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Zwischen Erinnerung und Heilsvermittlung

Visualität und Medialität der mittelalterlichen Pilgerzeichen aus Aachen und Canterbury

von Carolin Rinn (Autor:in)
©2020 Dissertation 376 Seiten

Zusammenfassung

Mittelalterliche Pilgerzeichen waren zwar ein Massenprodukt, entwickelten jedoch mitunter komplexe Bildstrukturen und Wirkungsweisen. Die Arbeit untersucht exemplarisch anhand von Pilgerzeichen und -ampullen aus Aachen und Canterbury, wie ihre visuelle Gestaltung und Medialität ihre vielschichtigen Funktionen unterstützen, die über die eines Erinnerungszeichens an die Wallfahrt weit hinausreichten. Nicht zuletzt konnten Pilgerzeichen die Andacht unterstützen und eine sichtbare und greifbare Heilsvermittlung leisten. Einem historisch bildwissenschaftlichen Ansatz verpflichtet, werden Bezüge zum ortsspezifischen Wallfahrtskult, zur liturgischen Ausstattung, zu anderen kleinformatigen Bildmedien und dem Pilgerkörper diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Bedeutungen und Funktionen von Pilgerzeichen
  • 1.2. Fragestellung und Gegenstand der Untersuchung
  • 1.3. Forschungsstand und -perspektiven
  • 1.4. Begriffsbestimmung und methodische Vorbemerkung
  • 2. Pilgerzeichen aus Aachen
  • 2.1. Einleitung
  • 2.2. Forschungsstand und -desiderate
  • 2.3. Die visuelle Konstruktion und Verbreitung von Bildwissen
  • 2.3.1. Die Produktion der Pilgerzeichen in Aachen
  • 2.3.2. Theotokos: Maria als Mittelpunkt und Identifikationsfigur
  • 2.3.3. Reliquie und Weisung im Pilgerzeichen
  • 2.4. Der Bezug der Pilgerzeichen zur liturgischen Ausstattung des Doms zu Aachen
  • 2.4.1. Ähnlichkeiten: Die Karlsbüste
  • 2.4.2. Die Verehrung Karls des Großen als Stifter und Heiliger im Wallfahrtskontext
  • 2.4.3. Divergenzen: Karl der Große als Herrscher und Richter
  • 2.4.4. Zwischen Ähnlichkeit und Differenz: Karlsreliquiar und Sakralraum im Pilgerzeichen
  • 2.5. Andachtsstimulation und Heilsvermittlung
  • 2.5.1. Tuch- und Berührungsreliquien: Inkarnation, Passion und Gottesschau
  • 2.5.2. Die Spiegelzeichen
  • 2.5.2.1. Maria und der Spiegel
  • 2.5.2.2. Visio Dei: Vera Ikon und der Spiegel
  • 2.6. Zwischenergebnisse
  • 3. Pilgerzeichen und Ampullen aus Canterbury
  • 3.1. Einleitung
  • 3.2. Forschungsstand und -desiderate
  • 3.3. Die Ampullen als Heilsträger: Bilder und Reliquie am Körper des Pilgers
  • 3.3.1. Facetten des Heiligen Thomas Becket
  • 3.3.1.1. Der Erzbischof auf der Vorderseite
  • 3.3.1.2. Der Märtyrer auf der Rückseite
  • 3.3.1.3. Rahmung, Inschrift und heilende Blutreliquie
  • 3.3.1.4. Rosen und Lilien
  • 3.3.1.5. Das Zusammenspiel von Bildern, Schrift und Reliquie
  • 3.3.2. Authentifizierung, Heilspräsenz und Andachtsprozesse
  • 3.3.2.1. Zur Schau gestelltes Bild: Der Heilige und seine Häscher
  • 3.3.2.2. Verborgenes Bild: Das Pseudo-Siegel
  • 3.3.2.3. Die Besiegelung des Körpers und der Seele
  • 3.4. Das Verhältnis der Pilgerzeichen zu den loca sancta in der Kathedrale zu Canterbury
  • 3.4.1. Locus martyrii
  • 3.4.1.1. Die Mordszene
  • 3.4.1.2. Das Marterwerkzeug
  • 3.4.2. In der Trinitätskapelle
  • 3.4.2.1. Der Körper des Heiligen im Schrein
  • 3.4.2.2. Die Corona
  • 3.5. Zwischenergebnisse
  • 4. Schlussbemerkungen
  • Literaturverzeichnis
  • Datenbanken
  • Quellen
  • Sekundärliteratur
  • Abbildungsnachweis
  • Reihenübersicht

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1. Einleitung

1.1. Bedeutungen und Funktionen von Pilgerzeichen

„Maria henssen ich. alle bete weder verdriben ich. thylman von hachenberck gois mich an(n)o m ccc lrrvi“.1 So lautet die Weihinschrift auf einer Glocke von 1476, die sich im Glockenstuhl der heutigen Evangelischen Pfarrkirche in Großen Linden befindet. Unterhalb der Inschrift ist ein Pilgerzeichen aus Aachen zu sehen (Abb. 1). Es zeigt eine Darstellung der Beweinung im unteren Register und mit dem Mariengewand darüber eine der wichtigsten Berührungsreliquien, die in Aachen verehrt wurden. Beide Darstellungen lassen sich auf die Gottesmutter beziehen. Frömmigkeitsgeschichtlich galten Pilgerzeichen als Schutzbringer, die die segnende und vor Unwetter schützende Wirkung des Geläuts von Kirchenglocken unterstützten. In einigen Fällen wurden hierbei vier, acht oder zehn Pilgerzeichen in Richtung der vier Himmelsrichtungen angeordnet.2 Allein über 80 Aachener Pilgerzeichen sind als Abdrücke auf Glocken überliefert.3 Der Gießer der Glocke in Großen Linden, Tilman von Hachenburg, war einer der aktivsten Nutzer von Aachener Pilgerzeichen als Glockenschmuck. Mit der Anbringung des Pilgerzeichens direkt unter dem Beginn der Inschrift wurde in diesem konkreten Fall sowohl die Weihe der Glocke an Maria als auch deren apotropäische Wirkung unterstrichen.

