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Zwei Aufstände

Die Schlacht um Lemberg 1918

von Damian Markowski (Autor:in)
©2021 Monographie 456 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch ist dem polnisch-ukrainischen Konflikt um Lemberg gewidmet. Im Herbst 1918 wurde klar, dass es in den ethnisch gemischten polnisch-ukrainischen Gebieten zu einer Konfrontation zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen kommen würde. Beide Nationen wollten die strittigen Territorien in ihre eigenen Staaten eingliedern.
Am 1. November 1918 unternahmen ukrainische Aufständische eine erfolgreiche militärische und politische Erhebung. Lemberg wurde fast ohne Blutvergießen besetzt. Einige Stunden nach dem ukrainischen Staatsstreich machten sich polnische Untergrundorganisationen zu einem Gegenangriff auf. Bereits nach einigen Tagen war die Stadt durch eine reguläre Frontlinie geteilt. Die Kämpfe endeten am Morgen des 22. November mit dem Rückzug der ukrainischen Truppen und einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1 Bevor die Schüsse fielen
  • Wie soll man eine unabhängige Ukraine erkämpfen?
  • Die Vorbereitungen des Ukrainischen Militärkomitees
  • Lemberg für Polen erkämpfen
  • Kapitel 2 Zwei Aufstände
  • Der erste Tag
  • Der ukrainische Aufruhr
  • Das von der Wendung der Dinge geschockte Lemberg
  • Die Stadt erwacht aus ihrer Lethargie
  • Zweiter Tag
  • Die Aufständischen erobern Straße um Straße
  • Die Ukrainer verlieren die Initiative
  • Verhandeln oder kämpfen?
  • Dritter Tag
  • Die Polen setzen die Angriffe fort
  • Ein verlorener Wettlauf gegen die Zeit: Die Ankunft der USS-Legion
  • Kozielniki: die Thermopylen der „Jungadler“
  • Krise im ukrainischen Kommando
  • Die Lage in der Stadt während der ersten Tage der Kämpfe
  • Kapitel 3 Die „Jungadler“ auf der Siegesstraße (4.–9. November)
  • Vierter Tag
  • Der erste Angriff der ukrainischen Schützen auf die Bahnhöfe
  • Der ukrainische Generalangriff auf Lemberg
  • Fünfter Tag
  • Die „Jungadler“ parieren alle Angriffe
  • Die Verteidigung Lembergs festigt sich
  • Die ukrainischen Verstärkungen kommen nicht
  • Die Front in der Stadt
  • Sechster Tag
  • Atempause: der zweite Waffenstillstand
  • Neue Kämpfe
  • Siebter Tag
  • Der Zusammenbruch der ukrainischen Angriffe
  • Die Expedition nach Skniłów
  • Achter Tag
  • „Die Stadt unterjochen“
  • Der Plan zur Befreiung Lembergs
  • Neunter Tag
  • Das Massaker im Jesuitengarten
  • Das Durchbrechen der polnischen Front
  • Neue ukrainische Hoffnungen
  • Kapitel 4 Der neue Geist der ukrainischen Armee (10.–12. November)
  • Zehnter Tag
  • Stefaniv an der Spitze der ukrainischen Truppen
  • Die Dilemmata des „polnischen“ Lembergs
  • Elfter Tag
  • Die Tragödie von Sokolniki
  • Zwölfter Tag
  • Die Ausweglosigkeit der Straßenkämpfe
  • Vor dem Sturm auf die Kadettenschule
  • Hinter der Kampflinie
  • Lemberg ruft Hilfe herbei
  • Der Kampf um Przemyśl
  • Kapitel 5 Wird Lemberg fallen? Die Offensive der ukrainischen Truppen (13.–17. November)
  • Dreizehnter Tag
  • Die Schlacht auf den Feldern von Kulparków
  • Der ukrainische Angriff im Norden
  • Vierzehnter Tag
  • Die Schlacht um Zamarstynów und Kleparów
  • Fünfzehnter Tag
  • Die Pazifizierung von Zamarstynów und ein weiterer Sturm auf die Kadettenschule
  • Sechzehnter Tag
  • Es gibt keinen Waffenstillstand
  • Siebzehnter Tag
  • Die unbezwingbare Bastion
  • Sammlung der Kräfte
  • Kapitel 6 Vor der letzten Runde (18.–20. November)
  • Achtzehnter Tag
  • „Die Ferdinands-Kaserne sprengen“
  • Porträt einer Stadt im Krieg
  • Erlebt Lemberg den Entsatz?
  • Neunzehnter Tag
  • „Friedensmission“
  • Zwanzigster Tag
  • Die erste Mission der „Pepetrójka“
  • Nur noch Kampf
  • Der Entsatz trifft ein
  • Die Polen machen sich an den Angriff
  • Auf der ukrainischen Seite der Front
  • Kapitel 7 Wem wird Lemberg gehören? Der entscheidende Tag (21. November)
  • Einundzwanzigster Tag
  • Eine lange Novembernacht
  • Der Zusammenbruch des Angriffs im Norden
  • Der blutige Kampf in der Innenstadt
  • Hauptmann Boruta überquert die Front
  • Die Krise im ukrainischen Kommando
  • Erfolg oder Niederlage?
  • Kapitel 8 Der blutige Schatten der Freiheit (22.–24. November)
  • Zweiundzwanzigster Tag
  • Die Zerschlagung der ukrainischen Armee
  • Die Euphorie des „polnischen“ Lemberg
  • Ein dunkles Kapitel in einem goldenen Buch
  • Die Brutalisierung des polnisch-ukrainischen Konflikts
  • Die Bilanz zweier Aufstände
  • Kapitel 9 Der Konflikt der Erinnerung an den Lemberger November
  • Die „Jungadler“ und die Kette der Generationen
  • Die Schaffung einer ukrainischen Identität
  • Dekonstruktion der Erinnerung: die Zeit der Besatzung und des Kommunismus
  • Der heutige Konflikt um die Erinnerung an die Kämpfe um Lemberg
  • Statt eines Schlussworts
  • Glossar
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsnachweise
  • Namensregister

