemik – thematisierten. Die Beweggründe, ein Reformationsdrama zu verfassen, waren vielseitig. Sie mussten nicht immer konfessionsspezifisch sein, sondern hingen oftmals von einem offiziellen Auftrag oder vom zeithistorischen Impuls des Individuums ab. Deshalb soll untersucht werden, welche konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten und welche konfessionellen Unterschiede sich im Reformationsdrama beobachten lassen ←31 | 32→und warum sich ein Autor für ein bestimmtes Dramenkonzept entschied. Von besonderer Bedeutung für die Arbeit ist die Erkenntnis, dass die Konzepte der Dramatiker überaus vielgestaltig und vielschichtig waren, obwohl die protestantischen Leitfragen im Glaubensstreit und das Anliegen der Reformatoren stets dieselben waren: Welche Überzeugungsstrategien konnten genutzt werden, um die protestantische Glaubenslehre unter ihren Anhängern zu internalisieren? Wie konnte der Protestantismus weiterverbreitet werden, um größeren Einfluss zu nehmen? Wie konnte die protestantische Identität gefestigt werden, um gegenüber der römisch-katholischen Kirche Bestand zu haben? Wie konnten aktuelle politische, gesellschaftliche und religiöse Miss- oder Zustände im geistlichen Drama verhandelt werden, ohne, dass der kritische Zeitbezug der Verbreitung oder Aufführung des Dramas abträglich war? Wie konnte die alte Tradition der geistlichen Spiele mit den neuen Ansichten und Ideen der Reformation in Einklang gebracht werden? In den verschiedenen Konzepten der Reformationsdramen finden sich mannigfaltige Lösungsvorschläge zu diesen Fragen, welche sich in einigen Fällen leicht erkennen lassen, in anderen Fällen jedoch hinter komplexen Kompositionsprinzipien verstecken. Diese Untersuchung arbeitet die Bedingungen und Bedeutungen dieser unterschiedlichen Konzepte sowie die inhärenten konfessionsindifferenten beziehungsweise transkonfessionellen Motive und Darstellungsformen heraus. Die dabei zutage tretenden konfessionellen Durchlässigkeiten dokumentieren die Formen des interkonfessionellen Austauschs, der im Folgenden auch als ‚interkonfessionelle Aushandlung‘ beschrieben wird.

‚Aushandlung‘ meint im Folgenden immer eine Form der Kommunikation oder Interaktion jenseits von Polemik. Wie bereits erwähnt wird die polemische Form in dieser Arbeit nicht mit dem Begriff ‚Aushandlung‘ umschrieben, da sie nichts Verbindendes, sondern nur Abgrenzendes im Sinne von Kampf und Denunziation intendiert und somit keine Überwölbung der Konfessionsgrenzen in Form von interkonfessioneller Aushandlung stattfinden kann. Die ‚Aushandlung‘ wiederum meint eine Form der Kommunikation, welche auf einer Metaebene der Texte stattfindet. Sie ergibt sich aus den verschiedenen Annäherungs- und Abgrenzungsstrategien der Autoren, welche bei näherer Betrachtung der Reformationsdramen zu erkennen sind. Mit diesen Strategien ist die Auseinandersetzung des Autors mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Konfessionen gemeint. Das Ergebnis dieser strategischen Abwägungen kann sich im Text implizit, explizit oder konfessionsneutral äußern. Anhand der verschiedenen Formen von interkonfessioneller Kommunikation soll überprüft werden, welche konfessionellen Austauschprozesse, Wechselwirkungen und Angleichungsphänomene im protestantischen Drama der Reformationszeit nachzuweisen sind.

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Auf jede Textanalyse folgt ein Zwischenfazit. Die Ergebnisse aller Analysen werden in einem abschließenden Fazit resümiert und mit einem Ausblick auf zukünftige interessante Forschungsfelder wird die Untersuchung beendet.