Mittelalterliche Pilgerzeichen umfassten allerdings ein breites Spektrum an Bedeutungen und Funktionen, das vom Erinnerungszeichen bis zum Heilsträger reichte. Sie waren zwar ein Massenprodukt, entwickelten jedoch mitunter komplexe Bildstrukturen und Wirkungsweisen. Wie ihre visuelle Gestaltung und ihre mediale Beschaffenheit die unterschiedlichen und vielschichtigen Facetten ihrer Bedeutungsdimensionen ermöglichten, soll in der vorliegenden Studie ←11 | 12→exemplarisch anhand von Pilgerzeichen untersucht werden, die für die Wallfahrtsorte Aachen und Canterbury hergestellt wurden.

Pilgerzeichen waren eng mit dem Aufschwung des Pilgerwesens seit dem 12. Jahrhundert bis ins Spätmittelalter verknüpft und wurden tausendfach an Wallfahrtsorten verkauft.4 Die kleinen, metallenen Objekte wurden im Gussverfahren hergestellt und wiesen oftmals eine ortsspezifische Gestaltung auf, welche charakteristische Merkmale des jeweiligen Kultortes herausstellte. Aufgrund ihrer Mobilität und der weiten sowie in einigen Fällen quantitativ hohen Verbreitung waren Pilgerzeichen ein massenwirksames Bildmedium.5 Noch vor ←12 | 13→dem Aufkommen gedruckter Bilder zu Beginn des 15. Jahrhunderts machten sie das besondere Kultangebot des Wallfahrtsortes bekannt und religiöse Bilder für breite Bevölkerungsschichten verfügbar.6 Als erstes überliefertes Andenken dieser Art etablierte sich die Jakobsmuschel (pecten maximus) (Abb. 2) sowohl in natura als auch in der gegossenen Metallversion des Pilgerzeichens. Sie kennzeichnete jene Pilger7, welche Santiago de Compostela mit dem Apostelgrab des Heiligen Jakobus Major besuchten.8 Neben Santiago de Compostela standen zunächst zwei weitere große Wallfahrtsorte der abendländischen Christenheit ←13 | 14→im Fokus der Pilgerreisen: Jerusalem mit der Grabeskirche und Rom mit den Märtyrergräbern der Heiligen Paulus und Petrus.9 Entlang der Pilgerwege entstanden von Frankreich ausgehend fortwährend neue große und kleine Pilgerziele mit eigenen Kultangeboten.10

Die Gründe, eine derart lange und beschwerliche Wallfahrt auf sich zu nehmen, waren vielfältig. Von außerordentlicher Bedeutung war die Teilhabe an der Präsenz des Göttlichen, die mit der Heilssicherung durch den Ablassgewinn einherging.11 Auch die Hoffnung auf seelische und physische Heilung durch die Nähe zu den Reliquien der Heiligen an den Wallfahrtsorten oder die Einlösung eines Gelübdes nach erfolgreicher Heilung konnten eine Wallfahrt begründen. Daneben traten in späterer Zeit zunehmend testamentarisch verfügte Wallfahrten für das Seelenheil Verstorbener, welche auch von Stellvertretern durchgeführt werden konnten. Des Weiteren wurden Buß- und Strafwallfahrten aufgrund unterschiedlichster Vergehen auferlegt, wie unerlaubtes Glockengeläut, Friedensbruch, Müßiggang oder Totschlag.12 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts ←14 | 15→und insbesondere im 15. Jahrhundert entwickelte sich die Wallfahrt zu einer Massenbewegung, die mit einem zunehmenden Angebot von nahen, regional angelegten Wallfahrtsstätten einherging.13 Zugleich verschärfte sich die Kritik an dem Phänomen. Sie bezog sich beispielsweise auf die durch eine Wallfahrt vernachlässigten Berufs-, Ehe- und Erziehungspflichten sowie die Gefahren für Leib und Seele, welche in keinem vertretbaren Verhältnis zum möglichen geistigen Gewinne stünden.14 Dessen ungeachtet expandierte die Anzahl derjenigen Wallfahrtsorte, welche Pilgerzeichen ausgaben, bis sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt mit etwa 500 Gnadenorten erreichte.15 Die frühesten erhaltenen Pilgerzeichen stammen dagegen nur von einer Handvoll ←15 | 16→Wallfahrtsorte: von Santiago de Compostela, Rom, Rocamadour, Köln sowie Canterbury. Sie werden in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert.16

Gleichzeitig mit den frühesten Pilgerzeichenfunden sind erste schriftliche Erwähnungen in Urkunden und Literatur auszumachen. Während der zeitgenössische Begriff für Pilgerzeichen in der Regel „signum“ war,17 verzeichnen Quellen des 12. Jahrhunderts eigens für die Wallfahrtszeichen aus Rocamadour „signum peregrinationis“ sowie „sportela“.18 Aus dem Französischen ist außerdem der Ausdruck „enseignes“ belegt.19 Weitere landessprachliche Äquivalente sind aus dem Englischen bekannt, die die Pilgerzeichen „signs“, „badges“ oder seltener „tokens“ nennen,20 während aus dem Niederländischen „vestelkens“ oder „loodjes“ überliefert sind.21 Verschiedentlich verweisen Bezeichnungen aus zeitgenössischen Beschreibungen zudem auf die Materialität der Pilgerzeichen. So beschrieb Hans von Waltheym, ein Kaufmann aus Metz, 1447 seine erworbenen Pilgerzeichen als „silberne sceichen“.22 Der Berater des französischen Königs Ludwig XI., Philippe de Commynes, benannte ebenfalls im 15. Jahrhundert die einzelnen Pilgerzeichen am Hut seines Königs als „image de plomb“,23 also als „Bild aus Blei“. Auch für Pilgerzeichen aus dem nordrhein-westfälischen Blomberg ist die Bezeichnung „signa plumbea“, „bleierne Zeichen“ bezeugt.24 Obwohl ←16 | 17→die zeitgenössischen Quellen Pilgerzeichen vorwiegend als bleiern bezeichneten, zeigen heutige Untersuchungen, dass sie in der Regel aus einer Blei-Zinn-Legierung hergestellt wurden.25 Zunächst hatten sie die Form von massiven plakettenförmigen Flachgüssen (Abb. 7), entwickelten sich allerdings ab dem 14. Jahrhundert zu filigraner wirkenden durchbrochenen Gittergüssen (Abb. 34).26 Häufig wurden sie mithilfe von seitlichen Ösen direkt auf der Kleidung angebracht.