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Einleitung

Im Leben von Gemeinschaften, Völkern und Staaten sind manchmal besondere Ereignisse präsent, von überdurchschnittlicher Bedeutung, die über ihr weiteres Schicksal entscheiden und einen wahren Meilenstein in ihrer Geschichte darstellen. Die beiden Aufstände, die im November 1918 Lemberg erschütterten und die bisherige Ordnung der Welt der Stadtbewohner zunichtemachten, waren der erste Schrei der entstehenden Freiheit zweier Nationen, zugleich aber eine mit Blut gezeichnete Zäsur in der Befreiungsgeschichte Polens und der Ukraine. Der zweite „Völkerfrühling“ in Mittel- und Osteuropa, der im Herbst 1918 stattfand, erwies sich für Millionen Menschen als lang erwarteter Moment und brachte ihnen die erträumte Freiheit. Die österreichisch-ungarische Vielvölkermonarchie versank in Schutt und Asche. Deutschland versank nach dem verlorenen Krieg in der Krise und Russland suchte die bolschewistische Revolution heim. Die Zerstörung der alten politischen Ordnung hatte einen gewaltsamen Verlauf und angesichts der komplizierten Nationalitätenverhältnisse war die Festlegung der neuen Grenzen durch die aus der Nichtexistenz auftauchenden jungen Staaten mit zahlreichen und blutigen Konflikten verbunden. Einer von ihnen war der polnisch-ukrainische Krieg, in dem es um die staatliche Zugehörigkeit Lembergs und Ostgaliziens ging. Diesem präzedenzlosen Ereignis lag auch das reichhaltige Gepäck der Vergangenheit, der gegenseitigen Ansprüche und Forderungen zugrunde.

Der Niedergang des Polnisch-Litauischen Reiches, eines territorial riesigen multinationalen Staates in Ostmitteleuropa, endete mit den von Russland, Preußen und Österreich in den Jahren 1772, 1793 und 1795 vollzogenen drei Teilungen seines Gebiets. Das Ende eines staatlichen Organismus voller innerer Gegensätze, eines veralteten Wirtschaftssystems und mit Anachronismen in den agrarischen Verhältnissen, bei einer nicht unbedeutenden Position der Magnaten und einer schwachen Zentralmacht war in einem Zeitalter der Bildung starker Staaten mit mächtigen Armeen, gelenkt von Herrschern mit absoluter Macht, unausweichlich. Polen-Litauen stürzte Ende des 18. Jahrhunderts in einen Abgrund, aber die sozialen Spaltungen und Ungleichheiten, die zu den Ursachen der Teilung gehört hatten, verschwanden keineswegs mit ihm. Die Eroberer standen, nachdem sie ihre Beute aufgeteilt hatten, vor der Notwendigkeit, einen modus vivendi mit der lokalen Bevölkerung zu finden, die je nach Teilungsgebiet ethnisch heterogen war. Zu diesen Werkzeugen gehörte es auch, die verschiedenen nationalen Gruppen und deren Antagonismen geschickt gegeneinander auszuspielen, um so ihre Unabhängigkeitsbestrebungen ruhig zu stellen. Unter ←19 | 20→ den Bedingungen des österreichischen Teilungsgebiets war dies nicht schwierig, wo sich ein ausgebauter deutschsprachiger Beamtenapparat bemühte, die nationalen Bewegungen der Polen und der Ukrainer im Zaum zu halten, deren Konflikt mit der Zunahme des Bewusstseins moderner Nationen, dem Gefühl der eigenen Besonderheit sowie der Verpflichtung, sich um die Interessen der eigenen Gemeinschaft zu kümmern, wuchs.

