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The Queen's Two Bodies

Maria Stuart und Elisabeth I. von Schiller bis Jelinek

von Elena Agazzi (Band-Herausgeber:in) Gesa Dane (Band-Herausgeber:in) Gaby Pailer (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 222 Seiten

Zusammenfassung

Der Band basiert auf den Beiträgen des Klassik-Kollegs »The Queen’s Two Bodies«, das im Juni 2018 an der Klassik-Stiftung-Weimar zwischen den drei Herausgeberinnen und In-stitutionen veranstaltet wurde: Elena Agazzi (Università degli Studi di Bergamo), Gesa Dane (Freie Universität Berlin) und Gaby Pailer (University of British Columbia, Vancouver).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • About the book
  • This eBook can be cited
  • Preface
  • Table of Contents
  • I. Friedrich Schillers Maria Stuart im Kontext
  • Historischer Rechtsfall und dramatischer Konflikt: Maria Stuart und Elisabeth I. in Trauerspielen von August Adolf von Haugwitz und Friedrich Schiller (Gesa Dane)
  • Die zwei Tode der Königin: Selbst- und Fremdbestimmtheit des Sterbens von Schillers Maria Stuart (Johanna Kurzke)
  • Maria Stuart: An Imperfect Victim (Helena Como)
  • Sophia Lees ‚Umschreibung‘ der Historiografie Maria Stuarts in ihrem Schauerroman The Recess (1783–1785) und deren mögliche ‚Fortschreibung‘ in Friedrich Schillers Maria Stuart (1801) (Patricia Milewski)
  • Der Machtkampf und die Schuld in den Dramen Maria Stuart von Schiller und Maria Stuart in Schottland von Ebner-Eschenbach. Ein Vergleich (Ilenia Foresti)
  • II. Variationen im 19. und 20. Jahrhundert
  • Variations of ‘Elizabeth’ from French Classicism to Hollywood Cinema (Gaby Pailer)
  • Frauenfiguren und Weiblichkeit im Spannungsumfeld zwischen Restauration und Vormärz in Charlotte Birch-Pfeiffers Elisabeth von England (Viviane Jasmin Meierdreeß)
  • Macht- und Liebesspiele: Geschlechterrollen in Marie von Ebner-Eschenbachs Maria Stuart in Schottland (Beatrice Schmid-Lossberg)
  • „Que suis-je hélas?“ – (Selbst-)Inszenierung in den Maria Stuart zugeschriebenen Gedichten (Lea Reiff)
  • “Was Ever Known A Fate More Sad Than Mine?” The Life of Mary Queen of Scots through her own Lyrical Production (Giovanna Gotti)
  • III. Transpositionen im 20. und 21. Jahrhundert
  • Von Jelineks experimenteller Adaption der Maria Stuart zu den früheren Bearbeitungen des historischen Stoffes im 20. Jahrhundert (Elena Agazzi)
  • Vertrauensbruch: Maria Stuart, Schiller und Zweig (Laura Isakov)
  • Eine Analyse der von Boris Pasternak verfassten Übersetzung von Schillers Maria Stuart (Paola Ferrandi)
  • Bloody Queens of the RAF: Jelinek’s Ulrike Maria Stuart and the Paradoxical Nature of Female Terrorists (Jennifer Heidebrecht)
  • Series index

Historischer Rechtsfall und dramatischer Konflikt: Maria Stuart und Elisabeth I. in Trauerspielen von August Adolf von Haugwitz und Friedrich Schiller

Gesa Dane

Abstract: The article explains the juridical implications of Friedrich Schiller’s Maria Stuart, in comparison with the historical law used in the process against her in the 16th century. It shows that Schiller, although he transcends the historical dimension of his topic in many respects carefully takes into account the juridical foundations of the process. Compared with an earlier tragedy on this topic by the 17th century author Haugwitz, it is evident, that both authors reject the catholic reading of Maria’s martyrdom from a protestant point of view.