Traditionell werden die verehrten Heiligen und Legenden dargestellt, die die Wallfahrt anregten. Der Vergleich von real existenten mit in der Tafelmalerei abgebildeten Pilgerzeichen bezeugt die Möglichkeit der Wiedererkennbarkeit und Identifizierung einzelner Objekte aufgrund gewisser Merkmale. Dies lässt sich beispielsweise an den Pilgerzeichen aus Wilsnack nachvollziehen. Die Wallfahrt nach Wilsnack wurde durch ein Hostienwunder initiiert.27 Die Pilgerzeichen bestehen aus drei ausgefüllten Kreisen, die auf die Hostien rekurrieren und in einer Dreiecksform angeordnet sind (Abb. 3). Diese Form ist ein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu Pilgerzeichen anderer Wallfahrtsorte, die sich auch eindeutig in der Tafelmalerei wiederfinden lässt, allerdings ohne die Details der Verzierung. Dies zeigt zum Beispiel die Darstellung des Heiligen Sebaldus von Hans Süß von Kulmbach, an dessen Hutkrempe mehrere Pilgerzeichen zu sehen sind. Rechts ist das Pilgerzeichen aus Wilsnack mit den drei Kreisen erkennbar, die allerdings in der Fläche lediglich mit einer gut sichtbaren roten Farbe ausgefüllt sind (Abb. 4). Reste von roten Bemalungsspuren an mehreren Pilgerzeichen aus Wilsnack belegen diese Einfärbung auch für die realen Objekte.28

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Ein spezifisches Kultobjekt, eine bekannte Bildform oder die Bezugnahme auf die Legende des Wallfahrtsortes ermöglichte es folglich, die Pilgerzeichen mit eben jenem speziellen Pilgerziel zu verbinden. Mit den Pilgerzeichen zeigte der Wallfahrer daher nicht nur das Ziel seiner Wallfahrt an. Mit ihnen konnte er auch die eigene Erinnerung an die durchgeführte Wallfahrt mit dem Besuch der Kirche, den dort aufbewahrten Reliquien und den geleisteten Gebeten an die verehrten Heiligen nach seiner Rückkehr immer wieder vergegenwärtigen. Pilgerzeichen waren „mehr als Andenken“.29 Mit dem Annähen der Pilgerzeichen auf die Kleidung trugen Pilger ein sichtbares Zeugnis für die vollbrachte Wallfahrt zur Schau. Als Verweis auf den jeweiligen Gnadenort kennzeichneten mehrere Pilgerzeichen am Hut oder der Kleidung auch einzelne Stationen des Weges, der hinter dem Wallfahrer lag. Pilgerzeichen wurden daher zu einem essenziellen Bestandteil der Pilgertracht, die aus einem Reisemantel (pelerine), einem Hut mit breiter, hochgeschlagener Krempe, dem Pilgerstab und der Pilgertasche bestand.30 Sie wiesen ihren Träger als Teil einer besonderen Gruppe von Gläubigen aus, welche als sakrosankt angesehen wurde und unter dem besonderen Schutz der Kirche stand.31 Dies begünstigte die Gewährung von Almosen oder einer Unterkunft für die Nacht, die als Werke der Barmherzigkeit an Pilgern galten. Indem die Pilgerzeichen deutlich sichtbar getragen wurden, vermittelten sie das Kultangebot des Gnadenortes sowie auf einer allgemeineren ←19 | 20→Ebene die Zugehörigkeit des Trägers zur Gruppe der Pilger, in der das Ideal eines gläubigen und gottgefälligen Lebens und einer Nachfolge Christi mitschwang.32

Auch die weiterführenden Bedeutungen und Funktionen der Pilgerzeichen waren wesentlich in den Kontext des Wallfahrtswesens mit Heiligenverehrung, Ablass- und Heilsversprechen eingebunden. Einige lassen sich beispielsweise aus archäologischen Fundzusammenhängen ableiten. Jakobsmuscheln und einige wenige Pilgerzeichen aus Gräbern aus dem 13. Jahrhundert wurden vorwiegend in städtischen Regionen gefunden, wie die Untersuchung von Lars Andersson in Skandinavien zeigt. Die bestatteten Personen standen oft in einer Beziehung zu kirchlichen Institutionen.33 Die Objekte bestätigten in diesen Fällen den bereits erworbenen hohen sozialen Status ihrer Träger und waren funktional eng mit der Person des Besitzers verbunden.34 Während diese Funde vorwiegend an der Hüfte, an der Tasche oder im Brustbereich angebracht waren, legen später datierte Funde nahe, dass diese vornehmlich an der Hutkrempe getragen wurden. Ab 1400 befinden sich die Gräber zudem vorwiegend in ländlicher Umgebung, und die Pilgerzeichen wurden vermehrt getrennt von ihren Besitzern gefunden.35 Die Wiederverwendung der Pilgerzeichen als Reliefschmuck auf Glocken, Erztaufen, Zinngerät und Altären im 15. und 16. Jahrhundert lässt laut Andersson auf eine Bedeutungsverschiebung der Pilgerzeichen schließen, die damit ihre direkte Bindung an den einzelnen Pilger verloren.36 Ein Taufbecken ←20 | 21→aus Wolterdingen in Niedersachsen aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts zeigt z. B. eine ganze Reihe von Reliefs, die neben geometrischen Ornamenten, Tier- und Pflanzendarstellungen auch mindestens fünf Pilgerzeichen aufweisen.37