Das in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs entstandene Osteuropa wurde zum Spielfeld der triumphierenden Nationalismen, deren aggressive Basis jedoch weit entfernt von ausschließlich nationalen Motiven war. Wie erwähnt, hatte die Feindschaft zwischen Polen und Ukrainern auch tiefe soziale Wurzeln, die bis zu den Stereotypen reichten bzw. in ihnen begründet lagen, die mit dem allmählichen, beiderseitigen Aufbau der Feindschaft unter ihnen in der letzten Phase der Existenz Österreich-Ungarns zunahmen1. Die nationalen Ideologien griffen gerne zur Waffe der Vergangenheit und den mit dieser verbundenen Spuren, weil sie darin ein bequemes Instrument zur Mobilisierung „ihrer“ Bevölkerung gegen die „fremde“ sahen. Sogar dann, wenn die einen wie die anderen bis dahin in einem gemeinsamen Land lebten, das ihre Heimat war. Polen, und noch weniger die Ukraine, gab es auf der Karte Europas, aber sowohl die Polen als auch die Ukrainer waren bereit, zur Gewalt zu greifen, um eigene Nationalstaaten aufzubauen.

An der Schwelle des 20. Jahrhunderts gab es in Ostgalizien ukrainisches, polnisches und jüdisches Leben. Jedes von ihnen verlieh einer der Gemeinschaften Sinn und Bedeutung. Entscheidend ist hier die Formulierung „nebeneinander“ und nicht „gemeinsam“. Das, was bis zu einem gewissen Grad unter den Bedingungen des Lebens in einem fremden Staat sowohl für die Polen als auch für die Ukrainer möglich war, konnte sich unter den Bedingungen nicht bewähren, wenn jede der beiden Nationalitäten den Versuch unternahm, zur Selbstbestimmung zu gelangen. Die koexistierenden und – wie es damals scheinen konnte – untrennbar miteinander verbundenen Gemeinschaften entfernten sich, indem sie ihre nationalen Fahnen gestützt auf Kultur, Konfession oder die spezifische, oftmals nur selektiv wahrgenommene eigene Geschichte stützten, voneinander, um sich schließlich auf einem Kollisionskurs zu befinden, der ein normales, friedliches Zusammenleben unmöglich machte2. Es ist also schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die beiden Konfliktparteien nicht nur bereit für dessen gewaltsame ←20 | 21→ Verschärfung in der sich abzeichnenden Phase des Kampfs um eigene Staaten waren, sondern auch zuließen, dass er sich in brudermörderische Kämpfe verwandelte. Was im Übrigen bald zu einer traurigen Tatsache werden sollte.

Die Ursache für den tragischen Kampf um Lemberg lag im Unvermögen von Polen und Ukrainern, in einer nach einer neuen geopolitischen Ordnung eingerichteten Welt, deren Determinanten die jungen Nationalstaaten wurden, einen Modus Vivendi zu finden. Die staatliche Zugehörigkeit Lembergs und Ostgaliziens musste durch das Vergießen von Blut entschieden werden. Die Polen gewannen, weil Lemberg, wie Jurij Andruchovyč schrieb, damals ihre Stadt war, „und das nicht in einer abstrakten, außerhalb der Menschen liegenden Dimension, sondern in einer ganz augenfälligen, persönlichen. Es waren ihre Tore, Höfe, Gassen, sie kannten sie in- und auswendig, auch deshalb, weil sie dort die Orte der Treffen mit ihren Mädchen verabredeten“3.