Ein Großteil der Forschung zum volkssprachigen geistlichen Drama des 16. Jahrhunderts, widmet sich der Untersuchung künstlerischer und theatraler Ausgestaltung,50 weshalb Fragen nach der Qualität der dramatischen Kunst, der performativen Praxis oder performativen Potenzen in dieser Untersuchung keine leitenden Gesichtspunkte darstellen. In den folgenden Ausführungen ebenso nicht berücksichtigt wird die Tradition des jesuitischen Dramas und Theaters, das schon recht gut erforscht ist. Die sozialhistorische Dimension steht zwar nicht im Fokus der Arbeit, wird, wo wesentlich für die Analyse, jedoch miteinbezogen, da die sozialhistorischen Hintergründe bei der Entstehung von protestantischen geistlichen Dramen für die Interpretation der Texte durchaus relevant sein können: Wie kamen die Menschen mit den politischen und religiösen Umbrüchen zurecht? Wie wirkte sich die Spaltung des christlichen Glaubens auf den Glauben der Menschen aus und auf welche Art fanden diese Entwicklungen ihren Niederschlag in den Medien der Reformationszeit? Inwiefern hatten die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten einer Stadt Einfluss auf die Entstehung eines geistlichen Dramas? Wenngleich diese Fragen von elementarer Bedeutung sind, können sie, so lange der Forschung kein Gesamtbild des Reformationsdramas vorliegt, nicht ganzheitlich beantwortet werden. Angesichts dessen wird deutlich, dass dieses angestrebte Gesamtbild erst nach und nach aus den Erkenntnissen diverser Einzelstudien zusammengesetzt werden kann. Die Fragen nach dem Entstehungshintergrund der einzelnen Dramen sowie nach den politischen, religiösen und gesellschaftlichen Gegebenheiten werden demnach bei jeder Analyse mitgeführt, um bestimmte Konzepte besser verstehen und mögliche Antworten auf die Frage nach Konflikt und Toleranz geben zu können.

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Exkurs: Toleranz in der Frühen Neuzeit

Da ‚Toleranz‘51 mit seinem Bedeutungsspektrum im modernen Sinne, wie wir ihn heute kennen, ein Begriff der Aufklärung52 ist, sollte vor dessen Verwendung innerhalb des Kontextes interkonfessioneller Zusammenhänge im 16. Jahrhundert auf die Möglichkeiten und Grenzen dieses Begriffes hingewiesen werden.53

Es waren religiöse, konfessionelle Konflikte, die in der Frühen Neuzeit die Toleranzfrage ins Zentrum der kirchlichen und politischen Agenda rückten und den Begriff der Toleranz als Terminus in den europäischen Sprachen eingebürgert haben.54

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Martin Luther führte den Begriff der Toleranz 1541 in einem Brief an die Fürsten Johann und Georg von Anhalt ein; vor dem Hintergrund des Regensburger Reichstages (1541) allerdings in einem negativen Zusammenhang:

