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«Dunkle Kontinente» und onirische Schreibweisen

Bausteine für eine alternative Genealogie der Traumliteratur von Nodier bis Cixous

von Isabel Maurer Queipo (Autor:in)
©2021 Habilitationsschrift 440 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 37

Zusammenfassung

Die Literatur des 19. Jahrhunderts und die der historischen Avantgarde basieren auf einem traditionellen Gendercode, in dem in der Regel das weibliche Geschlecht als begehrtes Objekt männlicher (Wunsch)Träume und Phantasmen imaginiert und nur dem Mann die Rolle des Träumers zugewiesen wird. Dies ändert sich grundlegend erst ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der feministischen Bewegungen. Vor allem durch die kritische Relektüre der weiblichen Schreibweise (écriture féminine) als Variante der traumanalogen Schreibweise (écriture onirique) und des automatischen Schreibens (écriture automatique) bietet die Untersuchung eine alternative Traumgenealogie an.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Teil I
  • 1. Stand der Traumforschung
  • Der Schlaf und die Halbschlafbilder in den Literaturwissenschaften
  • Der Traum in den Literaturwissenschaften
  • Von der Stoff- und Motivgeschichte zur psychoanalytischen und kulturanthropologischen Literaturwissenschaft
  • Exkurs: Die Psychoanalyse
  • „Der Dichter und das Fantasieren“ (1908)
  • Die psychoanalytische Literaturwissenschaft
  • Kulturwissenschaftliche und -anthropologische Zugänge
  • 2. Einblicke in die klassische Traumliteratur
  • Der Schlaf in der Literatur
  • Der Traum in der Literatur und seine Funktionen
  • Einblicke in die klassische Traumliteratur von der Antike bis zur Romantik
  • Der Traum im Text – der Text als Traum im 19. Jahrhundert
  • Freud und die ‚postfreudianische‘ Traumliteratur
  • 3. Anmerkungen zum Traum als Machtinstrument
  • LE rêve n’existe pas – et LA femme non plus
  • ‚Echte‘ und ‚fiktive‘ Träume und ihr Machtpotenzial: Traumgeschichte als Geschichte der Macht
  • Träume, Deutungen und Deutungshoheit
  • Träume von Frauen aus der Feder des Mannes
  • Teil II
  • 4. Weiblichkeit als dunkler Kontinent
  • Das Böse ist weiblich
  • Exkurs: De claris mulieribus (Boccaccio 1374)
  • Die Frau als dunkler Kontinent, als Traum, Alp- und Wunschtraum
  • Das moralisch und ästhetisch Böse
  • Macht und Angst und Angst und Macht
  • Das 19. Jahrhundert
  • 5. Weiblichkeit im und als (Alp)Traum: die geträumte Frau
  • Die Omnipräsenz der (geträumten) Frau im 19. Jahrhundert
  • Die donne angelicate
  • Karyatiden und Engel
  • Die Frau als verklärter (Wunsch)Traum
  • Die todbringende Weiblichkeit: Tod, Nacht und Dunkelheit
  • Die Krankheiten
  • Die exotisierte und orientalisierte Frau
  • Isis
  • Die Mischwesen: Engel, Sirenen, Sphinx und Chimären
  • Nymphen/Nereiden/Wassernixen
  • La Vampiresse
  • Paradigma des Androgynen
  • Teil III: écriture onirique
  • 6. Charles Nodier: Smarra ou les démons de la nuit (1821)
  • Albtraumverschachtelungen und vampireske Weiblichkeit
  • Smarra
  • 7. Théophile Gautier: La morte amoureuse (1836)
  • 8. Théophile Gautier: Arria Marcella, souvenir de Pompéi (1852)
  • 9. Gérard de Nerval: Sylvie (1953)
  • „Le rêve d’un rêve“: l’amalgam des femmes réelles et rêvées
  • „Je sortais d’un théâtre“
  • VI. Othys zu Besuch bei der Tante und VII. Châalis
  • Teil IV: écriture automatique
  • 10. Der Surrealismus und die Fiktion der écriture automatique
  • Exkurs: Die paranoisch-kritische Methode Dalís als Dekonstruktion der écriture automatique
  • LA femme n’existe pas
  • 11. André Breton: Nadja (1928) zwischen écriture automatique und amour fou
  • Nadja und der konstruierte Traum
  • Weiblichkeitsimagines, Topoi und Mythen
  • Sphinx und Melusinen
  • Der Lektüreschaden Delcourts
  • Die Rückverwandlung von Nadja in Delcourt
  • „Alors que Nadja, la personne de Nadja est si loin…“ [151]
  • Die Eloge der ‚lebendigen‘ Frau?
  • Doppelfiguren im Zeichen des traditionellen Binarismus
  • Nadja, 1962
  • Der Lektüreschaden Bretons – eine wahre amour fou
  • Teil V: écriture féminine
  • 12. Weiblichkeiten und écritures féminines: die ‚träumende‘ Frau
  • Feminismus und écritures féminines als Zäsuren in der Epistemologie des Traums
  • Die écriture féminine, das Unbewusste und die Psychoanalyse
  • Gemeinsamkeiten: formal-ästhetische Charakteristika der écriture onirique und der écriture féminine
  • Motivation und Funktion: Hélène Cixous und die Notwendigkeit des Sich-Entwindens
  • Der Aus-Bruch: Notwendigkeit, Effekt und Rezeption der écritures féminines
  • „montrer nos sexes“: Subversion und Revision der traditionellen Topoi und Weiblichkeitsimagines
  • Schwangerschaft, Gebärmutter, Gebären, Brust und Säugen
  • Rezeption und Wertung: double bind
  • 13. Schlussbemerkung
  • 14. Literaturverzeichnis
  • 15. Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Escribir es un modo de soñar,
y uno tiene que tratar de soñar sinceramente. […]
Cuando yo escribo estoy soñando,
sé que estoy soñando,
pero trato de soñar sinceramente.