Für die Polen, die sich an dem Novemberaufstand gegen die im Entstehen begriffenen ukrainischen Organe und die westukrainische Armee beteiligten, war ihr Widerstand die natürliche Fortsetzung des Kampfes um die Freiheit, der durch die Niederlage des Januaraufstands nur unterbrochen, aber nicht beendet worden war. Eine neue Generation übernahm auf diese Weise den Staffelstab von den ehrwürdigen Veteranen, die sich noch an den eigenen Kampf gegen die russischen Besatzer erinnerten. Gleichsam symbolisch klingt an dieser Stelle die Information, dass im März 1933 einer der Teilnehmer des Aufstands von 1863 als Ehrenmitglied in den Bund der Verteidiger Lembergs (Związek Obrońców Lwowa) aufgenommen wurde4. Die massenhafte Beteiligung von Schülern und Studenten, die verbissen, bis zum Wahnsinn tapfer und im patriotischen Geist erzogen waren, war entscheidend für den Verlauf der Schlacht und ihr letztliches Ergebnis.

Die Polen waren nicht geneigt, auf Lemberg zu verzichten, das nicht nur durch seine polnischen Bewohner, sondern auch durch die ganze Nation mit der Macht des alten Polen-Litauens assoziiert wurde. Die Vorstellung von dieser war durch die damals äußerst populären Bücher von Henryk Sienkiewicz weiterhin lebendig. Sienkiewicz gelang es ziemlich offensichtlich – und gewiss auch für ihn selbst überraschend – mit seinen Werken die Mentalität der polnischen Gesellschaft ausgezeichnet zu treffen, die nach Erzählungen über nationale Helden und die Zeiten des Glanzes lechzte, die ja doch noch zurückkehren könnten. In seinen Werken waren Lemberg sowie andere Ortschaften der Ostgebiete ein Feld von Abenteuern und heroischen, ←21 | 22→ abwechslungsreichen Kämpfen von Soldaten des alten Polens, von Verteidigern seiner Grenzen und Erben ritterlichen Ruhms. Die in einer Zeit, als es Polen auf der Landkarte Europas nicht gab, „zur Erwärmung der Herzen“ verfasste „Trilogie“ pflanzte tatsächlich in diese Herzen den Glauben an die Möglichkeit ein, trotz aller Widrigkeiten diesen Staat wiederaufzurichten.

Im Zeitalter der Teilungen war Lemberg unter österreichischer Herrschaft für die dort lebenden Polen zur geistigen Hauptstadt der polnischen Gebiete geworden. Es war ein Symbol für den vergangenen historischen Ruhm, ein Zentrum der nationalen Konsolidierung angesichts der äußeren Gefahr und schließlich eine Kaderschmiede für die Intelligentsia, die Wissenschaft und die Kunst. Auch der ukrainische Historiker Roman Lozyns’kyj konstatierte: „Man kann ohne Lemberg diese nationale Gemeinschaft, ihre Kultur, das Bildungswesen und die Wissenschaft nicht vollständig beschreiben“5. Lemberg war für die in Österreich-Ungarn lebende polnische Gemeinschaft eben Polen, weil es neben Krakau die Heimat verkörperte, deren genius loci in der Seele eines jeden Einwohners seine Spuren hinterließ. Die polnischen Lemberger waren stolz auf ihre Stadt und betonten ihren nationalen Charakter. Indirekt sekundierten ihnen dabei die Teilungsbehörden, indem sie Lemberg zur Hauptstadt eines Kronlandes machten. Die Polen konnten sich nicht vorstellen, dass sich Lemberg nach einer Wiedererlangung der eigenen Unabhängigkeit außerhalb der polnischen Staatsgrenzen befinden würde.

Für die Ukrainer war die Burg des Löwen, so die wörtliche Übersetzung des Namens Leopolis, ebenfalls ein magischer Ort, umwoben von der Legende der alten ruthenischen Staatlichkeit, einem unerfüllten Traum, dem Ausdruck der Sehnsucht nach einem eigenen Staat, der wahren Wiege der ukrainischen Nationalität. Es war ein Ort, den während der Kosakenaufstände im 17. Jahrhundert die tapferen Kosaken vergeblich belagert hatten. Von da an wurde er zu einer Festung, die künftige Generationen von Ruthenen und Ukrainern – sowohl mit der Kraft ihrer Hände als auch der ihrer Gedanken – belagern sollten, wenn sie davon träumten, von ihr Besitz zu ergreifen und aus ihr eine ukrainische Stadt zu machen.