Friedrich Schillers Trauerspiel Maria Stuart (1801) ist auch heute noch wirkungsmächtig, es prägt im deutschsprachigen Raum das Bild der beiden historischen Gegenspielerinnen, Elisabeth I. und Maria Stuart, bis in die Gegenwart hinein. Nicht selten werden die historischen Personen mit den literarischen Figuren Schillers gleichgesetzt. Die historischen, besonders die rechtshistorischen Realien, schwinden aus dem Blick ebenso wie die literarische Tradition, in die Schiller sich mit diesem Trauerspiel eingeschrieben hat. Sein Studium der historischen Quellen ist bekannt, und auch die Frage, unter welcher Perspektive er die Auseinandersetzung der protestantischen Elisabeth mit der katholischen Maria auf die Bühne bringt, ist vielfach diskutiert und mit Blick auch auf seine ästhetische Theorie gedeutet worden.

Er habe, so schreibt er an Johann Wolfgang von Goethe, den reichhaltigen Stoff „in historischer Hinsicht, auch etwas reicher behandelt und Motive aufgenommen, die den nachdenkenden und instruierten Leser freuen können“.1 Die Veränderungen, die Schiller vorgenommen hat, betreffen zum einen das Alter der Protagonistinnen, beide werden entschieden verjüngt. Anders als die historische Maria, die nicht um Gnade bat, plant die Maria in Schillers Trauerspiel genau dies. Bereits vor Schiller hatten Christian John Banks, François Tronchin und Christian Heinrich Spieß die beiden Antagonistinnen einander begegnen lassen, die Liebe Leicesters zu Maria findet sich ebenfalls bereits bei Tronchin. Zu Schillers Hinzufügungen gehört zweitens die Figur ←13 | 14→des Konvertiten Mortimer sowie die des Melvil. Die räumliche Nähe zwischen beiden Gegenspielerinnen ist, wie schon bei August Adolph von Haugwitz, der Einrichtung des Trauerspiels geschuldet. Historisch verbürgt sind aber die Zweifel und das Zögern der Königin, das Urteil zu unterschreiben.

Der historische Rechtsfall

Elisabeth I. gilt heute als eine der exzellenten Monarchinnen in der europäischen Geschichte,2 das Elisabethanische Zeitalter nennt man ihre mehr als vierzig Jahre währende Regierungszeit. Dass Elisabeth Tudor (1533–1603), Tochter von Anne Boylen und Heinrich VIII., überhaupt englische Königin werden würde, war nicht durchweg wahrscheinlich gewesen. Dies einmal wegen ihrer zeitweiligen „Bastardisierung“3 durch den eigenen Vater, dann wegen ihrer Position in der Thronfolge. Im Testament von Heinrich VIII. war sie an dritter Stelle als Thronerbin bestimmt worden, für den Fall, dass ihre beiden Halbgeschwister ohne Erben sterben würden. Sie bestieg im Jahre 1558 im Alter von 25 Jahren den englischen Thron, nachdem ihre Geschwister Edward VI. (1547–1553) und Mary I. (1516–1558) verstorben waren. Ihre Krönung erfolgte 1559.