Seit dem 15. Jahrhundert belegt das Einnähen von Pilgerzeichen in Stundenbücher allerdings deren private und weiterhin eng an den Besitzer gebundene Verwendung als devotionales Objekt, welches die alltägliche Andacht gemeinsam mit Gebetstexten unterstützte. Sie wurden sowohl einzeln als auch in Form ganzer Kollektionen eingefügt.38 Pilgerzeichen waren demnach mit der religiösen Erinnerung, dem Gedenken an Heilige und dem Beten für deren Fürsprache verbunden. Auch als gemalte Pilgerzeichenkollektionen wurden sie im Marginalbereich flämischer Stundenbücher des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts dargestellt. Neben anderen kostbaren Objekten, wie Edelsteinen und Rosenkränzen, oder Objekten aus der Natur, wie Blüten und Fischen, dienten sie als Bordüren.39 Sie waren dort gleichermaßen Teil des Buchschmucks wie Teil der privaten Andacht. Die Verwendung von Pilgerzeichen als Glockenschmuck bestätigt außerdem die ihnen beigemessene schützende und apotropäische Wirkung. Dies zeigt bereits, dass die Funktionen von Pilgerzeichen vielschichtig und keineswegs immer eindeutig zu bestimmen sind.

Schließlich ist die Praxis bezeugt, mit Pilgerzeichen und anderen Objekten, wie Rosenkränzen, Ringen oder Münzen die Reliquien während des Besuchs ←21 | 22→in der Wallfahrtskirche zu berühren.40 Kurt Köster leitet daraus eine Bedeutung der Pilgerzeichen als Sekundärreliquie ab, da mit dieser Berührung Segens- und Heilskräfte der Heiligen auf die Pilgerzeichen selbst übertragen worden seien.41 Diese Interpretation wird durch den Mirakelbericht aus Rocamadour von 1166 unterstützt, der von der Heilung eines schwer kranken Priesters aus Chartres durch ein Madonnenzeichen aus Rocamadour berichtete, welches ihm von seiner Mutter auf die kranke Körperstelle aufgelegt worden war (Abb. 57).42 Köster schreibt bezüglich solcher Berichte bereits 1983:

„Dem mittelalterlichen Menschen aber bedeuteten sie weit mehr, mehr als bloße Reiseandenken oder Mitbringsel, mehr auch als nur ein Gegenstand persönlicher Erinnerung und frommer Betrachtung. Die Kräfte der Heiltümer selbst, die Macht der dort verehrten Heiligen, glaubte man in diesen Abbildern wirksam und lebendig. Sie waren mittelbare, genauer gesagt Berührungs- oder Kontakt-Reliquien und wurden damit gleichsam als Stellvertreter der Heiltümer des Gnadenortes (Reliques représentatives) geachtet. […] Vor allem aber benutzte man die Zeichen für vielerlei volksfromme, abergläubische und volksmedizinische Praktiken. Im oder am Haus, an Hof- und Stalltüren, über dem Bett, auf Bienenkörben angebracht, in die Viehtränke eingelegt oder im Feld gegen Unkraut und Mäusefraß vergraben, sollten sie magische Kräfte ausstrahlen und dem Bösen wehren.“43

Köster beschreibt hier das Bedeutungsspektrum der Pilgerzeichen, welches durch die hier ausgeführten unterschiedlichen Beispiele ergänzt und untermauert wird. Auch wenn gerade über die volksfrommen Praktiken immer noch sehr wenig bekannt ist, machen diese Ausführungen zum einen die vielseitige Verwendbarkeit der Pilgerzeichen und zum anderen deren Relevanz als Alltagsgegenstand im christlichen Glauben und religiösen Leben des hohen und späten Mittelalters deutlich. Ihre Funktionen und die ihnen zugesprochenen Bedeutungen waren demzufolge weit gefächert: Pilgerzeichen waren ein sichtbarer Ausweis der erfolgreich geleisteten Wallfahrt und dienten zugleich der Bewerbung des Gnadenortes. Sie wiesen ihren Träger als Teil einer besonderen sozialen Gruppe aus und wirkten erinnerungsstiftend. Ihre Funktion reichte vom religiösen Andenken über die Opfergabe und Devotionalie bis hin zum apotropäischen Schutzbringer. Nicht zuletzt wohnte ihnen die bedeutsame Möglichkeit ←22 | 23→inne, die Andacht zu unterstützen und eine Heilsvermittlung zu leisten, wie zu zeigen sein wird.

1.2. Fragestellung und Gegenstand der Untersuchung

Diese Funktionen werden, wie bei Köster, in der Regel aus dem Gebrauch und der Wiederverwendung der Pilgerzeichen abgeleitet. Es drängen sich daher der bislang zu selten eingenommene Blick auf die Objekte selbst und die Frage auf, inwiefern die ihnen zugesprochenen Bedeutungen durch die spezifische Bildwirkung und mediale Verfasstheit der Pilgerzeichen unterstützt, angeregt und konstituiert wurden. Mit der vorliegenden Arbeit soll die Bedeutsamkeit der Pilgerzeichen als wichtiges Bildmedium gewürdigt werden, die entgegen mancher Forschungspostulate mitunter auch ästhetisch eine hohe Qualität aufweisen konnten (Abb. 70).44 Die Perspektive dieser Untersuchung liegt daher dezidiert auf der Analyse der Visualität und Medialität einzelner Fallbeispiele, um den Forschungsgegenstand Pilgerzeichen stärker, als dies bislang der Fall ist, in den Blick von aktuellen kunstgeschichtlichen und bildwissenschaftlichen Fragestellungen zu rücken. Pilgerzeichen waren weder reine Informationsträger noch stellten sie in einem schlichten Abhängigkeitsverhältnis den am Gnadenort verehrten Heiligen oder die lokale Wunderlegende dar. Pilgerzeichen entfalteten eine Wirkung auf ihre Betrachter, die auch unabhängig von ihrer Einbettung in Stundenbücher andachtsstimulierend wirken konnte. Das Ziel dieser Studie ist folglich eine rezeptionsästhetische Untersuchung der spezifischen visuellen und medialen Qualität von Pilgerzeichen mit Rückbindung an die in der Praxis belegten Funktionen.