Jaroslav Hrynevyč, ein Soldat der Legion Ukrainischer Kosakenschützen (Sičer Schützen; LUSS), war von der Aura dieses Ortes wie berauscht, als er im Oktober 1918 mit seinen Waffenbrüdern das erste Mal im Hauptbahnhof aus dem Zug ausstieg, der aus der Region Cherson kam: „Welch seltsame Erhebung erfasste unsere Herzen. Hier die unauslöschlichen Spuren des ukrainischen fürstlichen Ruhms, hier machte Bohdan Zynovyj Chmel’nyc‘kyj sein Schwert schartig. Hier, über der Stadt, erstreckten sich majestätisch das ←22 | 23→ Hohe Schloss und die St.-Georgs-Kathedrale, und auf seinen Friedhöfen die uns teuren Gräber Ivan Frankos, Markijan Šaškevyčs und anderer“6. Vor allem von Lemberg strahlte damals die Idee der Unabhängigkeit der Ukraine aus, dort schlug ihr kulturelles und künstlerisches Herz. Die Ukrainer behandelten Lemberg als historische Hauptstadt der Westukraine. Auch sie waren wie die Polen nicht bereit, auf ihre mit dieser Stadt verbundenen Rechte, Gefühle und Traditionen zu verzichten. Verbunden mit einem Ort, der zum untrennbaren Element der Geschichte beider Nationen geworden war.

Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie beschleunigte die Bestrebungen beider Nationen enorm, die strittigen Territorien des multiethnischen Grenzgebiets, darunter Lemberg, an die neuen Organismen der Nationalstaaten anzuschließen. Die Atmosphäre der Anspannung, die sich schon seit der Verkündung der Beschlüsse des Friedens von Brest gehalten hatte, gewann nach den von Schülern und Studenten ausgelösten Unruhen im Februar 1918 noch an Stärke. Die Stimmungen radikalisierten sich und keine das gemeinsame Gebiet bewohnende Nation ließ den Gedanken zu, dass man sich außerhalb des eigenen Staates wiederfinden könnte. Mit dem Ausbau der Keimzellen künftiger Herrschaft und militärischer Organisationen durch Polen und Ukrainer wurde es immer wahrscheinlicher, dass angesichts des endgültigen Zusammenbruchs Österreich-Ungarns die Waffen bzw. eine eventuelle Unterstützung durch die westlichen Siegermächte über das Schicksal Lembergs und Ostgaliziens entscheiden würden. Die Ukrainer fühlten sich durch die polnischen Ansprüche gegenüber den Gebieten, die sie als die ihrigen betrachteten, bedroht. Sie fürchteten die Entscheidungen des näher rückenden Friedensvertrags auch deshalb, weil sie bisher in Anbetracht ihrer Position und der politischen Aktivität ihrer Eliten mit dem Lager der Mittelmächte verbunden gewesen waren, das den Krieg verloren hatte. Polen dagegen entstand neu als wichtiger Bündnispartner Frankreichs im Osten. Um den Polen zuvorzukommen, entschlossen sich die Ukrainer daher dazu, bewaffnet die Macht über die strittigen Territorien zu übernehmen und wendeten somit die Methode der Faits accomplis an.

Lemberg, das bis dahin ein Ort des scharfen polnisch-ukrainischen politischen Streits war, verwandelte sich schließlich in ein Schlachtfeld. Es kam zu Auseinandersetzungen, die für den weiteren Verlauf des Konflikts und des polnisch-ukrainischen Krieges ausschlaggebend waren. Im Ergebnis entstand die Legende der „Lemberger Jungadler“ und der Verteidigung der Stadt, einer der Gründungsmythen der Zweiten Republik. Sie erwiesen sich ←23 | 24→ aber auch als Meilenstein bei der Brutalisierung des Konflikts zwischen den beiden benachbarten Völkern. Die Novemberkämpfe um Lemberg wurden auch zum ersten Kapitel eines modernen Konflikts um die Erinnerung zwischen Polen und Ukrainern, dem die Taten der um die Stadt Kämpfenden zugrunde lagen, die von beiden aufeinanderprallenden Seiten für heroisch, der materiellen Verstetigung und Einschreibung in das Pantheon der nationalen Helden würdig erachtet wurden.

Die Schlacht von Lemberg brach in einem außerordentlich wichtigen historischen Moment aus, als die bisher von den Imperien unterdrückten Völker aus eigenen Kräften nach der Freiheit streben und sich zum Kampf für den Aufbau eigener staatlicher Organismen aufmachen konnten. Aus polnischer Perspektive war der Ausbruch der blutigen Kämpfe in Lemberg, die von unten durch die polnische Bevölkerung begonnen wurden, die damit auf den Versuch reagierte, ukrainische Herrschaftsstrukturen einzuführen, das Signal, zur Verteidigung der entstehenden Unabhängigkeit des Landes zu den Waffen zu greifen. Es ist wohl keine Verzerrung zu behaupten, dass das kämpfende polnische Lemberg zu einem moralischen, aber auch faktischen Aufruf zum Gefecht für die sich erst herausbildenden Organe des Staates wurde, zu einem Appell, entschiedene Maßnahmen sowohl in der Frage der Verteidigung seiner künftigen Grenzen als auch in der effizienten Formierung einer Armee zu ergreifen. Die Novemberschlacht war somit ein wichtiger staatsbildender Akt im mühseligen Aufbau der wiederentstandenen Republik und bescherte der polnischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit eine ganze Generation von Helden, die den bewaffneten Einsatz der Polnischen Legionen mit den Kriegen um die Unabhängigkeit und die Grenzen verband.