[Jorge Luis Borges]1

Zahlreiche (inter)nationale Ausstellungen, Publikationen, Kongresse, akademische Seminare und Ringvorlesungen zeugen von der auch im 21. Jahrhundert nicht nachlassenden wissenschaftlichen und populären Beschäftigung mit dem immer noch rätselhaften Traum und traumaffinen Aspekten wie der Fantastik, dem Unheimlichen, dem Okkulten und Monströsen.2 Ein breiteres Publikum ansprechende Anthologien und Textsammlungen auch im Internet3 erfassen verschiedenste Traumerzählungen der Weltliteratur, während sich in den letzten Jahren – nicht zuletzt aufgrund des hundertjährigen Jubiläums der Traumdeutung (1900) von Sigmund Freud – auch im Bereich der Forschungsliteratur wegweisende Studien, Kompendien und Sammelbände intensiv mit Traumtexten auseinandergesetzt und dabei mannigfache Themengebiete aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen wie Theologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie sowie Literatur- und Kulturwissenschaften in den Fokus gerückt ←11 | 12→haben. Die vorliegende Untersuchung leistet einen Diskussionsbeitrag zur epistemologischen und genderspezifischen Verortung der Traumliteratur in der französischen Literaturgeschichte vom 19.–21. Jahrhundert. (Teil I: Stand der Traumforschung, der Traum in den Literaturwissenschaften, Einblicke in die traditionelle Traumliteratur, Anmerkungen zum Traum als Machtinstrument)