Um eine differenzierte Analyse durchführen zu können, wird dies anhand einzelner Objekte zweier ausgesuchter Wallfahrtsorte geschehen. Für die Wahl der beiden Wallfahrtsorte Aachen und Canterbury sprechen mehrere Faktoren. Sie gehörten zu den international beliebtesten und größten Pilgerzielen mit einem nachweisbar weiten Einzugsgebiet und zogen kontinuierlich Pilger an. Beide Wallfahrtsstätten weisen derzeit mit Abstand die meisten erhaltenen Pilgerzeichen mit vielen unterschiedlichen Typen auf, sodass diese besonders ←23 | 24→vielversprechend und fruchtbar erscheinen, um die Fragestellung in ihrer großen Bandbreite zu verfolgen. Während aus Canterbury um die 600 Objekte und aus Aachen knapp 500 erfasst sind, liegen die Zahlen anderer bedeutender Wallfahrtsorte wie Rom, Maastricht oder Köln unter 300.45 Im Vergleich zur Gesamtentwicklung begannen zudem die Produktion und der Verkauf von Pilgerandenken sowohl in Canterbury als auch in Aachen frühzeitig und wurden kontinuierlich bis ins Spätmittelalter fortgesetzt: Kultbedingt nahmen diese in Canterbury ihren Anfang mit der Verehrung des neuen Heiligen Thomas Becket ab dem Jahre 1170 und in Aachen im frühen 13. Jahrhundert.46

Im Hinblick auf den Wallfahrtskult bieten beide Orte grundsätzlich unterschiedliche Voraussetzungen. Aachen konnte auf eine lange Tradition der dortigen Marienverehrung seit Karl dem Großen aufbauen. Spätestens mit der Translation der vier wichtigen Hauptreliquien von Maria, Christus und Johannes dem Täufer in den Marienschrein 1239 und den folgenden regelmäßigen Reliquienweisungen wurde das eigene Kultangebot für Pilger besonders attraktiv.47 Die Wallfahrtsbewegung nach Canterbury entstand dagegen unmittelbar aus der politisch hochbrisanten Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket und seiner darauffolgenden Heiligsprechung.48 Während den in Aachen verehrten Heiligen Maria nach Christus die wichtigste Mittlerfunktion im Kontext der Heilssicherung zukam, wurde in Canterbury ein neuer Märtyrer eingeführt, dessen Kult sich erst etablieren musste. Die Bedeutung des Heiligen Thomas Becket für die Pilger lag insbesondere in den ihm zugesprochenen thaumaturgischen Fähigkeiten und der vor Ort zu erwerbenden Reliquie seines Blutes. Der Wallfahrtskult und die Herstellung von Pilgerzeichen und Ampullen in Canterbury fanden mit der englischen Kirchenreformation im Jahre 1538 ein jähes Ende.49 Aachen blieb dagegen trotz der zeitweiligen Religionsunruhen zwischen ca. 1530 und 1614 unter katholischer Führung. Auch die Produktion von Pilgerzeichen sollte bis in die heutige Zeit fortgeführt werden, stagnierte jedoch gleichzeitig mit der ←24 | 25→Wallfahrtsbewegung während der Auseinandersetzungen mit den reformatorischen Kräften.50 Als die Bedeutung als Wallfahrtsziel zu Anfang des 17. Jahrhunderts wieder zunahm, hatten sich allerdings weitreichendere Veränderungen in Form und Herstellung der Aachener Objekte vollzogen. Dies entsprach der allgemeinen Entwicklung der Pilgerzeichen, wonach seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend anstelle der Gittergüsse die wesentlich kleineren runden Plaketten sowie die beidseitig bebilderten münzförmigen Massivgüsse und Prägungen mit eingeschlagenen kleinen Löchern zur Befestigung hergestellt wurden.51 Angesichts dieser historischen und formalen Einschnitte bieten sich folglich die 1530er Jahre als zeitlicher Endpunkt für die vorliegende Studie an.52

1.3. Forschungsstand und -perspektiven

Bis heute ist die Pilgerzeichenforschung von einer Fülle an kaum überschaubaren regionalen Beiträgen einerseits und den Forschungen einiger Spezialisten andererseits geprägt. Die stetig wachsende Literatur besteht zum einen aus mehreren Hauptwerken und der Katalogisierung großer Sammlungsbestände in Frankreich, England, Deutschland, den Niederlanden sowie jüngst publizierte Fundkomplexe aus Tschechien und Polen.53 Zum anderen bilden die zahlreichen kleineren, regionalen Beiträge sowie Einzelstudien eine vielfach verästelte und ←25 | 26→unübersichtliche Forschungslandschaft. Im Folgenden soll daher ein knapper Forschungsstand zu Pilgerzeichen im Allgemeinen gegeben werden, der jedoch keinesfalls auf Vollständigkeit abzielt, sondern grundlegende und in erster Linie für diese Arbeit wichtige Eckpunkte benennt.54

Pilgerzeichen sind ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand, der vonseiten der Archäologie, Glockenkunde, Religions-, Landes-, Kirchen-, Sozial- und Kunstgeschichte bearbeitet wird. Dies bringt nicht nur die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit sich, sondern auch die Problematik, dass sie keiner Disziplin dezidiert zuzuordnen sind. Gerade die Kunstgeschichte fühlte sich lange Zeit kaum für die Objektgruppe der Pilgerzeichen zuständig. Pilgerzeichen teilten somit nicht nur das Schicksal anderer kleinformatiger Bildmedien wie Münzen, Siegel oder bebilderter Schmuck, die erst in den letzten Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren.55 Pilgerzeichen galten auch lange Zeit, und teils bis heute, als kleine, unansehnliche und qualitativ minderwertige Massenware, die somit selten das Forschungsinteresse vonseiten der Kunstgeschichte weckten.56 Die beiden Sammelbände „Push me. Pull you“ zur Spätmittelalter- und Renaissancekunst sind hierbei als eine der wenigen ←26 | 27→positiven Ausnahmen zu bewerten, welche Sarah Blick zusammen mit Laura Gelfand 2011 herausbrachte. Hier wurden Pilgerzeichen als eigenständiger und gleichwertiger Gegenstand kunsthistorischer Forschung unter anderem neben den drei „klassischen“ Bildgattungen diskutiert.57