Am ersten November 1918 in den frühen Morgenstunden brach in Lemberg ein bewaffneter Aufstand aus, der vom geheimen Ukrainischen Militärkomitee (UVK) koordiniert wurde und direkt gegen die zusammenbrechenden österreichisch-ungarischen Organe gerichtet war. Indirektes Ziel des Umsturzes sollte dagegen sein, die Besetzung Lembergs durch die in Westgalizien geschaffenen polnischen Organe zu verhindern, die von der Polnischen Liquidierungskommission (PKL) aus Krakau vertreten wurden, deren Delegation eben an jenem 1. November nachmittags in Lemberg ankommen sollte, um die Herrschaft in der Stadt zu übernehmen und sie mit dem Einverständnis des Regentschaftsrats dem wiederentstehenden polnischen Staat zu übergeben7. Als Antwort auf die Beherrschung Lembergs durch ukrainische, dem Ukrainischen Militärkomitee ergebene Einheiten traten nur wenige Stunden später zur Wahrung polnischer Interessen selbstständig einzelne militärische Gruppen aus Untergrundorganisationen und ←24 | 25→ zivile Freiwillige in Erscheinung. Gegen Mittag konnte man schon von einem polnischen Aufstand gegen die eben erst errichteten ukrainischen Organe sprechen. Die Stadt wurde zum Gebiet eines verbissenen Kampfes, bei dem sich Polen, Ukrainer und Juden gegenüberstanden, die noch vor kurzem Nachbarn aus derselben Straße gewesen waren8.

Die wichtigsten in Lemberg tätigen polnischen militärischen Organisationen, die Polnische Militärorganisation (POW) und die Polnischen Militärkader (PKW), unterschätzten die Möglichkeit eines ukrainischen bewaffneten Auftretens. Nur so kann man die Verzögerung bei den Vorbereitungen zum Kampf und die organisatorischen Mängel in den ersten Stunden, ja Tagen erklären. Wie dem auch sei, es kam zum Kampf, aber nicht gegen den Gegner, den man sich erhofft hatte. Artur Leinwand schrieb treffend: „Ein Paradox der Geschichte ist es, dass die nach der Unabhängigkeit strebenden polnischen Militärorganisationen sich auf den Kampf gegen die österreichische und deutsche Teilungsmacht vorbereitet hatten, aber eine friedliche Regelung der polnisch-ukrainischen Beziehungen wollten. Sie mussten jedoch einen den Polen aufgezwungenen Krieg führen“9.

Somit brachen an einem Ort und fast gleichzeitig zwei Aufstände aus, die sich rasch in eine blutige Schlacht verwandelten, die in den Straßen und Vororten unter Einsatz aller damals zugänglicher, technisch allermodernsten Kampfmittel wie Maschinengewehren, Handgranaten, Artillerie und Flugzeugen geführt wurden. Dies trug dazu bei, den bisher scharfen, aber die politischen Rahmen nicht überschreitenden polnisch-ukrainischen Konflikt auf das Feld des bewaffneten Kampfs zu übertragen. In kurzer Zeit begannen sich, den von wenigen und schlecht bewaffneten Mitgliedern der militärischen Unabhängigkeitsorganisationen massenhaft polnische Schüler und Studenten anzuschließen. Auf diese Weise riss man der ukrainischen Armee die Initiative aus den Händen und erweiterte den polnischen Widerstand trotz des einsamen Ausharrens der polnischen „Insel“ des kämpfenden Lemberg in die ostgalizische Provinz, die vor allem von ukrainischer und ruthenischer Bevölkerung bewohnt wurde, bis zur Zeit des Herannahens eines Entsatzes, der über das Ergebnis der Schlacht entschied.