Ausgehend von der These, dass die Literatur im Sinne des argentinischen Schriftstellers und Philosophen Jorge Luis Borges als „gelenkter Traum“ – als „sueño voluntario que se llama la creación artística“4 – gelesen werden kann, sollen prominente Texte der französischen Literatur der Romantik (Teil III: écriture onirique, Charles Nodier, Théophile Gautier, Gérard de Nerval), des Surrealismus (Teil IV: écriture automatique, André Breton) und der sogenannten écriture féminine (Teil V: v.a. Hélène Cixous,) in Hinblick auf die Traumepistemologie ihrer Epoche analysiert und untersucht werden, inwiefern sie als Diskurs prägend bzw. -begründend gelten. Hierbei geht es um den Versuch der Skizzierung einer alternativen Genealogie der Traumliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, die nach den Kontinuitäten, Diskontinuitäten, Brüchen und Umbrüchen der klassischen Traumdiskurse fragt. Als Arbeitshypothese der Untersuchung gilt der Befund, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts und der historischen Avantgarde auf einem binären Gendercode basiert, in der in der Regel das weibliche Geschlecht als begehrtes Objekt männlicher Träume und Phantasmen imaginiert und nur dem Mann die Rolle des Träumers und der Frau die des Alp- und (Wunsch)Traumobjekts zugewiesen wurde.5 Dies ändert sich grundlegend erst ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der feministischen Bewegungen.

Die vorliegende Studie möchte auf die Absenz der Träumenden hinweisen, die sich in den Medien, Künsten und literarischen Texten, in den Wissenschaften und in der Forschungsliteratur manifestiert. Denn obwohl jeder Mensch träumt, ←12 | 13→zeigt sich der irritierende Befund, dass nur der Mann (als Künstler und Schriftsteller) zu träumen schien und die Frau lediglich (als Traumsujet) erträumt wurde. Diese literarischen und medialen Diskurse über weibliche Traumfiguren strahlen wirkungsmächtig auf die alltägliche Genderordnung zurück, weshalb sich eine genderspezifische Problematisierung der binären Geschlechterkonstitution des traditionellen Traumdiskurses und eine kritische Perspektivierung anbietet. Der Platz der weiblichen Träumer in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts markiert damit, epistemologisch betrachtet, eine Leerstelle. Nur vereinzelte Ansätze eines weiblichen Traumdiskurses finden ihren Eingang in die primär männlich dominierten Episteme der Traumliteratur dieser Epochen. Zu nennen wären im 19. Jahrhundert bspw. Rachilde und George Sand als Ausnahmefiguren eines weiblichen Traumdiskurses, der damit scheinbar nur geringe epistemologische Relevanz aufweist, was sicherlich noch zu verifizieren wäre.

Der Traum, der als anthropologisches Phänomen Allgemeingültigkeit, Neutralität und Ubiquität suggeriert, erweist sich somit als genderspezifische Falle, die bisher in der Sekundärliteratur erstaunlicherweise so gut wie nicht beachtet worden ist. Diese Lücke in der aktuellen kultur- und literaturwissenschaftlichen Traumforschung gilt es im Folgenden zu schließen.

Die Geschichte des (künstlerischen) Traums – vor allem im 19. Jahrhundert – entlarvt sich als Geschichte männlicher Wunschträume und Selbstinszenierungen, weshalb der psychoanalytische Aspekt eine weitaus größere Rolle spielt als bisher angenommen. Denn obwohl sich das Kunstwerk als (bewusst) gelenkter Traum entpuppt, bleibt es doch immer auch Ausdruck des unbewussten Dichter-Ichs und seiner inneren Welten. Die von extremen Dichotomien geprägte Epoche bringt anhand von Entwürfen fragmentierter und zersplitterter Frauenkörper zudem die Zerrissenheit und Doppelung des Menschen, d.h. auch die des (männlichen) Schriftstellers zum Ausdruck.6

Im Folgenden werden daher Theoreme der Traumepistemologie – wie a) der rätselhafte (Alp-)Traum, b) das tiefgründige Seelenleben des männlichen Genies und seiner (un)bewussten ‚Ichs‘ und c) die von Sigmund Freud explizit als ‚dark continent‘ bezeichnete und damit ebenfalls als ominös stigmatisierte ←13 | 14→Weiblichkeit als (Alp-)Traumsujet – erstmals zusammengedacht. Diese drei Konstrukte der ‚dunklen Kontinente‘ und die jeweils damit gekoppelten subversiven écritures (die onirische, die automatische und die weibliche) sollen auf der Basis literarischer Beispiele einer vergleichenden Lektüre unterzogen werden. Inwiefern sich die Schreibweisen ähneln und/oder unterscheiden, ist ein weiteres Ziel der vorliegenden Studie.