Ich kan auch nit bedengken, Das einiche vrsach vorhanden sey, die gegen got die tollerantz mochte entschuldigen, Dieweill kein schwacheit der Obrigkeiten nach der Jhenigen halben, die sich der kirchen Ambt vnd Ministerien vff dem andern theill annhemen, vorhanden ist, Sondern Lautere vorsetzliche Tyranney, die wurden auch nymmermehr starck werden vnd In ewiger Tollerantz wollen verharren, vnd solche Artigkel vor Recht verdeidingen. Die wollen aber wir, Wie Jch ewern f. g. negst gesagt, vordampt haben, Dieweill sie Iren Irthumb wissen vnd dannocht vor recht halten vnd vorteidingen wollen. Diese wurden auch solcher tollerantz also misbrauchen, das sie Ir volck, ob es gleich der Rechten lehr woll bericht, vnd gemelte stuck vor einen Irthumb mit rechtem grunde der schriefft erkente, vnd starck wurde, In solche Artigkell alwegen wollen gefangen vnd vorbunden behalten, Wiewoll wir sonsten mit Iren schwachen, die bishier gottes wort nicht gehort, des Sacraments halben In einer gestalt, Item welche es darfur wolten achten, aus schwacheit, Das sie alle Ire Sunde In der Beicht musten erzelen, [eine zeitlang] woll konten gedult tragen, biß sie auch starck wurden, Vnd die wurden nit starck werden konnen, Inen wurde[n]; dan die ersten vier Artigkel Recht vnd klar vff dem andern theil auch geprediget […] Aber wan die vier Artigkel nit solten Rain gehen vnd gelert, auch nit solche prediger vffgestelt werden, bey dem andern theill, die solche vier Artigkell Rain In der predigt trieben, So wurde bey Inen die tollerantz zu einer ewigen hertigkeit geraten, Als ich vorberurt habe, vnd kond Ir volck, das noch schwach were, auch nymmermher starck werden, Dan wie Sand Paul sagt: ‘Quomodo audient sine Predicante, quomodo vero predicabunt nisi mittantur etc.’ Darumb wurde auch keine Christenliche vorgleichung zwuschen vns erfolgen konnen.55

Eine ‚instrumentelle‘ Toleranz im Sinne von taktischem ‚Hinhalten‘, kann, so Luther, nicht funktionieren. Die vor allem von den Humanisten und Reformatoren in Gang gebrachte Toleranzdiskussion, bewegte sich aber von Anfang an im Spannungsfeld von Kirche und Staat sowie Religion und politisch-sozialer Ordnung.56 Die Menschen waren in hohem Maße gebunden an ihre Zeit; ihre Handlungsmacht war gering, da ihre innere Disposition sich nur schwer von den großen geschichtlichen Mächten befreien konnte.57 So konstatiert Nikolaus ←35 | 36→Paulus: „Für den Gedanken der Religionsfreiheit im modernen Sinn hat man auf dem Augsburger Reichstag von 1555 weder auf katholischer noch auf protestantischer Seite ein Verständnis gehabt.“58 Jan-Dirk Müller zeigt in seinem Aufsatz Citra pietatis dispendium,59 dass ‚Toleranz‘ sogar noch vor der Spaltung des Christentums in die Konfessionen eher eine „Frage des Überlebens im christlichen Europa der Frühen Neuzeit“60 war. In religionspolitischen Auseinandersetzungen wurde das „kleinere Übel als vorläufige Maßnahme zur Rettung des Friedens“61 gewählt. Toleranz war also keineswegs die überzeugte Duldung eines Gegensatzes, sondern fungierte als politische „Übergangslösung“,62 um „die Entscheidung einer Frage vorläufig zurückzustellen“.63 Den Begriff ‚Toleranz‘ auf die Frühen Neuzeit zu übertragen ist demnach kein leichtes Unterfangen, da er hinsichtlich religiöser Fragen als „Begriff der politischen Ideengeschichte ein zentrales Thema der sozialpolitischen Diskussion geworden ist.“64 Aber auch innerhalb der frühneuzeitlichen Toleranzdebatte, die sich hauptsächlich im Reformationszeitalter abspielte, wurde religiöse oder konfessionelle Koexistenz lediglich als politisches Kalkül zur vorläufigen ‚Stillstellung‘ von Konflikten wahrgenommen. Die praktizierte Toleranz hatte, aufgrund der religiösen Prämisse des christlichen Wahrheits- und Heilsmonopols, ihre Grenzen.65

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Paul Warmbrunn verweist in seiner Monografie Zwei Konfessionen in einer Stadt67 auf die Sonderstellung, die den Freien Reichsstädten68 im Zuge der Konfessionsregelung des Augsburger Religionsfriedens69 zukam: „In den gemischtkonfessionellen Städten wurde also den Bekennern beider im Religionsfrieden zugelassenen Konfessionen Toleranz gewährt und dem zahlenmäßig schwächeren Bekenntnis Minderheitenschutz garantiert.“70 Das Aufkommen des ←37 | 38→konfessionellen, religiösen sowie kirchlichen Pluralismus sorgte schon im 16. Jahrhundert für diverse Toleranzdiskussionen, was „zur Entstehung praktischer und gesetzlich fundierter Regelungen“71 führte, um das friedliche Nebeneinander verschiedener Konfessionen innerhalb des Staates zu fördern und zu erhalten.

