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Finanznarrative als Krisennarrative

Literarische und filmische Modellierungen «kapitaler» Erschütterungen in der Romania

von Kurt Hahn (Band-Herausgeber:in) Marita Liebermann (Band-Herausgeber:in)
©2021 Konferenzband 400 Seiten

Zusammenfassung

Das Faszinosum des Kapitals und die Illusion seiner (Selbst-)Vermehrung geben seit jeher zu denken und mehr noch zu erzählen. Maßloser Reichtum und bittere Armut, entfesseltes Begehren und ebensolche Verschwendung befeuern die Einbildungskraft, heben schillernde Protagonisten aus der Taufe und bringen virtuose Sujets, spannende Plots oder effektvolle Motive hervor. Narrative und Narrationen, die sich solcherart der Finanzen annehmen, generieren starke Affekte, extreme Reaktionen und scharfe Kontraste; sie nehmen Subjekte in Beschlag, spornen sie unablässig an, treiben sie aber auch in den Wahnsinn und in den Abgrund. Derlei kapitale Krisen zu diagnostizieren und auf diesem Weg Erzählmuster, Konfliktherde und Figurenkonstellationen zu analysieren, macht sich der vorliegende Band in einem literarhistorischen Durchgang von Früher Neuzeit bis in die Gegenwart zur Aufgabe.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Scheitern als narrative Chance (Kurt Hahn)
  • Krisenszenario I: Frühneuzeitliche (An-)Ökonomien
  • Management-Konstrukte: Celestina als Unternehmerin (Yvette Sánchez)
  • ‚Geld stinkt nicht‘: Lazarillo de Tormes als (utopisches) Finanznarrativ (Jens Elze)
  • Sganarelles Lob des Tabaks und die Grundlagen der politischen Ökonomie des Bürgertums nach Molière (Reinhard Krüger †)
  • Der Aufstieg des Bürgertums, die Krise des Adels und die Transformationen des Romans im 17. Jahrhundert (Beatrice Nickel)
  • Krisenszenario II: Abgründige Finanzanalysten des 19. Jahrhunderts
  • Eine Poesie der Verschuldung? Der diabolische Pakt als Finanzierungsmodell bei Balzac (Anne Reich)
  • Fälscher, Falschspieler und Spekulanten in Baudelaires Le Spleen de Paris (Herle-Christin Jessen)
  • Baudelaire und die Ökonomie des Verlusts (Cornelia Wild)
  • Krisenszenario III: Modernes Unbehagen am Kapital
  • Ökonomische Krisenmomente und Selbst-Haushaltungen im Werk von Miguel de Unamuno (Berit Callsen)
  • Federigo Tozzi und die Notwendigkeit des Scheiterns (Marco Menicacci)
  • Der Mann und die Arbeit – Zur Narration kapitaler Krisenfelder in Pierre Bosts Faillite (Marita Liebermann)
  • „Der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns…“ – Dépense und Kompensationen materialen Exzesses bei Sartre und Pessoa (Stephanie Béreiziat-Lang)
  • Antikapitalismus und rurale Utopie. Jean Gionos paysannerie im Licht der kapitalistischen Ideologie (Walter Wagner)
  • Imaginationen des Geldes – Die Phantasmagorien der Moderne(n) am Beispiel des Geldmotivs in der Buenos-Aires-Literatur (Patrick Eser)
  • Krisenszenario IV: Zeitgenössische Insolvenzen
  • „C’est tout l’argent de notre famille“ – Die mythographische Funktion des Geldes im Werk von Laurent Gaudé (Stefan Müller)
  • Theatrale Dynamiken des finanziellen Kollapses in David Lescots Le Système de Ponzi (Sara Izzo)
  • Literarische Krisen-Modellierungen – Der zeitgenössische historische Roman als überzeitliches politisches Mittel: Q von Luther Blissett/Wu Ming (Elena Görtz)
  • Scheiternde Abschottung gegen die Krise: Lateinamerikanische gated communities in Literatur und Film am Beispiel von Las viudas de los jueves (Matthias Hausmann)

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Kurt Hahn

Einleitung: Scheitern als narrative Chance

Abstract: This introduction tries to delimit the horizon of argumentation for the narrative productivity of economic crises scenarios explored in this volume. It draws on Rafael Chirbes’ En la orilla (2013), a devastating novel of virtuosic composition, to outline the path that subsequent readings pursue when they describe and analyse dazzling financial fictions and upheavals of capital.

