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Michael Ende

Zur Aktualität eines Klassikers von internationalem Rang

von Hans-Heino Ewers (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 386 Seiten

Zusammenfassung

Der 90. Geburtstag im Jahr 2019 hat Michael Ende (1929-1995) erneut in die Öffentlichkeit gerückt und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem literarischen Schaffen beflügelt. In dessen Zentrum steht die Unendliche Geschichte (1979) mit ihrer Idee einer Rettung des mythologischen Menschheitserbes. Aufmerksamkeit erlangen auch Endes Erzählbände allein für Erwachsene mit ihrer Nähe zu Franz Kafka und Jorge Luis Borges. Beachtung findet ebenfalls das musikdramatische Schaffen und Endes Werkgemeinschaft mit dem Komponisten Wilfried Hiller. Dass Ende zu den weltweit rezipierten deutschen Schriftstellern gehört, belegen elf Länderartikel, die einen Bogen von Japan über die arabische Welt und Europa bis nach Brasilien schlagen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Michael Endes Momo und Die Unendliche Geschichte. Ein Essay (Alain Montandon)
  • Die Welt muss romantisiert werden. Poesie bei Michael Ende und Novalis (Yoshitaka Ishida)
  • Die Rettung Phantásiens. Michael Endes Projekt einer Remythisierung der Gesellschaft (Hans-Heino Ewers)
  • Das Projekt einer neuen Mythologie bei Michael Ende und Platon (Markus Janka, Michael Stierstörfer)
  • Briefe an die Väter. Michael Ende, Edgar Ende und die Traditionen des Phantastischen (Markus May)
  • Michael Endes letztes Projekt: Das faustische Singspiel Mammonella nach R. L. Stevensons The Bottle Imp (1891) im Spiegel der späten Erzählungen (Volker Wehdeking)
  • Überlegungen zur Phantastik in Michael Endes Erzählungen und Romanen (Bernhard Rank)
  • Die Musiktheaterwerkstatt von Michael Ende und Wilfried Hiller. Eine Geschichte ihrer gemeinsamen Werke (Gunter Reiß)
  • Vorausdeutungen auf die großen Romane Michael Endes in der österreichischen Kinderliteratur der Nachkriegszeit (Ernst Seibert)
  • „Ich werde schon rechtzeitig dort sein.“ Zeit(raum)konzepte in ausgewählten Erzählungen Michael Endes in literaturdidaktischer Perspektive (Anna Braun)
  • Studien zur Übersetzung und Rezeption
  • Die Rezeption der Werke Michael Endes in Japan (Mie Horiuchi)
  • Die Rezeption von Michael Ende in Südkorea (Moon Sun Choi)
  • Die Rezeption der Werke von Michael Ende in China (Hongjun Cai)
  • Die Rezeption von Michael Endes Werk in Italien (Claudia Alborghetti)
  • Die Rezeption von Michael Endes Werk in französischer Sprache (Daniel Delbrassine)
  • Zur Rezeption von Michael Endes Hauptwerken in Spanien (María Mar Soliño)
  • Zur Rezeption von Michael Endes Hauptwerken in Portugal und Brasilien (Gabriela Fragoso)
  • Eine humanistische Botschaft. Zur Rezeption von Michael Ende in Polen (Angela Bajorek)
  • Michael Ende im (post-)sowjetischen Russland (Oxane Leingang)
  • Die Rezeption von Michael Ende in der Türkei (Necdet Neydim / Turgay Kurultay)
  • Die Rezeption von Michael Ende in der arabischen Welt (Tarik A. Bary)
  • Michael Endes Nachlass
  • Der Teilnachlass von Michael Ende in der Internationalen Jugendbibliothek München (Jutta Reusch)
  • Der Teilnachlass von Michael Ende im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) (Thomas Scholz)
  • Die Beiträgerinnen und Beiträger
  • Reihenübersicht

Einleitung

Abstract: The introduction first mentions the 90th birthday of Michael Ende in 2019 and then characterizes the state of the art of literary scholarship regarding the work of Ende, which still is underdeveloped in Germany. In the second chapter a summary of the contributions of the first part of the volume is given that deal with different aspects of Ende’s poetics, novels, and music theatre plays. The last chapter contains an overview of the reception studies presented in this omnibus volume and points out some general trends of Ende’s conquering the international book market.