Die wissenschaftliche Annäherung an Pilgerzeichen ist aufgrund der verschiedenen Disziplinen durch eine Vielfalt an Erkenntnisinteressen geprägt, die sich grundsätzlich in zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Forschungsgegenstand Pilgerzeichen teilen lässt. Einerseits werden Pilgerzeichen als (kultur-)historisches Quellenmaterial verstanden und immer wieder als Argumente in kult- und wallfahrtshistorischen Zusammenhängen genutzt.58 Denn durch die Analyse der Pilgerzeichen können wichtige Aussagen über Pilgerbewegungen, den Beginn, die Dauer, die Reichweite und die Bedeutung einzelner Wallfahrtskulte und -stätten gewonnen werden, über die die schriftlichen Quellen oft schweigen. Anderseits rücken die einzelnen Pilgerzeichen selbst in den Fokus der Untersuchung. Ihre Erforschung gilt zumeist ihrer Ikonografie, Datierung, Identifizierung, und ihrer Einbindung in den zeitgenössischen Wallfahrtskontext ihres Produktionszentrums.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden durch vorwiegend nationale Forschungen die Aufnahme und Bearbeitung einiger Museumsbestände und privater Sammlungen von Pilgerzeichen vorangetrieben. In erster Linie war es Köster, der sich seit den 1950er Jahren bis zu seinem Tode 1986 intensiv mit Pilgerzeichen auseinandersetzte und den Weg für nachfolgende Forschungsansätze bereitete.59 Seine Begeisterung für Pilgerzeichen wurde über seine Beschäftigung mit Glocken und deren Verzierungen durch Pilgerzeichenabdrücke geweckt. 1956 erschien sein Artikel zum Glockengießer Tilman von Hachenburg ←27 | 28→mit besonderer Berücksichtigung der verwendeten mittelalterlichen Pilger- und Wallfahrtszeichen. Dieser sollte nur der Auftakt zu weiteren umfangreichen Untersuchungen sein, mit denen er das internationale wissenschaftliche Augenmerk auf das Phänomen der Pilgerzeichen lenken konnte.60 Dort stellte er über 30 Pilgerzeichenabdrücke, davon einige aus Aachen, mit Abbildungen, ikonografischen Beschreibungen, der Zuordnung zu einem Wallfahrtsort sowie entsprechender Literatur vor. Der Brauch, Pilgerzeichen als Glockenschmuck zu verwenden, ist für die Pilgerzeichenforschung von besonderer Wichtigkeit.61 Denn die Umschrift der Glocken nennt in der Regel das Jahr ihrer Entstehung und bot daher bereits für Köster einen guten Anhaltspunkt, Rückschlüsse auf die zeitliche Einordnung der jeweiligen Pilgerzeichen zu ziehen.62 Die Datierung von Pilgerzeichen lässt sich ansonsten nur über archäologische Fundzusammenhänge zuverlässig festlegen oder wenigstens eingrenzen. Eine stilistische Einordnung der einzelnen Objekte ist dagegen häufig problematisch und kaum aussagekräftig, da an manchen Wallfahrtsorten über Jahrhunderte hinweg das gleiche Design verwendet wurde.63 So muss in vielen Fällen unklar bleiben, ob es sich um ein Pilgerzeichen aus dem 12. Jahrhundert handelt oder ob bestimmte Aspekte der Gestaltung bewusst an alte Formen anschließen, das Objekt aber erst im 14. oder 15. Jahrhundert hergestellt wurde. Weniger qualitätsvolle Pilgerzeichen bieten ebenfalls wenig verlässliche Hinweise. Anhaltspunkte zu einer relativen Chronologie lassen sich bei jenen Wallfahrtsorten ausmachen, von denen entsprechend viele Pilgerzeichen erhalten sind und deren Objekte sichtlich einer typologischen Entwicklung und Innovation in der Bildfindung unterliegen. Sind keine konkreten archäologischen Anhaltspunkte vorhanden, lassen sich Pilgerzeichen oftmals maximal in Vierteljahrhundert-, halbe Jahrhundertabschnitte oder lediglich Jahrhunderte datieren.

Kösters zahlreiche systematische Studien hinsichtlich Datierung, Ikonografie und Typologie von Pilgerzeichen sowie deren Zuschreibung zu Wallfahrtsorten bezogen sich einerseits auf regionale Fallbeispiele.64 Seine Untersuchungen ←28 | 29→nahmen andererseits die spezifische Funktion der Pilgerzeichen als Wallfahrtsandenken in den Blick und ordneten sie in ihren religiösen historischen Kontext ein.65 Zudem erkannte er bereits die Vielfältigkeit der Bedeutungsebenen von Pilgerzeichen. Köster war auch der Erste, welcher sich für das Phänomen der eingenähten und gemalten Pilgerzeichen in flämischen Stundenbüchern sowie die Kombination von Pilgerzeichen mit kleinen Spiegeln anlässlich der Aachener Reliquienweisungen interessierte.66 Hier bilden seine Untersuchungen die Ausgangsbasis für nachfolgende Forschungen hinsichtlich beider Aspekte.

Seit den 1980er Jahren erschienen vermehrt archäologische Publikationen, die das Fundmaterial vorstellten und bis heute immer wieder durch Arbeiten zu neuen Fundstätten mit teils neuem Material ergänzt werden.67 Als beachtenswerte Ausnahme ist die 1989 veröffentlichte systematische Aufarbeitung des Pilgerzeichenbestandes in Skandinavien durch Andersson zu nennen, die über die reine Grundlagenforschung der Erfassung, Identifizierung und Aufnahme von Fundzusammenhängen hinausging.68 Sein methodisches Vorgehen ging mit dem Bestreben einher, daraus weitreichendere historische Aussagen zu Pilgerzeichen zu treffen, beispielsweise hinsichtlich der Verbreitung von Pilgerzeichen oder auch der Verläufe von Pilgerrouten. Er konnte darüber hinaus aufgrund ←29 | 30→statistischer Auswertungen Aussagen über die unterschiedlichen sozialen Schichten der Pilger und zeitlicher Veränderungen treffen sowie über die Funktionen der Pilgerzeichen beispielsweise als Andenken oder Votive.