Jede beängstigende und gleichzeitig faszinierende dunkle Seite will im Sinne der freudschen Theoreme ausgeleuchtet, jeder dunkle Kontinent erforscht, jedes Unerklärliche gelöst werden. Dabei hat sich die (Ver-) Bannung des Traums, des Weiblichen und des Unbewussten durch Poetisierung im Kunstwerk als eine besonders effektive Möglichkeit erwiesen, dem Rätsel zu begegnen.

Diese ‚Zähmung‘ findet mit der Kreation multipler weiblicher Wesen zwischen Heiliger und Hure im künstlichen Traum statt, der die binären Codes unterfüttert und gleichzeitig das Spannungsgefüge des gespaltenen Mannes zwischen Faszination und Angst, zwischen Genie und Wahn, zwischen Tabu und Transgression freilegt, wie anhand der ausgewählten französischen Autoren der Romantik und der Avantgarde paradigmatisch veranschaulicht werden soll. (Teil II: Weiblichkeit als dunkler Kontinent und als Alp- und Wunschtraum bei Nodier, Gautier, Nerval).

Die Faszination für die genannten Aspekte, v.a. aber das Fehlen einer kritischen Betrachtung der weiblichen Seite, die Problematik einer normativen Traumgeschichte und die Aufdeckung des genderspezifischen Ungleichgewichts motiviert somit die vorliegende kulturwissenschaftliche, literaturepistemologisch und genderspezifisch7 ausgerichtete Arbeit, die auf die Erforschung der literarischen Inszenierungsformen des (Alp-)Traums und der Weiblichkeit bzw. der Weiblichkeit als Alp- aber auch als Wunschtraum abzielt.

Es wurde zudem eine interdisziplinäre Perspektive gewählt, die auch ikonografische Beispiele mit einbindet und die Kontinuitäten, aber auch die Brüche innerhalb der Kulturgeschichte des gerade in der heutigen technologischen Zeit auf der Suche nach Rückbesinnung und neuer Spiritualität wieder so brisanten und bedeutsamen Themas fokussiert.

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Teil I

1. Stand der Traumforschung

2. Einblicke in die traditionelle Traumliteratur

3. Anmerkungen zum Traum als Machtinstrument

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1. Stand der Traumforschung

Abbildung 1:Byram Shaw: Illustration for Edgar Allan Poe’s William Wilson, 1909

Es ist mittlerweile ein schier unmögliches Unterfangen geworden, die aktuelle Forschungsliteratur zum Traum zu erfassen. Im Folgenden sollen daher nur einige wenige Tendenzen aufgezeigt werden,1 um einen Einblick in die Bedeutung und den Reiz des Traums und des damit zusammenhängenden Schlafs für die Wissenschaften und Künste zu erhalten, v.a. jedoch, um die fehlende genderspezifische Perspektive, die die Revision des traditionellen Traumdiskurses verlangt, zu verdeutlichen. Wenn man den Schlaf und den Traum im Allgemeinen betrachtet, so stellt man schnell fest, dass neben der Freude an ihren künstlerischen Darstellungen seit Menschengedenken auch theoretisch über den Traum verhandelt wurde und dass sich Wissens- und Traumdiskurse gegenseitig bedingen. Dass das sogenannte Traumwissen, die Traumepisteme sich primär aus einer patriarchalisch geprägten Epistemologie speisen, ist bisher jedoch nicht genügend beachtet worden.