Für das 16. Jahrhundert ist festzuhalten, dass Toleranz in der Regel keine Frage der subjektiv-liberalen inneren Einstellung war, sondern eine von außen bestimmte politische Strategie.72 Da der Begriff der ‚Toleranz‘ im Kontext konfessioneller Diversität im 16. Jahrhundert über die Bedeutungen ‚ertragen‘ oder ‚dulden‘, im Sinne der praktischen politisch-rechtlichen Bewältigung religiös-konfessioneller Vielfalt, nicht hinaus ging und damit ein politischer Terminus war, steht diese Untersuchung dem Toleranzbegriff kritisch gegenüber, da er vor dem Hintergrund des Untersuchungszeitraumes dieser Arbeit nicht die Überzeugungen eines Individuums widerspiegelt, sondern von staatlicher Seite als Instrument zur Sicherung religionspolitischer Macht oder als ‚Übergangslösung‘ genutzt wurde. Es ist daher besonders beeindruckend, dass Toleranz, als ein Merkmal sozialer Interaktion, oder sogar als innere Haltung im „ethisch-moralphilosophischen Sinne,“73 vor dem Hintergrund protestantischer Dramen analysiert werden kann, wie in den Textanalysen zu Sebastian Wild zu zeigen sein wird.

Eine zentrale Hinwendung zum protestantischen Drama mag zwangsläufig die Frage nach den Chancen und Risiken der Fokussierung auf eine einzelne Gruppe von Medien aufwerfen. Von einem konfessionshistorischen Standpunkt aus betrachtet ist es jedoch bedeutend, sich auf eine bestimmte Gruppe, in diesem ←38 | 39→Fall protestantische Dramen und Dramatiker, zu fokussieren, um verschiedene Formen der interkonfessionellen Kommunikation untersuchen und beschreiben zu können. Die Analyseebene liegt hier deutlich auf Einzelpersonen, was aber auch immer dazu führt, Netzwerke von Berufsgruppen schärfer konturieren zu können, besonders, wenn innerhalb einer Berufs- sowie Mediengruppe eine große Bandbreite in den Blick genommen wird. Von besonderer Bedeutung ist die Erkenntnis, dass nur eine punktuelle Studie dazu geeignet ist, die Natur der Sache tatsächlich zu ergründen. Hierbei ist am Ende zu fragen, ob wissenschaftliche Erkenntnisse über einzelne Personen und bestimmte Medien oder Berufsgruppen verallgemeinerbar beziehungsweise generalisierbar sind. Diese Arbeit wird von der Überzeugung getragen, dass nur die intensive und umfangreiche Beschäftigung mit Einzelfallstudien sowie die Fokussierung auf bestimmte Berufs- und Mediengruppen einen tieferen Einblick in die interkonfessionellen Kommunikationsräume und Aushandlungsprozesse in den Medien der Reformationszeit und damit wichtige und richtungsweisende Impulse für die weiterführende Forschung zu geben vermag. Dieser Forschungsansatz ist im Hinblick auf die Frage, wie die geistlichen Dramen der Reformationszeit im Zusammenhang mit den politischen, religiösen und gesellschaftlichen Gegebenheiten des 16. Jahrhunderts aktuell zu verstehen und in den medialen Kontext der Zeit einzuordnen sind, von großer Bedeutung. Auf die Frage nach der Voraussetzung einer umfassenden Auswertung des Einflusses religiöser Spiele auf das „geistig-kulturelle, soziale und politische Leben der Städte“74 konstatieren Neumann und Trauden, dass es mehr interdisziplinäre Studien sowie weitere Einzelanalysen zum geistlichen Schauspiel geben müsse, um generalisierende Aussagen treffen zu können.75 Bis dies geschehe, würde die Vorstellung der Forschung hinsichtlich der „Inhalte, Kompositionsprinzipien und Qualität“76 der religiösen Schauspiele verzerrt bleiben. Diese Arbeit möchte die Forschungslage ergänzen, indem die Textanalyse der Fallstudien mit dem Fokus auf interkonfessionelle Berührungspunkte, innerhalb einer interdisziplinären Untersuchung, erfolgt. Vor dem Hintergrund literaturwissenschaftlicher und theologischer Fragestellungen wird das Fortleben des geistlichen Spiels in der Reformationszeit untersucht, schließt an die neuere Forschung zum protestantischen Drama im 16. Jahrhundert an und erweitert diese mit dem Ansatz der Interkonfessionalitätsforschung.