Literarisch ist Elisabeth I. ohne ihre politische und konfessionelle Gegenspielerin, Maria Stuart von Schottland, nicht zu denken. Der historische Konflikt zwischen Elisabeth I. und Maria Stuart hatte dynastische und konfessionspolitische Implikationen. Gail Hart hat sie die „‚serial‘ ‚queen‘“4 genannt, weil sie wenige Tage nach ihrer Geburt Königin von Schottland geworden war und, als Ehefrau des Königs François II., bis zu dessen Tod 1560 auch Königin von Frankreich war. Den Anspruch auf den englischen Thron gab sie nie auf. Sie war sogar bereit, dafür ihren Glauben zu wechseln.5 Sie, die Katholikin, folgte dem Papst in der Nichtanerkennung der Scheidung der ersten Ehe von Heinrich VIII., damit war Elisabeth aus katholischer Perspektive von unehelicher Geburt. Ihre Herrschaft galt für Katholiken als illegitim. Elisabeth I. hatte ←14 | 15→durchaus Grund, die Ankunft der geflohenen Königin von Schottland in England im Jahre 1568 als Bedrohung anzusehen. Maria wurde festgesetzt, während der gesamten Zeit ihres Aufenthaltes sorgte Elisabeth für ihre materielle Subsistenz.6 Wenn sich Maria Stuart auf Weisung von Elisabeth I. während der nächsten fast zwanzig Jahre nicht frei bewegen konnte, sondern sich in verschiedenen Schlössern auf englischem Territorium aufhalten musste, so war diese Gefangenschaft auf die Sorge der protestantischen Königin um ihr eigenes Leben und damit um die konfessionelle Ausrichtung des Landes zurückzuführen. Die Überwachung schloss die Kontrolle der Korrespondenz ein. Die gewaltsamen Protestantenverfolgungen und die mit ihnen verbundenen Unruhen während der Regierung von ihrer Vorgängerin, Mary I., die nicht von ungefähr ‚bloody Mary‘ genannt wurde, waren noch sehr präsent. Zudem hatte im Jahre 1570, nicht lange nach der Ankunft Maria Stuarts in England, Papst Pius V. den Bann über Elisabeth I. ausgesprochen. Dieser Bann bedeutete, dass für Katholiken keine der englischen Königin geleisteten Eide mehr bindend waren. Jeden, der der Königin dennoch Gehorsam leistete, traf dieser Bann gleichfalls. Ein Bann schloss den Gebannten aus der kirchlichen Gemeinschaft aus, war zwar nicht direkt gegen das Leben des Gebannten gerichtet,7 aber er zielte in diesem Fall mittelbar auch auf die körperliche Integrität der Königin und auf die Unterminierung ihrer Herrschaft. Diese wenigen religions- bzw. konfessionspolitischen Fakten zeigen: Maria konnte sich in ihrem Verhalten gegenüber Elisabeth legitimiert sehen, und dies von der höchsten für sie geltenden Instanz, vom Papst. Ein Unrechtsgefühl musste Maria also nicht haben, wenn sie versuchte, auch von den bewachten Anlagen aus, Bündnisse gegen Elisabeth zu schmieden, mit dem Ziel, an ihrer Stelle Königin von England zu werden und dabei Elisabeths Tod zumindest billigend in Kauf nehmend.8 Zahlreiche Verschwörungen gegen Elisabeth I. wurden aufgedeckt. Zu ihrem Schutz wurde 1584 ein Eidbund gebildet, in dem sich englische Protestanten ←15 | 16→zusammenschlossen und verpflichteten, „im Fall der Ermordung der Königin mit Gut und Blut nicht nur die des Mordes Schuldigen, sondern auch die Person bis zum Tode zu verfolgen, zu deren Gunsten die Tat unternommen worden war.“9 Das Parlament erließ ein Gesetz zum Schutz der Königin, in dem die wesentlichen Bestimmungen des Eidbundes sich versammelt fanden.

In Schottland wurde Maria Stuart die Mitwisserschaft an der Tötung ihres zweiten Ehemannes vorgeworfen. In England klagte man sie wegen Verschwörung und Hochverrats an. Sie wurde bekanntlich verurteilt und hingerichtet. Rechtshistoriker gehen heute davon aus, dass Maria die ihr vorgeworfenen Taten tatsächlich begangen hat, sie war nachweislich an vier Verschwörungen beteiligt. Der Prozess gegen sie konnte auf eine Reihe von Präzedenzfälle zurückgreifen, wie es in der britischen Rechtsordnung schon im 16. Jahrhundert vorgesehen war. So kann nicht von einer „falschen Anklage“10 gegen die historische Maria Stuart gesprochen werden. Juristisch lag zweifellos ein komplexer Sachverhalt vor, nicht zuletzt weil noch nie zuvor in England ein gesalbter Monarch zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Man behalf sich mit dem Argument, dass sie durch ihre Flucht aus Schottland bereits abgedankt habe und es zum Zeitpunkt des Prozesses einen anderen Monarchen gab. Es gab aber auch Stimmen, nach denen ein Mord an ihr im Stillen vorzuziehen sei.11