Keywords: Michael Ende, German scholarship, translation, reception, international book market

Im Jahre 2019 wäre von Michael Ende 90 Jahre alt geworden. Von verschiedenen Seiten wurde dies zum Anlass genommen, ein Michael-Ende-Jahr auszurufen. Das in der Öffentlichkeit wohl am meisten wahrgenommene Ereignis war die Publikation einer Prachtausgabe der Unendlichen Geschichte durch den Thienemann Verlag, die mit zahlreichen Schwarz-weiß-Zeichnungen Sebastian Meschenmosers versehen war. Aufsehenerregender aber war der in diesem Band enthaltene Bilderzyklus desselben Künstlers, dessen Vorlage 50 großflächige Ölgemälde bildeten.1 Meschenmoser ist es in den Augen vieler gelungen, der literarischen Vorlage ein Bildkosmos an die Seite zu stellen, der sich sowohl von deren wenig geglückten Verfilmung als auch von den Bildwelten der Tolkien-Verfilmungen absetzt. Meschenmosers Bilderzyklus vermag es, sowohl die Bedeutung der Unendlichen Geschichte wie auch deren Eigenständigkeit im Kontext der Geschichte der Fantasy herauszustellen.

Das Ende-Jahr 2019 hat seinen Schatten vorausgeworfen und so setzte bereits einige Zeit davor eine Beschäftigung mit Leben und Werk Michael Endes ein. 2016 erschien die überaus gründlich recherchierte Biographie Michael Endes, verfasst von Birgit Dankert, die mit einer Fülle von bislang nicht allgemein ←11 | 12→bekannten Details aus dem Leben des Autor aufwartet.2 Eine andere Form der Auseinandersetzung mit dem Leben Michael Endes hat die Autorin Charlotte Roth gewählt und 2019 eine Romanbiographie, anders gesprochen: den „Roman eines Lebens“ vorgelegt.3

Was die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem kinder- und dem erwachsenenliterarischen Werk angeht, so hat es immer wieder einzelne Monographien und Dissertationen, hin und wieder auch einzelne Beiträge in Sammelbänden gegeben, ohne dass diese im akademischen Bereich nachhaltiger wahrgenommen worden wären. Man würde zögern, von einer breiter gefächerten Michael Ende-Forschung zu sprechen, geht es doch oft nur um eines seiner Werke, die Unendliche Geschichte.4 Auf andere Werke des Autors wird nämlich ganz selten Bezug genommen.5

Den Beginn einer Auseinandersetzung des Herausgebers dieses Bandes mit dem Werk Michael Endes markiert dessen 2015 unter dem Titel „Kritische Gefolgschaft. Michael Ende und die Romantik“ erschienene ←12 | 13→Abschiedsvorlesung, aus der die Monographie Michael Ende neu entdecken von 2018 hervorgegangen ist.6 Im selben Jahr erschien Volker Wehdekings Buch Michael Ende. Der Fantasy-Autor und seine Filme, das sich zum überwiegenden Teil mit den rein erwachsenenliterarischen Werken Endes befasst.7 Das gemeinsame dieser und der meisten zuvor erschienenen Publikationen besteht darin, dass sie auch dort, wo sie sich mit kinder- bzw. jugendliterarischen Werken Michael Endes befassen, diese nicht als Kinder- und Jugendliteratur thematisieren. Es geht nirgendwo um deren potenzielle Eignung für junge Leser welcher Altersstufe auch immer, sondern darum, was sie kompetenten, d.h. in der Regel erwachsenen Lesern zu sagen haben, mit anderen Worten: um Michael Ende als Erwachsenenautor. Als ein solcher wird er in den allgemeinen Literaturgeschichten in der Regel nicht erwähnt, wofür der 12. Band von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1992 ein Beispiel ist.8 Sollte dennoch einmal sein Name fallen, dann in der Rubrik ‚Bestseller‘. Michael Ende würde, so Ralf Schnell, „mit seinen märchenhaften Fantasy-Romanen Momo und Die unendliche Geschichte – wie die Heftchen-Serien ein verbreitetes Bedürfnis nach Spannung und Ablenkung, Wärme und Glück (befriedigen)“.9

Das Jahr 2019 brachte in Deutschland zwei erstmals allein diesem Autor gewidmete Tagungen. Eine Tagung wurde von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur mit Sitz in Volkach am Main ausgerichtet und fand am 14. November 2919 statt – zwei Tage nach dem 100. Geburtstag Michael Endes.10 Die andere Tagung musste aus organisatorischen Gründen auf Anfang 2020 verschoben werden. Sie wurde von der Internationalen Jugendbibliothek in München zum Abschluss eines Projekts zur Erschließung des Ende-Nachlasses11 veranstaltet und fand am 14. und 15. Februar ←13 | 14→statt.12 Einzelne der hier versammelten Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die auf der einen oder der anderen Tagung gehalten wurden.