Die Kämpfe um Lemberg und Ostgalizien in den Jahren 1918–1919 haben eine reichhaltige Literatur zum Thema und in Form von Erinnerungen hervorgebracht10. Ein deutliches Manko dieser Veröffentlichungen ist aber ←25 | 26→ die Verwicklung der einzelnen Autoren in die ideologischen und personellen Streitigkeiten, deren Grundlage die zur damaligen Zeit nach wie vor lebendige Erinnerung an den polnisch-ukrainischen Krieg, aber mitunter auch das Bedürfnis, die eigenen Verdienste und Leistungen herauszustellen, war. Die sporadisch nach 1989 erscheinenden Publikationen, sowohl die polnisch als auch die ukrainischen, waren überwiegend dem polnisch-ukrainischen Krieg aus den Jahren 1918–1919 gewidmet und behandelten die Geschichte dieses Konflikts umfassend. Die Beschreibung der Kämpfe um Lemberg im November 1918 beschränkte sich folglich auf den Bereich eines von vielen beschriebenen Themen. Trotzdem erschienen damals unter vielen Veröffentlichungen die wertvollen Bücher von Michał Klimecki und Mykola Lytvyn, die allerdings die in Lemberg und seinen Vororten im November 1918 tobende Schlacht nur als Episode des breiteren bewaffneten polnisch-ukrainischen Konflikts behandelten, aber viele neue Befunde hervorbrachten11.

Der Impuls, der mich anspornte, dieses Buch zum hundertsten Jahrestag der Kämpfe um die Stadt zu schreiben, war also jene Lücke in der polnischen Historiografie, auf die schon in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre hingewiesen wurde. Damals kam die Idee auf, einen dritten Band der Quellenpublikation Obrona Lwowa (Die Verteidigung Lembergs) zu veröffentlichen, der der Novemberschlacht gewidmet sein sollte. In der Zwischenzeit brach aber der Zweite Weltkrieg aus und dieses Buch erschien nie. Noch 1938 schrieb Eugeniusz Wawrzkowicz, Verfasser einer der nicht zahlreichen Monografien über die Kämpfe um Lemberg im Jahre 1918: „Wahrlich gibt es bisher eigentlich keine echte Geschichte der Verteidigung Lembergs, die sachlich, vorurteilsfrei und mit einem Gefühl für die faktische Realität geschrieben wurde; eine Geschichte, die in einer angemessenen Perspektive und im Einklang mit der historischen Wahrheit darstellen würde, wie es eigentlich gewesen ist“12.

←26 | 27→

Die Chronik der dramatischen Novemberkämpfe nimmt also den größten Teil des Buches ein. Er schließt mit einer Beschreibung des an der jüdischen Bevölkerung verübten Pogroms nach der endgültigen Befreiung der Stadt durch polnische Truppen. Um ein objektives Bild der berichteten Tatsachen zu bekommen, habe ich mich bemüht, die wichtigste ukrainische Literatur zum Thema und Erinnerungen aus dieser Zeit zu nutzen, um der Beschreibung einen möglichst vollständigen und faktentreuen Charakter zu verleihen, wie er aus der Analyse der von beiden kämpfenden Parteien hinterlassenen Quellen sichtbar wurde.

Ein separates, abschließendes Kapitel habe ich dagegen dem Konflikt um die Erinnerung an die polnischen und ukrainischen Soldaten gewidmet, die um Lemberg kämpften. Zu Anfang beobachten wir nämlich in der Zwischenkriegszeit eine Blüte des Kults der Nationalhelden, später seine Abwertung und Zerstörung während der sowjetischen, der deutschen sowie der erneuten sowjetischen Besatzung und in den langen Jahren des Kommunismus sowohl in „Volkspolen“ als auch in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Buch endet mit einer möglichst aktuellen Charakteristik der polnisch-ukrainischen Beziehungen auf dem Gebiet der Erinnerung an die Ereignisse vom November 1918 vom Zusammenbruch des kommunistischen Systems bis Mitte 2017.

Für die Hilfe beim Sammeln vieler Quellenmaterialien bin ich zu Dank verpflichtet Dr. Paweł Naleźniak, Mitarbeiter der Krakauer Zweigstelle des Instituts für Nationales Gedenken, sowie Mag. Piotr Olechowski von der Universität Rzeszów. Ich danke auch Piotr Bartnik für wertvolle redaktionelle Anmerkungen. Dank euch, liebe Kollegen, konnte dieses Buch seine letztendliche Form annehmen.

Für ihre Unterstützung und Geduld danke ich meiner Frau Klaudia, deren Glauben an mich nicht zum ersten Mal für mich eine zusätzliche Arbeitsmotivation darstellte. Das Buch widme ich meinem Sohn Antoś und wünsche ihm, dass er nie zur Verteidigung seiner Heimatstadt antreten muss, wie das Antoś Petrykiewicz musste, der jüngste Ritter des Militärordens Virtuti Militari, der bei der Verteidigung Lembergs sein junges Leben auf dem Altar der entstehenden Unabhängigkeit hingab.