Vorweg sei auf einige Dichter verwiesen, die den Spagat zwischen Kunst und Wissenschaften vollzogen und sich dabei mit dem vielfältigen Zusammenspiel von Traum, Psyche und Seele beschäftigt haben. Heraklit (550–480 v.Chr.) hatte sich u.a. mit der Bedeutung des individuellen Gedächtnisses für den Traum befasst, Demokrit (460–370) mit der Abhängigkeit der Träume von der Wahrnehmung und ihrer Reproduktion. Auf die traumspezifischen Studien von Platon (427–347) und Aristoteles (384–322) konnten sich wiederum Naturwissenschaftler, Philosophen und Kirchenväter wie Augustinus (354–430), Albertus Magnus (1200–1280), Arnaldo de Villanueva (ca. 1238–1311) und Safadi (14. Jahrhundert) berufen. Hervorzuheben sei vor allem Aristoteles, der bekannterweise eine der zum Teil bis heute geltenden Traumtheorien geliefert hat, deren Bedeutung u.a. Sigmund Freud in seiner Einleitung zur Traumdeutung (1900) ←17 | 18→prominent bestätigt. In den aristotelischen Traumstudien wurde der Traum als das Seelenleben während des Schlafs präsentiert und damit bereits früh zum Gegenstand der Psychologie erklärt.

Der Traum entstamme keiner übernatürlichen Offenbarung, sondern folge aus den Gesetzen des menschlichen Geistes, der allerdings noch mit der Gottheit verwandt sei. Aristoteles war zudem der erste, der Beobachtungen über die raschen Augenbewegungen während des Schlafs festgehalten und damit die Grundlage für die 1953 von Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitman entdeckte, sogenannte REM-Phase (Rapid-Eye-Movements) und allgemein für die physiologische Schlafforschung geschaffen hatte. Diese Entdeckung rückte die zuvor dominierenden Thesen des psychisch ‚sinnvollen‘ Traums in den Hintergrund. Die Debatte um den Sinn des Träumens und der Träume konnte im Übrigen bis heute nicht zufriedenstellend gelöst werden.

Zu den psychoanalytisch und traumspezifisch relevanten Vordenkern mit verschiedenen Gewichtungen zählen dann Diskurs prägend René Descartes (1596–1650), der bekanntlich durch die gedankliche Autonomiebezeugung des Menschen und die damit einhergehende Ablösung des scholastischen und dualistischen Weltbildes die kartesianische Wende eingeleitet und den Traum folglich diskeditiert hatte. Diese Wende gilt als eine der bedeutenden Zäsuren in der Geschichte des Traumdiskurses.

Die seit der Aufklärung von George Berkeley (1685–1735), Immanuel Kant (1724–1804), Carl Gustav Carus (1789–1869), Johann Friedrich Herbart (1776–1841) Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) aufgestellten Thesen und Theorien wurden dann schließlich von Freud in seiner Traumdeutung gebündelt, in deren Einleitung er eine instruktive „Übersicht über die Leistungen früherer Autoren sowie über den gegenwärtigen Stand der Traumprobleme in der Wissenschaft“2 lieferte. Er beruft sich dabei vor allem auf die für Psychoanalyse und Traumdiskurs relevanten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, in dem sich der Traum bekanntlich als beliebtes Hauptmotiv in der Literatur und den Künsten und als eigenständiges Forschungsgebiet (in Bezug auf Physis und Psyche) etablieren konnte. Zu beachten seien nun in diesem Kontext die darin angeführten Weiblichkeitsimagines [vgl. auch Kap. „Weiblichkeit als dunkler Kontinent“/„Weiblichkeit als Alp- und Wunschtraum“]. Aus diesem Grund erweisen sich die hier ausgewählten Werke aus jener Epoche als besonders ertragreich.

Aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Traumdeutung erschien der von Brigitte Boothe herausgegebene Band Der Traum – 100 Jahre nach Freuds ←18 | 19→Traumdeutung (2000), der aus historischer, medizinischer und literarischer Sicht die beiden immer noch rätselhaften und längst nicht in ihrer Gänze und nur marginal vonseiten der Genderstudies erforschten Phänomene des Schlafs und des Traums in den Fokus gerückt hat. Die multiperspektivisch ausgerichtete Studie verweist auf den angesprochenen hohen Grad an Interdisziplinarität und Intermedialität der beiden Erscheinungen hin.

Auch die Literaturwissenschaft hat sich seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert verschiedentlich mit Schlaf und Traum beschäftigt, ohne jedoch die zentrale Bedeutung der epistemologischen und genderspezifischen Verortung der Traumliteratur in der französischen Literaturgeschichte vom 19.–21. Jahrhundert zu diskutieren.