***

Die erste Abteilung dieses Sammelbandes wird von einem Essay des französischen Komparatisten und engagierten Spezialisten für die deutsche Romantik Alain Montandon13 eröffnet, in welchem die beiden großen Romane Michael Endes als Manifeste einer romantischen Gesinnung charakterisiert werden, die sich vehement gegen die rationalistische, leistungsorientierte und zeitsparende Zivilisation wendet und in einen Lobpreis von Phantasie und Kindheit mündet. Der folgende Beitrag stellt ebenfalls den (Neo-)Romantiker Michael Ende in den Mittelpunkt. Der japanische Germanist Yoshitaka Ishida14 zieht die umfangeichen theoretischen Äußerungen Michael Endes zu Fragen der Politik, Gesellschaft, Kultur, Literatur und Malerei heran, die in Reden, Gesprächen, Interviews und posthum veröffentlichen Notizen vorliegen,15 um hieraus die Poesie-Auffassung des Autors herauszudestillieren. Sodann zeigt er die verblüffende, bis in die Wortwahl reichende Nähe der Auffassungen Endes zur Poetologie des Novalis auf, wie sie in dessen philosophischen Schritten und Fragmenten formuliert wird. In französischer wie in japanischer Sicht scheint die neoromantische Seite Michael Endes ganz im Vordergrund zu stehen; gesucht wird in dem deutschen Autor der Antipode zur eigenen modernistischen Zivilisation.

Demgegenüber sucht der Essay von Hans-Heino Ewers zwar den romantisch inspirierten Kritiker der engstirnig rationalistischen Moderne herauszustellen, ist aber gleichzeitig bemüht, das in der Unendlichen Geschichte entworfene Projekt einer Wiederbelebung des mythologischen Menschheitserbes nicht als radikal antimodernistisch aufzufassen (wie in Deutschland geschehen), sondern ←14 | 15→als das Plädoyer für eine andere Moderne. Mit der Herkunft der in der Unendlichen Geschichte verwendeten Mythologeme aus der ägyptischen, griechischen, römischen und germanischen Mythologie haben sich bereits frühere Arbeiten befasst.16 Den Sprung von der rein quellenkundlichen Stoffgeschichte zur Konstitutionsgeschichte von Neomythen vollzieht der Beitrag von Markus Janka und Michael Stierstorfer, in welchem die Veränderungen und Umfunktionierungen antiker Mythologeme verfolgt werden, um auf diese Weise zu einer „gründlichere{n] Profilierung insbesondere des philosophischen Gehalts von Endes neomythologischem Erzählen“ zu gelangen. Darüber hinaus führen Janka und Stierstorfer den durchaus überraschenden Nachweis, dass Michael Ende „aufgrund seiner Überzeugung ‚von der mythischen Grundschicht unseres Erfahrens‘ […]vom philosophischen Geschichtenerzähler Platon dessen Dialektik von Entmythisierung und Remythisierung (übernimmt).“ Platon setze den überlieferten, teil problematischen Mythen „einen neuen Mythos mit einer eigenen Bildwelt und Vorstellungskraft im Dienst des an Wahrheit und Gerechtigkeit orientierten philosophischen Erkenntnisstrebens entgegen“.