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Selbstverständlich haben sich bereits einige wissenschaftliche Arbeiten mit den Reformationsdramen befasst, doch die wenigsten Dramen wurden interdisziplinär untersucht oder unter interkonfessionellen Gesichtspunkten betrachtet. Folglich ist der interkonfessionelle Ansatz auch in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung ein Desiderat.77

2.1 Eingrenzung des Textkorpus

Mit den bisher erläuterten komplexen Leitfragen setzt sich diese Untersuchung auf der Grundlage konkreter Fallstudien auseinander. Zur Materialbasis gehören die Dramen – dabei handelt es sich um Weihnachts-, Passions- und Osterspiele – von Heinrich Knaust (1541), Christoph Lasius (1549), Ambrosius ←40 | 41→Pape (1582), Joachim Greff (1542), Jakob Ruf (1545) und Sebastian Wild (1566). Die Textauswahl beschränkt sich auf die heilsgeschichtlichen Stoffe aus dem Neuen Testament. Die zahlreichen geistlichen Spiele zu Erzählstoffen des Alten Testaments und den Apokryphen sowie Kontextualisierungen mit biblischen Prätexten benachbarter Textgattungen des 16. Jahrhunderts, wie etwa Bibelkommentare, gedruckte Predigten, Andachtswerke etc., können aus forschungspragmatischen Gründen nicht in diese Untersuchung miteinbezogen werden.

Mit den ausgesuchten Autoren werden verschiedene Berufsstände sowie Entstehungszeiträume und -orte abgedeckt. Heinrich Knaust, Christoph Lasius, Ambrosius Pape und Joachim Greff gehörten zur ersten und zweiten, von Wittenberg ausgehenden Generation von lutherisch-reformatorischen78 Gelehrten, die neben ihrem Kirchenamt auch schriftstellerisch tätig waren. Jakob Ruf absolvierte ein medizinisches Studium und war in der Schweiz,79 seinem Heimatland, nicht nur für seine medizinischen Werke, sondern auch seine Bibeldramen bekannt und angesehen. Sein Passionsspiel ist das einzig erhaltene der Eidgenossenschaft. Sebastian Wild war kein Akademiker, sondern Handwerker.80 In ←41 | 42→seiner Heimatstadt Augsburg, in der er bis zu seinem Tod lebte und wirkte, war er als Schneidermeister tätig und darüber hinaus ein angesehenes Mitglied der dort ansässigen Singschule der Meistersinger. Neben dem reformatorischen Zentrum in und um Wittenberg lassen sich die betreffenden Dramen somit auch im süddeutschen Raum und in der Schweiz lokalisieren. Neben den eher lutherisch-orthodoxen Vertretern Knaust, Lasius und Greff sowie Pape, der aber wohl eher nicht zu den Gnesiolutheranern gehörte, widmet sich die vorliegende Untersuchung mit Wild und Ruf auch Autoren, deren Dramen sich deutlich vom Habitus der Wittenberger Schüler unterscheiden. Der aus Zürich81 stammende Ruf war vermutlich Zwinglianer, während Wilds Schaffen von den ‚gemischtkonfessionellen‘ Zuständen in der Freien Reichsstadt Augsburg82 geprägt war, die sich politisch und reichsrechtlich der Parität verpflichtete. Natürlich muss der Tatsache, dass die verschiedenen Konfessionen im Beobachtungszeitraum dieser Arbeit noch im Werden befindlich waren, Beachtung geschenkt werden, weswegen verwendete Begriffe wie ‚lutherisch-orthodox‘ oder ‚reformiert‘ jetzt und im Folgenden keinen Absolutheitsanspruch erheben.