Mit Brian Spencer und Michael Mitchiner fanden besonders in den 1980er und 1990er Jahren umfassende Einschätzungen sowie typologische Einordnungen der Objekte auf den Britischen Inseln statt.69 Insbesondere der in der Erstauflage im Jahre 1998 publizierte Katalog des Museum of London mit den Funden aus der Themse sowie weiteren Ausgrabungen im Londoner Stadtgebiet lieferte durch die systematische Bearbeitung des Kurators und wichtigsten englischen Pilgerzeichenforschers Spencer einen ausführlichen Überblick.70 Auf die allgemeine (sozial-)historische, archäologische und technische Einleitung zu Pilgerzeichen und deren Gebrauch folgend, wurden die Funde nach Wallfahrtsorten auf den Britischen Inseln und dem Ausland jeweils mit einer Einführung zum entsprechenden Wallfahrtsort aufgeführt und analysiert. Sein Werk ist bis heute und insbesondere für die hier besprochenen Pilgerzeichen aus Canterbury grundlegend.

Die Herausbildung zweier Forschungszentren in den Niederlanden und in Deutschland seit den 1990ern zeigt eine zunehmende Vernetzung der nordeuropäischen Forschung zu Pilgerzeichen in den letzten Jahrzehnten. In diesem Rahmen sind auch mehrere Bände erschienen, deren Ausrichtung seit den 2000ern darüber hinaus das Bemühen um eine internationale Zusammenarbeit belegen.71 Gegenwärtig bildet vor allem die Privatsammlung von Hendrik Jan Engelbert van Beunigen († 2015) in Cothen / Langbroek, Niederlande, mit über 15.000 Pilgerzeichen und profanen Zeichen einen der wichtigsten Materialfundus, deren umfassende und beständig aktualisierte Katalogisierung Standards gesetzt hat.72 Van Beuningen pflegte enge Verbindungen zu einigen Forschern, ←30 | 31→wie Jos Koldeweij von der Universität Nijmegen, der als Mitherausgeber aller bisher erschienenen Bände sein profundes Wissen über Pilgerzeichen auch in mehreren Artikeln mit einbrachte. Wie die Essays des 2001 erschienen zweiten Bandes der Privatsammlung Van Beuningens deutlich machen, bemühte sich die Forschung neben einer Vorstellung neuer Funde und einzelner Ausgrabungsstätten besonders um weiter ausgreifende, kontextuelle Fragestellungen, welche die sozialen Bedeutungen, die kulturhistorischen und religiösen Funktionen sowie einzelne Phänomene und ikonografische Gesichtspunkte aufgriffen.73 Auf die Erforschung von Pilgerampullen hat sich außerdem Katja Boertjes spezialisiert, die in diesem Band einen Beitrag zu niederländischen und belgischen Funden verfasste. Ihre Einzelstudien lieferten grundsätzlich wichtige Denkanstöße zum Verhältnis von Inhalt und Gestaltung von Ampullen, die für die hier zu besprechenden Ampullen aus Canterbury anregend waren.74 Im dritten Band „Heilig en Profaan“ verlagerte sich die Aufmerksamkeit unter anderem wieder stärker auf Pilgerzeichen in Stundenbüchern und in der Tafelmalerei.75 Alle drei Bände wurden durch einen umfangreichen Katalog abgeschlossen, der gute Abbildungen und Basisdaten zu wichtigen und neu erworbenen Objekten enthält. Diese sind außerdem unter ständiger Aktualisierung in der Internetdatenbank „Kunera“ online zugänglich, die eines der wichtigsten Rechercheinstrumente und die Materialbasis dieser Arbeit bildet.76

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Das zweite Zentrum der Pilgerzeichenforschung ist unter der wissenschaftlichen Leitung des Theologen und Kirchenhistorikers Hartmut Kühne in Berlin entstanden, einem der derzeit wichtigsten Wallfahrtsforscher. Es setzte sich zum Ziel, die Forschungsbemühungen in osteuropäischer Richtung zu bündeln, um hier ein Pendant zum niederländischen Zentrum zu bilden. Unter seiner Leitung wurde Kösters „Zentrale Pilgerzeichenkartei“ (ZPK) von einer Arbeitsgruppe am Berliner Kunstgewerbemuseum zum Teil digitalisiert. Sie stellt mit über 6500 Pilgerzeichen und entsprechenden Literaturangaben das Material seit 2002 online frei zur Verfügung.77 Sie wird seit 2008 nicht mehr aktualisiert, soll jedoch ab dem Jahr 2020, dann in Göttingen angesiedelt, wieder aktiviert werden. Sie bietet als Ergänzung zu der Online-Datenbank „Kunera“ auch die nötigen Informationen zu den Fundumständen der einzelnen Objekte, denn diese können wichtige Anhaltspunkte für eine Datierung bieten. Außerdem fanden im Rahmen des Berliner Forschungszentrums bisher zwei Tagungen statt, deren Ergebnisse 2008 und 2013 in der Reihe „Europäische Wallfahrtsstudien“ publiziert wurden. Der erste Band „Das Zeichen am Hut im Mittelalter“ wurde dem Andenken Kösters gewidmet und enthielt zudem eine Vorstellung der Pilgerzeichensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin.78 Die zweite Publikation ←32 | 33→„Wallfahrer aus dem Osten“ geht auf den Kongress in Prag unter der Leitung Koldeweijs und Kühnes zurück und verfolgte den internationalen Austausch neuester Funde und Erkenntnisse über die Wissenschaftsgrenzen hinaus und belegt das zunehmende und vielfältige Interesse an Pilgerzeichen. Besonders hervorzuheben ist der Umstand, dass mit dem Tagungsort auch die Aufmerksamkeit auf die Sammlung der Prager Museen gelenkt wurde, deren Aufarbeitung durch sprachliche Barrieren in Europa wenig bekannt ist.79