Dieses Buch stellt den Versuch dar, diese in der Geschichte dieser beiden europäischen Völker äußerst wichtige Ereignis so darzustellen, dass es nicht nur aus einer, sondern aus vielen Perspektiven gezeigt wird. Denn erst wenn man die Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven sieht, wird sie vollständig, wahr und an das angenähert, wie es wirklich gewesen ist. Angesichts der an der jüdischen Bevölkerung begangenen Verbrechen, zu denen es schon nach dem Ende der Schlacht in den Straßen Lembergs kam, wäre das Bild, das ich zu zeichnen versucht habe, ohne die Berichte jüdischer Zeugen auch unvollständig. Das Panorama, das am ←27 | 28→ Schluss einer solchen Zusammenstellung entsteht, unterscheidet sich von der Reihe nationaler Vorstellungen der beschriebenen Ereignisse. Denn das ist auch ihr Ziel: über die durch die Nationalgeschichte gezeichneten Rahmen hinauszugehen, ohne deren Bedeutung für die Beteiligten jener Tage zu mindern.


1

B. Hud‘, Ukraińcy i Polacy na Naddnieprzu, Wołyniu i w Galicji Wschodniej w XIX i pierwszej połowie XX wieku. Zarys historii konfliktów społeczno-etnicznych, Zalesie Górne 2013.

2

O. Linkiewicz, Lokalnośc i nacjonalizm. Społeczności wiejskie w Galicji Wschodniej w dwudziestoleciu międzywojennym, Kraków 2018.

3

J. Andruchovyč, L’viv – misto-korabel’, in: Nova Ukraïna i nova Evropa: čas zblyžennja. Materialy mižnarodnoho seminaru, provedenoho u L’vovi 3–6 lystopada 1996 roku, bearb. von M. Zubryc’ka, L’viv 1997, S. 178.

4

Lwów 1918–1933, S. 38.

5

R. Lozyns’kyj, Etničnyj sklad naselennja L’vova u konteksti suspilʹnoho rozvytku Halyčyny, L’viv 2005, S. 4.

6

J. Hrynevyč, Lystopadovi dni u L’vovi. Spomyny z 1918 r., in: Orlyk (1947), Nr. 11, S. 23. – Der Theologe und Dichter Markijan Šaškevyč (1811–1843) war einer der Väter der ukrainischen Schriftsprache. (Anm. d Übers.).

7

Monitor Polski Nr. 191 vom 2.11.1918.

8

R. Lozyns’kyj, op. cit., S. 147, 149, 152.

9

Ch. Mick, Kriegsalltag und nationale Mobilisierung. Lemberg im Ersten Weltkrieg, in: Nordost-Archiv (2008), Nr. 17, S. 59.

10

Einige der wichtigsten Arbeiten aus der Zwischenkriegszeit: J. Białynia-Chołodecki, Lwów w listopadzie 1918 r., Lwów 1919; J. Dunin-Wąsowicz, Listopad 1–21 XI 1918 we Lwowie, Lwów 1919; W. Hupert, Walki o Lwów (od 1 listopada do 1 maja 1919 roku), Warszawa 1933; O. Kuz’ma, Lystopadovi dni 1918 r. L’viv 1931; A. Próchnik, Obrona Lwowa od 1 do 22 listopada 1918 roku, Zamość 1919; A. Przybylski, Wojna polska 1918–1921, Warszawa 1930; E. Wawrzkowicz, J. Klink, Walczący Lwów w listopadzie 1918, Lwów; Warszawa 1938.

Details

Seiten
456
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631844205
ISBN (ePUB)
9783631844212
ISBN (MOBI)
9783631844229
ISBN (Hardcover)
9783631829738
DOI
10.3726/b17930
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
The City of Lviv in 1918 Conflict of Memory The Lviv Pogrom 1918 Polish-Ukrainian Conflict Polish-Ukrainian War 1918-1919 The Collective Memory
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 456 S., 28 s/w Abb.

Biographische Angaben

Damian Markowski (Autor:in)

Damian Karol Markowski studierte Geschichte an der Universität Warschau und promovierte dort im Jahre 2016. Er ist einer der wenigen Vertreter der Generation jüngerer polnischer Historiker, der sich mit der Geschichte Osteuropas beschäftigt, sowie Verfasser einiger Bücher und wissenschaftlicher Aufsätze.

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