Neumann und Trauden konstatieren zu den Entstehungshintergründen spätmittelalterlicher geistlicher Spiele:

Soweit es möglich ist, müssen die besonderen lokalen und historischen Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Spiel an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit verfaßt, bearbeitet, aufgezeichnet oder aufgeführt wurde, jeweils gesondert berücksichtigt werden. Erst wenn dies geschehen ist, kann man daran denken, ein Gesamtbild des mittelalterlichen religiösen Schauspiels zusammenzufügen, das sich der historischen Realität wenigstens annähert.83

Diese Auffassung kann ebenso für die Reformationsdramen gelten, da die Bedingungen für das Verfassen, Verlegen und Aufführen geistlicher Dramen in den verschiedenen deutschsprachigen Regionen und Territorien nie die selben waren. Diesbezüglich ist vor allen anderen Dramatikern Sebastian Wild von besonderer Bedeutung. Seine Ausgangssituation – Laienbildung und Zugehörigkeit zum Handwerksstand, Tätigkeit als Meistersinger sowie der Wirkungsort ←42 | 43→die Freie Reichsstadt Augsburg – eignet sich gut, um das Zusammenleben der Konfessionen zu erforschen und das Bild der theologischen Schriftsteller des 16. Jahrhunderts tiefer zu ergründen und zu erweitern: Die Verfasser und Bearbeiter von geistlichen Dramen gehörten in der Regel dem Gelehrtenkreis an: Stadtschreiber, Schulmeister, Rechtskundige, Geistliche oder theologisch Gebildete84 – „jedenfalls ganz überwiegend […] Leute mit überdurchschnittlich hoher Ausbildung“85 und sehr guten „Lateinkenntnisse[n];“.86

Das Bildungs- und Sozialniveau der bekannten Verfasser […] schlägt sich überall in den Inhalten und dem dargebotenen ‚Wissen‘ der Spieltexte nieder. Hier verknüpfen sich breite Kenntnisse vor allem der theologischen Literatur mit als wichtig empfundenen Fragen der Zeit. […] Die Darstellung der städtischen Lebenswelt und ihre Probleme (soziale und politische Probleme, besondere Vorkommnisse, die Heterogenität des städtischen sozialen Umfeldes) wird ebenso in die Texte einbezogen wie auch politische Ereignisse, die über die Körperschaft Stadt hinausgingen, aber offenbar von Interesse waren (wie z. B. die Türkengefahr oder später der Bauernkrieg). All dies harrt zumeist noch einer genaueren Untersuchung. […] Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Spiele durchweg den Bildungsanspruch ihrer Verfasser […] dokumentieren. Dabei ist zu vermuten, daß die Verfasser […] ihre Kenntnisse für jedermann offen oder auch […] versteckt zeigten.87