Von der Erhebung der Anklage bis zur Vollstreckung des Urteils vergingen fast vier Monate. Diese Zeitspanne ist den Zweifeln von Elisabeth I. zuzurechnen und ihrem Zögern, die nötige Unterschrift zu leisten. Maria Stuart erfuhr am 7. Februar 1587, dass sie am folgenden Tag hingerichtet werden sollte. Der Prozess gegen sie war bereits am 11. Oktober des Vorjahres in Fotheringhay, etwa 160 Kilometer nördlich von London gelegen, begonnen worden. Die Angeklagte erkannte, ihrem Selbstverständnis nach als Königin von Schottland, das englische Gericht nicht an. Gleichwohl erschien sie nach der dritten Vorladung am 14. Oktober vor der Versammlung. Sie leugnete alles, was man ihr vorwarf und wies sie belastende Zeugenaussagen als unglaubwürdig zurück. In Westminster wurde dann neun Tage später, am 25. Oktober 1586, das Urteil gefällt: Wegen Verschwörung mit dem Ziel, die Königin Elisabeth zu ermorden, wurde Maria Stuart zum Tode verurteilt. Bereits vier Tage später, am 29. Oktober 1586, erhielt das Urteil die erforderliche Bestätigung von beiden Kammern des Parlaments. Es erging die Aufforderung, das Urteil solle unmittelbar veröffentlicht werden. Elisabeth wusste um die Brisanz des Ausgangs des nach den zeitgenössischen Vorgaben korrekten Verfahrens. Sie richtete eine Anfrage an das Parlament, ob es nicht Wege gäbe, das Leben ←16 | 17→von Maria zu schonen und ihr eigenes zu schützen – das Parlament wusste hier keine Lösung. Am 2. 12. erfolgte die Veröffentlichung, es heißt, das Volk in London habe gejubelt.12 Elisabeth hatte zuvor veranlasst, dass Maria von dem Urteil Kenntnis erhielt, damit sie sich auf den Tod vorbereiten konnte. Maria Stuart lehnte es ab, um Gnade zu bitten. Elisabeth I. zögerte mit ihrer Unterschrift. Diese Vorsicht, ihre vorgesehene Rolle im Verfahren der Urteilsvollstreckung bei der Hinrichtung wahrzunehmen, ist der politischen Klugheit der Königin zuzuschreiben. Nicht nur fürchtete sie, das Blut der verwandten Königin an den Händen zu haben. Sie hatte ebenso in Erwägung zu ziehen, dass die politischen Folgen der Vollstreckung des Urteils wegen einer möglichen katholischen Allianz zwischen Schottland und Frankreich auch militärisch gefährlich werden könnte. Zudem musste sie auch in Betracht ziehen, wie die katholische Minderheit des Landes reagieren würde.13 Nachdem aber im Januar 1587 eine erneute Verschwörung gegen sie aufgedeckt worden war, geriet Elisabeth I. zunehmend unter Druck auch des protestantischen Adels und konnte nicht länger warten. Sie unterschrieb den Vollstreckungsbefehl und bat den Staatsrat William Davison um Hilfe, einen Ausweg zu finden, wie und ob die erforderliche Siegelung erfolgen sollte. Bis heute ist offen, „ob es Elisabeths Wille gewesen war, dass der Vollstreckungsbefehl sofort gesiegelt werde oder ob sie vielleicht noch eine Frist verstreichen lassen wollte“.14 Davison holte sich die Zustimmung vom Staatsrat zur Siegelung ein und anschließend wurde der Vollstreckungsbefehl abgeschickt. Damit waren alle einschlägigen Vorgaben der Prozessordnung erfüllt.