Die beiden nachfolgenden Beiträge wenden sich den ausschließlich an Erwachsene gerichteten Werken Michael Endes zu. Unter Heranziehung ausgewählter Geschichten aus dem Band Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth (1984) widmet sich Markus May der mehrfachen Vater-Sohn-Problematik bei Michael Ende: der Beziehung des Sohnes zum Vater Edgar Ende auf biographischer Ebene, der Beziehung der Texte des Sohnes zu den surrealistischen Bildern des Vaters, schließlich dem Verhältnis des Schriftstellers Endes zu seinen literarischen Vätern Franz Kafka und Jorge Luis Borges. Mit dem faustischen Singspiel Mammonella, Endes letztem und unvollendeten Projekt, wie den späten Erzählungen, gesammelt erschienen in dem Band Das Gefängnis der Freiheit (1992), befasst sich der Beitrag von Volker Wehdeking, dem es um eine geistes- und literaturgeschichtliche Einordnung dieser Werke geht. Der Frage nach dem Gattungscharakter bspw. der Unendlichen Geschichte, aber auch der rein erwachsenenliterarischen Werke Michael Endes wird in Bernhard Ranks äußerst minutiöser Studie nachgegangen; erörtert wird unter Einbezug bisheriger Phantastiktheorien und deren philosophischer Hintergründe, mit welcher Ausprägung von Phantastik wir es in der verschiedenen Werken Michael Endes zu tun haben. Die an Genauigkeit kaum ←15 | 16→zu überbietende Studie darf als ein innovativer Beitrag zur Michael Ende- wie zur Phantastikforschung im Allgemeinen bezeichnet werden.

Mit dem musikdramatischen Werk Michael Endes hat sich seit längerem schon Gunter Reiß beschäftigt, dessen einschlägige Arbeiten im Bereich der Musikwissenschaft erschienen sind und deshalb im literaturwissenschaftlichen Bereich kaum wahrgenommen wurden. In seinem hier abgedruckten Beitrag steht die jahrzehntelange kongeniale Kooperation Endes mit dem Komponisten und Orff-Schüler Wilfried Hiller im Zentrum. Damit wird eine wesentliche Facette des Ende’schen Oeuvres sichtbar gemacht, die von germanistischer Seite bislang unbeachtet geblieben ist.

Während Markus May und Volker Wehdeking eine allgemeine literaturgeschichtliche Einbettung Endes unternommen haben, geht es Ernst Seibert um eine kinderliteraturgeschichtliche Kontextualisierung in erster Linie der Jim Knopf-Erzählungen; sein Bezugspunkt ist dabei die österreichische Kinderliteratur der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit. Seine Entdeckungen bringen einem zum Bewusstsein, dass eine Deutschland betreffende Untersuchung noch aussteht. Die Reihe der Beiträge zum Werk endet mit einer literaturdidaktischen Studie. Anna Braun zeigt, wie anhand einer Erzählung aus Der Spiegel im Spiegel und zweier weiterer Geschichten Endes Philosophie der Zeit herausgearbeitet und unterrichtlich eingebracht werden kann.

***

Den zweiten großen Themenschwerpunkt dieses Bandes stellt die internationale Rezeption der Werke von Michael Ende dar. Hier konnte der Herausgeber auf ein während seiner aktiven Zeit geknüpftes internationales Netzwerk zurückgreifen und eine Reihe von auslandsgermanistischen Kolleginnen und Kollegen dazu überreden, sich dieses Themas anzunehmen. Keiner von Ihnen konnte sich dabei auf nennenswerte Vorarbeiten stützen; sie mussten nahezu in jeder Hinsicht Pionierarbeit leisten. Nicht alle hatten sich zuvor schon mit übersetzungswissenschaftlichen Fragen befasst, so dass die einzelnen Rezeptionsstudien unterschiedliche Herangehensweisen und Schwerpunktsetzungen aufweisen und nicht zuletzt in ihrem Umfang voneinander abweichen. Einige geben lediglich eine erste Sichtung, während andere bereits einen tieferen Einblick verschaffen und ansatzweise schon Erklärungen anbieten. Alle Beiträge entstanden neben den laufenden Verpflichtungen ihrer Verfasserinnen und Verfasser und ohne finanzielle Förderung.