Keywords: financial economy, crisis, capital, narrative, Rafael Chirbes, En la orilla

Einer der eindrücklichsten Romane, die sich im europäischen Horizont dem Zusammenbruch der Kapitalmärkte nach 2007/2008 zuwenden und die drastischen Auswirkungen auf Realwirtschaft, Arbeitswelt sowie Gesellschaftsstruktur beleuchten, stammt vom mittlerweile verstorbenen Spanier Rafael Chirbes. Seine 2013 erschienene, preisgekrönte und 2014 ins Deutsche übertragene Diagnose En la orilla (dt. Am Ufer)1 schildert die iberische Malaise2 jedoch nicht nur im Lichte wirtschaftlicher und politischer Aktualitäten. Chirbes’ Roman rekonstruiert vielmehr eine polyphone Mentalitätsgeschichte, die die sozioökonomische Zäsur zum Auftakt des 21. Jahrhundert zugleich ätiologisch zurückverfolgt und sowohl auf die weiterhin schwelenden Wunden der nationalen (Bürgerkriegs-)Vergangenheit als auch auf den trügerischen Subventionsregen des EU-Beitritts (1986) und dessen unvermeidliche Entzauberung bezieht.3 Das Personal, ←9 | 10→das En la orilla diesbezüglich zu Wort kommen lässt und perspektivisch einfängt, umfasst folgerichtig verschiedenste Klassen, Berufsstände, ideologische Lager, ja ganze Generationen und neben dem (genuin) spanischen Spektrum freilich auch das noch ‚prekärere Prekariat‘ der Arbeitsmigrant*innen.

Am anderen Ende der Skala, an der Spitze der auf Egozentrismus, Geltungsdrang und Rachsucht gebauten Sozialpyramide thront hingegen der korrupte Bauunternehmer Pedrós, der den Protagonisten des Romans, den Schreiner Esteban, Leiter eines Familienbetriebs, zunächst zu hochspekulativen Anlagen und nach dem Platzen der Immobilienblase in den Konkurs und schließlich in den Selbstmord treibt. Bezeichnenderweise schließt En la orilla nicht mit dem desillusionierten Bewusstseinsstrom des lebensmüden Vertreters aus dem mittelständischen Handwerk (Esteban), sondern mit einer Gedankenrede des gewieften Pedrós, der auf seinen vermeintlichen Bankrott in der Heimat – der Sumpflandschaft nahe Olba, die als symptomatischer Schauplatz fungiert – und mithin überhaupt auf die nationale Misere Spaniens gänzlich anders zu reagieren vermag. Um seine Schäfchen ins Trockene zu bringen, dem Fiskus und der einheimischen Justiz zu entgehen sowie in der Ferne eventuell noch üppigere Renditen einzufahren, macht er sich kurzerhand aus dem Staub. Auf der Schwelle zwischen Traum und Erwachen situieren sich sonach folgende Schlusssätze des Romans, in denen der Bauunternehmer doppelzüngig die Gutmütigkeit seiner fürsorglichen Frau Amparo rühmt und dabei im Grunde die Quintessenz zeitgenössischer Kapitalzirkulation offenlegt – was in den Ohren deren zahlreicher Opfer in En la orilla nicht wenig sarkastisch anmuten muss:

Abro los ojos, descubro que me pasa un kleenex por las comisuras de la boca y por la barbilla, me emociono, qué otra cosa puede ser el amor en estos tiempos difíciles: esos pequeños detalles. Con las nuevas condiciones, hemos aprendido a valorar los pequeños detalles. Veo la cristalera tras la que levanta el vuelo uno de esos enormes aviones que efectúan trayectos transoceánicos. A ras de suelo se arrastra otro en dirección al finger. En el fuselaje lleva dibujado el perfil del ←10 | 11→pájaro Garudá. Amparo tira el pañuelo en la papelera que tiene al lado y me pregunta: ¿qué moneda utilizan allá?, eso me pregunta mi querida Amparo. De verdad que es una mujer maravillosa, siempre cuidando los detalles. ¿El real? ¿el sol? ¿el bolívar? ¿el quetzal? ¿la rupia? Le sonrío como se le puede sonreír a un ángel: da lo mismo, amor: el dinero no tiene patria, tú procura que no te falten en el bolso euros convertibles, dólares convertibles, ¿se dice así?, procura, sobre todo, almacenar lingotes de oro, que fíjate si hace siglos que van en danza los lingotes de oro, las joyas, brillantes, rubíes y zafiros, milenios de acá para allá, y siguen conservando el valor que tenían el octavo día de la creación del mundo, cuando Eva vio una serpiente y le echó mano creyéndose que era un collar de esmeraldas.4

Details

Seiten
400
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631858936
ISBN (ePUB)
9783631858943
ISBN (MOBI)
9783631858950
ISBN (Hardcover)
9783631805053
DOI
10.3726/b18731
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (November)
Schlagworte
Literaturgeschichte Kulturgeschichte Geld Erzählen Romanistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 400 S., 5 farb. Abb.

Biographische Angaben

Kurt Hahn (Band-Herausgeber:in) Marita Liebermann (Band-Herausgeber:in)

Kurt Hahn ist Professor für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Graz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die hispanoamerikanische Erzählliteratur, die (post-)moderne Lyrik der Romania und die medialen sowie ökonomischen Dimensionen der Literatur. Marita Liebermann ist Privatdozentin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft. Sie leitet das Deutsche Studienzentrum in Venedig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Wort-Bild-Beziehungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Transkulturalität und Migration, Venedig-Bilder, Semiotiken des Tourismus und Kulturtheorien des Finanziellen.

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