Maria Stuart war zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung 44 Jahre alt, sie war korpulent geworden, von Rheuma gezeichnet und konnte sich nur noch unter Mühen fortbewegen.15 Einen katholischen Seelsorger stellte man ihr nicht zur Seite, den protestantischen Geistlichen erkannte sie nicht an. Das gesamte Ritual einer Hinrichtung wurde vollzogen, vom Einzug der Verurteilten, über eine geistliche Ansprache bis hin zur Entkleidung. Lediglich mit einem weinroten Unterkleid bekleidet, dessen Farbe sie eigens ausgesucht hatte, weil auf ihm das Blut nicht zu sehen sein würde, kniete sie nieder. Sie wurde nicht mit dem Schwert, sondern mit einer Axt geköpft. Erst der dritte Axthieb trennte Kopf und Körper endgültig voneinander. Als der Scharfrichter den Kopf bei den Haaren ergriff, um ihn den Anwesenden zu präsentieren, hielt er nur eine Perücke in der Hand, der Kopf fiel auf den Boden. Maria Stuart war längst ergraut.←17 | 18→

Der Konflikt zwischen Maria Stuart und Elisabeth hatte ein Nachleben schon in der zeitgenössischen Literatur, das freilich bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht.16 Für die deutschsprachige Literatur sind vor Schiller mehr als fünfzig Trauerspiele nachgewiesen worden. Im 16. und 17. Jahrhundert haben der Konflikt und sein tödlicher Ausgang geradezu dazu eingeladen, im Zeichen der Gegenreformation aus Maria Stuart eine Märtyrerin zu machen, die in der Nachfolge Christi um des Glaubens willen sterben musste. Elisabeth I. wurde hier zur Negativfigur, zur tyrannischen Verfolgerin. Bei einer solchen Deutung gerieten die Maria Stuart zur Last gelegten Verbrechen in den Hintergrund. Auch später noch wurden Fragen von Schuld und Unschuld weniger aus juristischer als vielmehr aus moralischer und religiöser Perspektive verhandelt. So etwa in dem Trauerspiel Marie Stuart (1784) von Christian Heinrich Spiess,17 in dem die politisch-konfessionelle Dimension des Konflikts zwischen beiden Königinnen in den Hintergrund tritt, um Marias Beteiligung am Gattenmord zu thematisieren.

Aufschlussreich ist ein Vergleich zwischen Schillers Trauerspiel und einem Barockdrama, August Adolf von Haugwitz’ Schuldige Unschuld oder Maria Stuarda. Königin von Schottland (1683). Beide nehmen im politisch-konfessionellen Konflikt zwischen Elisabeth I. und Maria Stuart eine dezidiert protestantische Perspektive ein und wählen die Zeitspanne zwischen Urteilsverkündung und Hinrichtung. Der Prozess selbst gehört dagegen zur Vorgeschichte der Bühnenhandlung und wird als solche ins Spiel gebracht.

Zweifel als prudentia: August Adolph von Haugwitz: Schuldige Unschuld oder Maria Stuarda. Königin von Schottland (1683)

Haugwitz wird in der Literaturgeschichte neben Daniel Casper von Lohenstein und Johann Christian Hallmann als der dritte schlesische Dramatiker des ausgehenden 17. Jahrhunderts genannt. Er gilt als protestantischer Dichter mit einer dezidiert „antihöfischen Haltung […], der die Welt aus der Perspektive ←18 | 19→des gebildeten Landadligen betrachtet.“18 Der Dresdner Hof, dem er unterstand, war katholisch geprägt. Wie Lohenstein und Andreas Gryphius lebte er als protestantischer Autor in einem katholischen, durch die Gegenreformation religiös und politisch bestimmten Machtbereich. Diese Stellung prägte auch seine Trauerspiele. Hier liegt auch der Grund dafür, dass seine Maria Stuarda an Gryphius‘ Märtyrertragödie Catharina von Georgien orientiert ist – bis hin zu direkten Zitaten und Paraphrasen.19 Darüber hinaus teilt er mit Lohenstein die argute Darstellungsweise. Argutia, argutezza, also Scharf- oder Mehrsinnigkeit, war zu einem der wichtigsten Aspekte spätbarocker Poetiken geworden. Sie bot sich als Verhaltensmaxime gerade in einer durch Religionsgegensätze geprägten Welt an, in der es galt, politische Klugheit (prudentia) zu üben.20 Die eigene Position musste, je nach Umständen und Gesprächspartnern, camoufliert werden, doch so, dass sie für Wissende unzweideutig war. Dementsprechend sollte das (Lese-)Publikum eines barocken Trauerspiels seine Schlussfolgerungen im Hinblick auf politische und moralische Fragen selber ziehen, auch wenn sie im Text präformiert waren.