Es erwies sich als unmöglich, in diesem ersten Zugriff auf das Thema der internationalen Rezeption von Michael Ende bereits alle Länder bzw. Kulturkreise einzubeziehen. Hier waren Schwerpunktsetzungen unumgänglich. ←16 | 17→Michael Endes enges Verhältnis zur japanischen Kultur ist allgemein bekannt, und so musste die Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte seiner Werke in Japan, zu der das eine oder andere ja schon gesagt worden ist, einen herausragenden Platz einnehmen. Dafür war die überaus breite Rezeption Endes in Südkorea und in China entschieden weniger bekannt und auch für den Herausgeber ein Überraschung. Was die europäischen Länder angeht, so steht Italien an erster Stelle, in dem Ende eine herausragende Rolle gespielt hat. Mit einem gewissen Abstand folgen Spanien und Portugal, während Frankreich sich Ende gegenüber recht verhalten gezeigt hat. Von den osteuropäischen Ländern wurden Polen und Russland herangezogen. Unter den südosteuropäischen Ländern spielt die Türkei eine besondere Rolle, wo eine ausgesprochen politische Rezeption Endes stattgefunden hat und wo dessen Werke – Momo allen voran – in allerjüngster Zeit den Gipfel ihrer Popularität erreicht haben.

Der Momo-Roman scheint auch in der arabischen Welt im Vordergrund zu stehen, wobei gerade hier die Intervention der Goethe-Institute in Rechnung zu stellen ist. Die Beantwortung der Frage, ob hier von einer herkunftskulturellen Beeinflussung der Ende-Rezeption gesprochen werden kann, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Bedauerlich ist das Fehlen eines Beitrags zur Ende-Rezeption im Iran; die zahlreichen iranischen Übersetzungen konnte der Herausgeber vor Jahren selbst bewundernd in Augenschein nehmen. Ein kleiner Blick fiel schließlich auf den südamerikanischen Kontinent; in Brasilien übertraf die Ende-Rezeption diejenige in Portugal. Was die anglophone Welt wie auch die heutigen skandinavischen Länder angeht, so scheinen die von dort in alle Himmelsrichtungen ausgehenden Übersetzungsströme so gewaltig zu sein, dass Ströme in entgegengesetzter Richtung kaum Aussicht auf nennenswerte Beachtung haben. Die Erkundung einer eventuell doch vorhandenen breiteren Ende-Rezeption in diesen Ländern sei späteren Forschungen überlassen.

Die hier versammelten Rezeptionsstudien sollten, so sehr sie auch für sich interessant sind, doch auch vergleichend gelesen werden. Vorreiter unter den hier repräsentierten Ländern sind in chronologischer Hinsicht Italien und Japan. Direkt auf die Auszeichnung mit dem Deutschen Jugendbuchpreis folgte 1963 eine italienischen Übersetzung des ersten Teils des Jim Knopf, ohne den Autor jedoch in Italien nachhaltiger bekannt zu machen. Ein Jahrzehnt später kam es zu einer japanischen Adaption von Endes Erstling (1974). Im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stehen jedoch die beiden großen Romane Momo und Die unendliche Geschichte; die Art und Weise ihrer Rezeption prägen das Bild des Autors in den jeweiligen Ländern. Dabei weist die Übersetzungsgeschichte von Momo einen deutlichen Vorsprung auf: Noch um Erscheinungsjahr des Originals kommt eine Übersetzung in Brasilien heraus (1973). Dieser folgen Übertragungen ←17 | 18→ins Italienische (1974), Japanische (1976), Koreanische und Arabische (1977), Polnische und Spanische (1978). Im nachfolgenden Jahrzehnt kommt es zu Übersetzungen in Frankreich (1980), Russland (1982), Portugal und der Türkei (1984) sowie in China (1986). Das Werk erlebt in Brasilien 13 Ausgaben bzw. Auflagen17 bis 2012, in Polen 8 bis 2018, in Spanien 19 bis 2016, in Russland 8 bis 2018, in Portugal 4 bis 2014, in der Türkei 14 bis heute, in China 7 bis 2013, soweit dies den bibliographischen Angaben der hier versammelten Beiträge zu entnehmen ist. In Südkorea sind insgesamt 13 verschiedene Übersetzungen von Momo herausgekommen. Hinzuzunehmen wäre neben der Anzahl auch die Höhe der jeweiligen Auflagen, deren Erfassung weiteren Forschungen überlassen werden muss. In der Türkei nimmt Momo, was die Auflagenhöhe angeht, unter den Übersetzungen aus dem Deutschen heute den zweithöchsten Platz ein.