Der Schlaf und die Halbschlafbilder in den Literaturwissenschaften

Da der Schlaf als Voraussetzung des ‚nächtlichen‘ Traums vorwiegend im Bereich der Medizin, der Psychiatrie und der Biologie verortet wird, finden sich in den Literaturwissenschaften bisher nur wenige Studien zum Schlaf. Die einschlägigen Studien kommen meist aus dem Bereich der kultur- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft und reagieren auf die Krisensituation einer immer stärker werdenden ‚schlaflosen Gesellschaft‘. Vor allem in jüngster Zeit häufen sich in Primärtexten die Darstellungen von Phänomenen des Somnambulismus und der Insomnie, die der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation der Schlafstörungen und des Schlafentzugs Rechnung tragen und in der Folge den Schlaf auch zum Thema der Literaturwissenschaften macht.

Die Beiträge in dem Heft der Neuen Rundschau „Über den Schlaf“3 nähern sich beispielsweise dem Schlaf aus unterschiedlichen Perspektiven und fokussieren seine Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und körperlichen Zustände (Liebe, Nachbar- und Partnerschaft, die Angst vor der Schlaflosigkeit, Arzneimittelmissbrauch, etc.). László F. Földényi etwa betrachtet den ‚Schlaf als nächtliches Wunder‘, Dorothea Dieckmann widmet sich dem ‚geraubten Schlaf‘ bei Anton P. Tschechow und Joachim Kalka präsentiert eine ‚Poetik des Halbschlafs‘.4 Dieses etwas häufiger in der Literatur auftretende Phänomen erweist sich ebenfalls als fruchtbares Thema für die Literaturwissenschaft ←19 | 20→und wurde jüngst von Helmut Pfotenhauer und Sabine Schneiders in ihrem Sammelband Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum: Die Halbschlafbilder in der Literatur (2006) anschaulich in den Mittelpunkt gerückt. Diese Halbschlafbilder und ihr Verhältnis zu den Diskursen des Imaginären werden hier an den Schnittstellen von Literatur, Philosophie und Wahrnehmungspsychologie intensiv diskutiert.

Die merkwürdigen und faszinierenden Halbschlafbilder weisen eine für die Literaturwissenschaft besonders interessante Nähe zur Gedankenverlorenheit, zur Tagträumerei, zur rêverie auf, wie sie etwa Jean-Jacques Rousseau in seinen Les Rêveries du promeneur solitaire bereits 1782 prominent vorführte und von Nerval in Sylvie (Kap. Sylvie) aufgenommen wurde. Sie rekurrierten auf eine Ästhetik der Imagination bei Aristoteles und Goethe, bei Edgar Allan Poe, Marcel Proust, Franz Kafka und Jorge Luis Borges, die sich auch in Bezug auf die Traumliteratur hervorgetan haben. Poe spricht bspw. in seinen „Marginalia“ (1846) von so genannten ‚fancies‘, als traumähnliche, nicht in Worte zu fassende, flüchtige Fantasieformen:

Details

Seiten
440
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631859056
ISBN (ePUB)
9783631859063
ISBN (MOBI)
9783631859070
ISBN (Hardcover)
9783631854129
DOI
10.3726/b18778
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Schlagworte
Alptraum Feminismus écriture féminine Surrealismus écriture automatique écriture onirique
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 440 S., 45 farb. Abb., 83 s/w Abb.

Biographische Angaben

Isabel Maurer Queipo (Autor:in)

Isabel Maurer Queipo (Dr. phil. habil.) ist Dozentin für Literatur, Kultur und Spanisch an der Universität Siegen, an der sie Wirtschafts- und romanische Literaturwissenschaften studierte. Ihre Forschungsfelder umfassen den Traum und seine Schreibweisen, die europäischen und lateinamerikanischen Ismen und Avantgarden, die Magie der Lektüre, den Humor und die Kulinarik in Literatur, Film und Malerei.

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Titel: «Dunkle Kontinente» und onirische Schreibweisen
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