Wenn man diese Haltung der prudentia nicht in Rechnung stellt, wird man einer bedeutenden Dimension von Haugwitz’ Trauerspiel nicht gerecht. Im Widmungsgedicht an den Historiker Erasmus Francisci lobt er dessen Vergegenwärtigung des Konflikts zwischen Elisabeth I. und Maria Stuart, besonders mit Blick auf dessen Darstellung der Maria.21 Seine eigene verdiene es „belacht zuwerden“22, was freilich nur eine scheinbare Betätigung von Francisci und ein Bescheidenheitstopos ist. Denn tatsächlich ist seine Dramatisierung des Stoffs nichts anderes als eine Kontrafaktur von Franciscis Darstellung. Dieser charakterisiert beide Protagonistinnen als von „Relgions = Hass“23 bestimmt. ←19 | 20→In Marias zu großen „Religions = Eyfer“24 und ihrer „Ehrsucht“25 sieht er den Grund für ihre Verurteilung und ihren Tod. Marias Ehen in Schottland werden weitläufig geschildert, Elisabeths „sorgfältige Zweifel“26 erfahren eine positive Würdigung. Haugwitz folgt der negativen Charakterisierung Marias durch Francisci nicht, u. a. indem er deren Vorleben in Schottland weitgehend ausblendet. In dem Maße, wie er durch die intertextuellen Bezüge auf Gryphius eine Verbindung zur Märtyrertragödie aufmacht, dementiert das Widmungsgedicht eben diese. Auch der Titel des Trauerspiels Schuldige Unschuld verdankt sich dem ‚arguten Verfahren‘ von Haugwitz.

Dass das Trauerspiel lediglich an das Modell der Märtyrertragödie angelehnt ist, belegt auch die Begründung des Todesurteils, es heißt Maria habe „das Recht […] gebrochen“ (V, V. 173), von ihrem Glauben, dessentwegen Märtyrer zu sterben gewillt sind, ist nicht die Rede. Als entscheidende Beweise für Marias Schuld dienen die Aussagen von deren Sekretären. Haugwitz’ Trauerspiel eröffnet auch einen anderen Blick auf Elisabeth I., die nicht mehr als affektbesessene Tyrannin erscheint.

Auch die antithetische Struktur von Haugwitz’ Trauerspiel und die Art, wie die Reyen das Geschehen reflektieren, entsprechen dem arguten Verfahren. So steht in der ersten und dritten Abhandlung Elisabeths Hof mit den Machenschaften der Höflinge im Zentrum des Geschehens, in der zweiten und vierten Abhandlung dagegen Maria mitsamt ihren Vertrauten. In jeder Abhandlung erfolgt aber ein Perspektivwechsel zwischen den Welten der beiden Königinnen. Die letzte Abhandlung dann zeigt beide Königinnen, freilich nacheinander. Im Anschluss an die ersten vier Abhandlungen findet sich ein Reyen verschiedener allegorischer Figuren, die jeweils das Geschehen kommentieren.

Die erste Abhandlung setzt mit einer Erörterung im Thronrat der Elisabeth über Maria Stuart ein, in deren Verlauf die Königin Elisabeth Maria Stuart verteidigt, während die Räte auf die von dieser ausgehenden Gefahren hinweisen. Elisabeth tritt hier als staatskluge und deshalb zögernde Herrscherin auf, die Argumenten mit Gegenargumenten begegnet. Dies lediglich als „Schein und Maske“27 oder Heuchelei28 zu lesen, weil sie schließlich, nach langem Zögern, das Urteil unterschreibt und dies auch begründet, bedeutet, die argute Dimension der Trauerspiels auszublenden und stattdessen entschieden zu psychologisieren, was Teil der politischen Klugheit ist. Elisabeths Zögern ist ein Zeichen ←20 | 21→der prudentia der Königin, die hier die Sache des Protestantismus verteidigt und dabei zugleich das gesamte Staatswesen im Blick haben muss, das auch von der körperlichen Integrität ihrer Person abhängt. Sie entscheidet sich am Ende der ersten Szene zur Unterschrift unter das Urteil, die freilich erst später, in der dritten Abhandlung, ausgeführt wird. Ganz unzweideutig kommentiert sie, was ihr abverlangt wird:

Hat wohl die grosse Welt was grausamers geschaut /
Als diese That wird seyn? soll ich mit Blutvergiessen
Bestützen Thron und Reich? O grausames entschliessen!
Ja grausam / doch gerecht: Ich führe ja das Schwerdt
Nicht blos zum Scheine nur vor Staat / vor Kirch und Heerd.
Doch wie? soll dieses mir auch wider Fürsten nützen
Warumb nicht? wann man sich nicht anders kan beschützen.
[…]
Und wenn ich länger noch dem Rasen solt zusehn /
So wär’ es umb die Kirch’ / umb Mich und Reich geschehn.
[…]
Drumb waffne dich / mein Hertz! wilt du nicht selber schneiden
Must du in kurtzem selbst deß andern schneiden leiden.
Sie sterbe denn: Es sey! Ich schliesse ihren Todt:
Weil es erheischt deß Reichs / deß Leibs und Seelen Noth. (I, V. 285–310.)

Die zweifache Wiederholung von ‚grausam‘, die in der Formel ‚grausam doch gerecht‘ kulminiert, macht Elisabeths tragischen Konflikt deutlich, der sie in jedem Fall schuldig werden lässt. Sie entscheidet im Interesse des Staates und der Konfession, für sie selbst hat ihre Entscheidung zur Folge, dass sie die Verantwortung für das Unabwendbare zu tragen hat. Im Anschluss an diesen Entscheidungsmonolog verteidigt sie das Vorgehen gegen Maria einem französischen Gesandten gegenüber. Der Kommentar des anschließenden Reyen, nimmt seinen Ausgang bei der Frage, ob ein Weib regieren könne, es folgt eine Aufzählung der traditionellen Vorbehalte gegenüber der Verkehrung der Geschlechterrollen, die sich über die ersten drei Verse hinziehen, im vierten dann erfolgt eine Veränderung, wenn auf mächtige Frauen der antiken Mythologie vergleichend hingewiesen wird, auf die Amazonen und auf Semiramis, Elisabeth wird „Brittens Pallas“ (I, V. 443) genannt, „gefürcht bey ihren Feinden / Beliebt bey Unterthan und Freunden“ (I, V. 446f), der Himmel wache über sie und mache, dass „ihr tückscher Feind ihr muß zum Füssen liegen“ (I, V. 454). Das kann im Rahmen der Trauerspielhandlung auch auf Maria Stuart zielen. In der Schlussfolgerung des letzten Verses heißt es dann u.a.: „Offt hat der Himmel durch die Weiber / Und durch die allerschwächsten Leiber / Mehr ausgerichtet und gethan // Als durch den allerstärcksten Mann“ (I, V. 457–460).

Literarisch legitimiert wird durch den ersten Teil der Exposition des Trauerspiels nichts weniger als die politische Herrschaft einer Königin.←21 | 22→

Details

Seiten
222
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783034343794
ISBN (ePUB)
9783034343800
ISBN (MOBI)
9783034343817
ISBN (Paperback)
9783034343220
DOI
10.3726/b18587
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Jelinek’s Maria Stuart Liebesspiele Machtspiele Weiblichkeit Frauenfiguren Elizabeth of England Maria Stuart Schillers Maria Stuart Klassik-Kolleg
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 222 S.

Biographische Angaben

Elena Agazzi (Band-Herausgeber:in) Gesa Dane (Band-Herausgeber:in) Gaby Pailer (Band-Herausgeber:in)

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Titel: The Queen's Two Bodies
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