Die internationale Erfolgsgeschichte der Unendlichen Geschichte steht teilweise hinter derjenigen von Momo zurück. Den Anfang machen hier Südkorea (1979; 4 Übertragungen), Italien (1981), Japan und Spanien (1982). Die spanische Version stammt von dem renommiertesten Übersetzer aus dem Deutschen und erlebte bis 2019 insgesamt 28 Auflagen, darin den Erfolg von Momo übertreffend. Weitere Übertragungen folgen in Frankreich (1984) und Portugal (1984, 5 Aufl. bis 2014), Brasilien (1985, 8 Aufl. bis 2000), Polen (1986, 6 Aufl. bis 2018) und die Türkei (1986, 14 Aufl. bis heute), Ägypten und China (1988, 10 Aufl. bis 2012) und Russland (1992, 14 Aufl. bis 2018). Was die zweibändigen Jim Knopf-Erzählungen angeht, so stehen – von den o. g. zwei Ausnahmen Italien und Japan einmal abgesehen – deren Übersetzungen zeitlich gesehen hinter denjenigen der beiden großen Romane zurück: Südkorea (1978, 5 bzw.3 Übertragungen), Spanien (1980, 8 Aufl. bis 2018), Italien (Bd. 2: 1981), Portugal 1985), Brasilien (1988, 1993), Russland (1993, 10 Aufl. bis 2019), arabische Welt (1999), China (2000), Polen (2001, 2004), Frankreich und Türkei (2004). Was die Übersetzungen der rein erwachsenenliterarischen Werke Michael Endes angeht, so sind diese hier nur teilweise berücksichtigt worden. Für die Geschichtensammlung Der Spiegel im Spiegel sind Übertragungen ins Französische (1984), Japanische (1985), brasilianische Portugiesische (1988) und Türkische (2005) aufgeführt, für Das Gefängnis der Freiheit Übersetzungen ins Italienische und Türkische (1993) sowie ins Japanische (1995), was selbst mit Bezug auf die in diesem Band berücksichtigten Länder eine unvollständige Liste sein dürfte.

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Überall dort, wo der Momo-Roman die größere Wirkung entfaltet hat, was am deutlichsten in Südkorea und in der Türkei, teils auch in der arabischen Welt der Fall gewesen ist, wird Ende schwergewichtig als ein gesellschaftskritischer Autor wahrgenommen, der eher in der Tradition der (westlichen) Aufklärung als in der der Romantik steht. Wo der Autor den Unendlichen Geschichte im Vordergrund steht, wird Ende demgegenüber als ein später Anhänger der deutschen Romantik gesehen – wie bspw. in Italien und Frankreich – und teils auch mit der Anthroposophie Rudolf Steiners in Verbindung gebracht (Japan). Auch wenn hier nur erste Andeutungen und Vermutungen erlaubt sind, so lässt sich doch schon die große Bandbreite der internationalen Wahrnehmung von Michael Endes Werk erahnen. Der erste und noch unvollständige Blick auf die internationale Rezeption dieses Autors lässt nicht zuletzt auch die wechselvolle und gespaltene innerdeutsche Rezeption von dessen Werk in einem neuen Licht erscheinen.

***

Michael Endes Nachlass ist an verschiedenen Stellen aufbewahrt. Über die im japanischen Kurohime Märchenmuseum aufbewahrten Materialen gibt der Beitrag von Mie Horiuchi einige Hinweise. Über die in der Internationalen Jugendbibliothek in München aufbewahrten Nachlassbestände informiert der Beitrag von Jutta Reusch, während Thomas Scholz die im Deutschen Literaturarchiv Marbach enthaltenen Bestände charakterisiert.

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1 Michael Ende: Die unendliche Geschichte. Illustriert von Sebastian Meschenmoser. Stuttgart: Thienemann 2019. Die Ölgemälde wurden in einer Ausstellung von LesArt, Berlin, präsentiert. Vgl. Die unendliche Geschichte. Originale von Sebastian Meschenmoser zum Klassiker von Michael Ende. Eine LesArt-Ausstellung. [Kat.]. Berlin: LesArt 2019. Die Außentitelabbildung dieses Bandes stellt einen Ausschnitt aus dem doppelseitige Bild S. 98–99 von Sebastian Meschenmoser dar.

2 Birgit Dankert: Michael Ende. Gefangen in Phantásien. Darmstadt: Lambert Schneider 2016.

3 Charlotte Roth: Die ganze Welt ist eine große Geschichte und wir spielen darin mit. Michael Ende ‒ Roman eines Lebens, München: Eisele, 2019.