Die erneute Beschäftigung mit dem vernachlässigten Dramatiker Wild lohnt sich folglich nicht nur aufgrund seines einzigartigen konfessionsneutralen Dramenkonzepts, das im Folgenden noch erläutert wird, sondern auch aufgrund seiner sozialen Stellung und seines bikonfessionellen Lebensraums. Nicole Finkl88 konnte in ihrer Arbeit zur „überkonfessionelle[n]; Modernisierung und Verdichtung der städtischen Administration“89 nachweisen, dass sich im Augsburg des 16. Jahrhunderts eine bikonfessionelle Ausgestaltung der Stadt vollzog.90 Finkls Untersuchung stellt einen „Wirkungszusammenhang zwischen der religiösen und politischen Entwicklung der Stadt mit der Entwicklung der Verwaltung“91 her und rückt die Stadt Augsburg damit in den Fokus des Interesses ←43 | 44→interdisziplinärer Studien.92 In den paritätischen Reichsstädten, die in Schwaben93 lagen, „hatte sich die reformatorische Bewegung in den 30er und 40er Jahren des 16. Jahrhunderts zunächst vollständig durchsetzen können, wobei sich jedoch eine kleine, vor allem im Patriziat verwurzelte altgläubige Minderheit hatte halten können.“94 Wie auch in anderen Reichsstädten fand die neue Lehre „zuerst Zugang zu den humanistisch gebildeten Kreisen, z. T. waren die Prediger selbst Humanisten.“95 Dennoch gehörte Augsburg nicht zu den Reichsstädten, in denen es zu einer „stetigen und über längere Zeit wirksamen evangelischen Verkündigung“96 kam. Mit dem kaiserlichen Religionsgesetz, dem Interim (1548–1551/52), sollte schließlich die Konfrontation zwischen Protestanten und Altgläubigen im Reich bis zur endgültigen Lösung der Glaubensfrage durch ein Konzil ‚stillgestellt‘ werden.97 In der Realität aber vertiefte das Religionsgesetz die konfessionelle, politische und soziale Spaltung erst,98 und stellt innerhalb der Reformationsgeschichte in vielerlei Hinsicht eine bedeutende ←44 | 45→Zäsur dar.99 Zum einen markierte das Interim das Ende der Hoffnungen auf die zuvor aussichtsreichen Bestrebungen um einen lehrmäßigen Ausgleich zwischen Altgläubigen und Protestanten, die durch die großen Religionsgespräche gekennzeichnet waren und zum anderen beförderte es die Pluralität des Protestantismus,100 wodurch binnenkonfessionelle Konflikte plötzlich offen zutage traten. Was in dieser Zeit folglich konkret befördert und schließlich 1555 durch den Augsburger Religionsfrieden reichsrechtlich gesichert wurde, war der politische Reichsfrieden, nicht jedoch der Religionsfrieden. Besonders in gemischtkonfessionellen Territorien waren Konfliktfelder absehbar, zumal der theologische ‚Zank‘ zwischen den Gelehrten, der für die Öffentlichkeit zumeist über polemische Kampfschriften ausgetragen wurde, nicht vergessen101 und ein tatsächlicher ‚Friede‘ damit nicht in Sicht war. Der Reichsstädteartikel von 1555 gibt zwar an, dass in bikonfessionellen Reichsstädten beide Konfessionen „friedlich und rübig neben einander wonen“102 sollten, wie das Ganze in der Praxis auszusehen hatte, blieb aber weitestgehend unklar. Hierzu konstatiert Axel Gotthard:

Details

Seiten
414
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631820216
ISBN (ePUB)
9783631820223
ISBN (MOBI)
9783631820230
ISBN (Hardcover)
9783631792650
DOI
10.3726/b16871
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Transformation Medienrevolution Theatergeschichte Mittelalterrezeption Kommunikation Gesellschaftskritik Konfessionsgrenzen Annäherung Literaturgeschichte Konfessionspolitik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 414 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Maximiliane Johanna Antonia Gürth (Autor:in)

Maximiliane Johanna Antonia Gürth studierte Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Sie war Kollegiatin am interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg „Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit" an der Universität Hamburg, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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Titel: Interkonfessionelle Aushandlungen im protestantischen Drama
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