4 Vgl. die folgenden Dissertationen: Etten, Jonas: Schreiben für „das Kind in uns allen“. Metafiktion und Kindheit bei Michael Ende und William Golding. Marburg: Tectum 2013 (Literatur – Kultur – Text; Bd. 11); Kröll, David: Rettungswege aus der Wirklichkeit? Perspektiven und Gefahren fantastischer Jugendliteratur. Marburg: Tectum 2009; Müller, Linda: Einmal Phantasien und zurück. Michael Endes Unendliche Geschichte – Hintergründe, literarische Einflüsse und Realitätsbezüge. Marburg: Tectum 2013 (Studien zu Literatur und Film der Gegenwart; Bd. 6). Unter den Einzelstudien zur Unendlichen Geschichte sind überragend Alain Montandon: L’histoire sans fin ou le miroir de la lecture. In A.M., Du récit merveilleux ou L’ailleurs de l’enfance. Le Petit Prince, Pinocchio, Le Magicien d’Oz, Peter Pan, E. T., L’Histoire sans fin. Paris : Éditions Imago 2001, 195–224; Martin Götze: Roman der Einbildungskraft. Zu Michael Endes ‚Unendlicher Geschichte‘. In: Literatur und Ästhetik. Texte von und für Heinz Gockel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 165–185. Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch Christine Lötschers Auseinandersetzung mit der Unendlichen Geschichte in ihrer Dissertation Das Zauberbuch als Denkfigur. Zürich: Chronos 2014.

5 Vgl. Volker Wehdeking: Hermann Hesse und Michael Ende als ,Crosswriter‘. Endes hochliterarische Ambitionen und beider weltweite Rezeption mit einem doppelten Adressaten. In: Licht aus dem Osten? Hermann Hesses transkulturelle Orientbezüge. Marburg: Tectum 2011, S. 237–293; Helga Müllnertisch: Die unbekannte Seite Michael Endes: zur Symbolik in der Geschichtensammlung „Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth“. Wetzlar: Phantastische Bibliothek, 2011; Björn Steiert: Das Spiel mit dem Leser. Michael Endes „Der Spiegel im Spiegel“ als offenes Kunstwerk aus wirkungsästhetischer Perspektive. Diss. Freiburg 2012 (online Ressource); Floriana Seifert: Michael Endes triadische Eschatologie. Der Spielverderber. Der Rattenfänger. Momo. [Diss. München 2019]. München: hockebooks 2019; Anna Braun: Vom Anfang der Konfabulation: Michael Endes Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth (1984). In: Stefan Neuhaus u. Petra Weber u. Mitarb. v. Anna Braun (Hg.): Anfangen und Aufhören. Paderborn: Fink 2019, S. 103–117.

6 Hans-Heino Ewers: Kritische Gefolgschaft. Michael Ende und die Romantik. In: Kinder- und Jugendliteratur-forschung 2014/2015. Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang Edition 2015, S. 69–85; ders.. Michael Ende neu entdecken. Was ‚Jim Knopf‘, ‚Momo‘ und ‚Die unendliche Geschichte‘ Erwachsenen zu sagen haben. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2018.

7 Volker Wehdeking: Michael Ende. Der Fantasy-Autor und seine Filme. München: Allitera 2019.

8 Klaus Briegleb u. Sigrid Weigel (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München u.a.: Hanser 1992 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; Bd. 12)

9 Ralf Schnell: Die Bundesrepublik. Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb. Stuttgart: Metzler 1986, S. 27.

Details

Seiten
386
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631828588
ISBN (ePUB)
9783631828595
ISBN (MOBI)
9783631828601
ISBN (Hardcover)
9783631813676
DOI
10.3726/b17232
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Fantastik Fantasy Kinderliteratur Jugendliteratur Übersetzung Musiktheater Oper Die Unendliche Geschichte Momo Rezeption
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 386 S., 33 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Hans-Heino Ewers (Band-Herausgeber:in)

Hans-Heino Ewers ist Professor für Germanistik/Literaturwissenschaft. Er war von 1989 bis 2014 Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung und von 2015 bis 2017 Seniorprofessor am Seminar für allgemeine Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Derzeit ist er Lehrbeauftragter an der LMU München und der HU Berlin.

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