Ein derartiges Forschungszentrum oder große publizierte Pilgerzeichensammlungen fehlen im südlichen Europa, sodass über die Pilgerzeichenbestände in Museen und Privatsammlungen in Italien und Spanien nur bedingt Aussagen getroffen werden können.80 Es muss folglich hier noch stärker als im Norden Europas unklar bleiben, inwiefern die Überlieferungszahlen und bisherigen Funde einen Eindruck der zeitgenössichen Umstände geben können. Denn die bislang bekannten Pilgerzeichenzahlen sind nicht nur von den Erhaltungsbedingungen abhängig, sondern auch von der Forschung, der Aufmerksamkeit für die Objekte während der Ausgrabungen und dem Interesse, diese zu publizieren. Die heutigen Überlieferungszahlen bilden folglich aufgrund der Erhaltungsbedingungen, aber auch aufgrund der unterschiedlich intensiven Ausgrabungstätigkeiten und zufälligen Veröffentlichungen einzelner Sammlungen und Fundkomplexe nur einen Bruchteil des ursprünglichen Bestandes ab.

Daneben gab die systematische Studie Denis Brunas einen Überblick über die unterschiedlichen Aspekte, Funktionen und Bedeutungen der Pilgerzeichen von Marktregularien und der Verbreitung bis zur Amulettfunktion.81 Bestandteil seiner Analyse waren zudem weitere Zeichen aus Blei und Zinn, die profane und erotische Themen abbilden und die dezidiert hinsichtlich übergreifender ←33 | 34→gemeinsamer Funktionen der Gattungsgruppe der Zeichen besprochen wurden.82 Einen ähnlich umfassenden Eindruck speziell über jene Zeichen, die im mittelalterlichen Flandern an der Kleidung getragen wurden, gab der ebenfalls 2006 erschienene Ausstellungskatalog „Geloof & geluk. Sieraad en devotie in middeleeuws Vlaandere“ von Koldeweij mit zahlreichen Pilgerzeichen und Beispielen zu deren Weiterverwendung an Zinngeräten und Ähnlichem sowie aus der Tafelmalerei, die profane wie religiöse Zeichen an der Kleidung darstellen.83 Auch Zeichen mit allgemeinen devotionalen Motiven wurden hier vorgestellt, womit ein Schlaglicht auf die private Verwendung von Pilgerzeichen im Gebet geworfen wurde. Bereits in der Ausstellung „Spiegel der Seligkeit“ im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg (2000) wurden Pilgerzeichen im frömmigkeitspraktischen Kontext neben anderen, oftmals ebenfalls kleinformatigen Bildern beleuchtet.84

Diesem Schwerpunkt widmeten sich auch die zwei Dissertationen aus dem Jahre 2009 von Hanneke van Asperen und Isabel von Bredow-Klaus, indem sie sich mit dem Phänomen gemalter und eingenähter Pilgerzeichen in Stundenbüchern auseinandersetzten.85 Van Asperen verwies hierbei auf die Gemeinsamkeiten von Pilgerzeichen und Stundenbüchern, die sich als Medien der Andacht und der spirituellen Erlösung gegenseitig komplementierten.86 Sie erörterte zudem die Unterschiede zwischen realen, brakteatenförmigen Pilgerzeichen in Stundenbüchern und den gemalten Objekten im Marginalbereich der Stundenbücher. Während die realen Pilgerzeichen vorwiegend in einfacheren Stundenbüchern für den täglichen Gebrauch eingenäht waren, finden sich gemalte Pilgerzeichen ausschließlich in den wertvollen Materialien Silber und Gold dargestellt und in luxuriösen Stundenbüchern hochrangiger Personen. Sie verbanden eine strukturierende und dekorative Funktion mit religiösen Konnotationen, die teilweise eine inhaltliche oder formale Beziehung zur zentralen ←34 | 35→Miniatur oder dem Text aufwiesen. So verschränkten sich Aspekte der Frömmigkeit mit Repräsentationszwecken, welche die Kostbarkeit des Stundenbuchs betonten.87

Kunsthistorische Fragestellungen traten verstärkt seit den 1990ern in den Vordergrund, wie die zahlreichen Publikationen von Koldeweij und Blick belegen.88 Im Sammelband „Art and Architecture of late medieval pilgrimage in Northern Europe and the British Isles“ von 2005, der von Blick und Rita Tekippe herausgegeben wurde,89 stellte Marike de Kroon einen ikonografischen Ansatz zu mehreren Pilgerzeichen aus dem niederländischen ’s-Hertogenbosch vor.90 Sie verglich darin die Darstellungen mit den vorhandenen und rekonstruierbaren Kultobjekten in der Wallfahrtskirche und bewertete diese Zusammenhänge. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Blick, indem sie zwei Ampullen aus Canterbury auf die Fenstergestaltung der dortigen Kathedrale zurückführte.91 Ebenso verband Jörg Poettgen die Pilgerzeichen aus Aachen mit örtlichen Reliquiaren, versäumte es jedoch, neben den Gemeinsamkeiten auch die Differenzen in der Gestaltung und Struktur beider Medien zu benennen.92 Während diese Überlegungen alle nach Gemeinsamkeiten zwischen Pilgerzeichen und bestimmten Objekten der jeweiligen Wallfahrtskirche suchten, betonte Jennifer M. Lee in einem Aufsatz von 2005, dass die Gestaltung von Pilgerzeichen weitaus komplexer sein konnte. Sie untersuchte anhand von drei Beispielen aus Canterbury entgegen der Annahme einer schlichten Abbildung von Kultobjekten und Heiligen des Wallfahrtsortes auch die Unterschiede.93

In den unterschiedlichen Ansätzen bleiben insgesamt weitreichendere Fragen zum Sinngehalt der Bildwirkung hinsichtlich der unterschiedlichen und komplexen Funktionen der Pilgerzeichen außen vor. Über die wichtigen grundlegenden ikonografischen Analysen zur Identifizierung, Typologisierung und stilistischen ←35 | 36→Datierungsversuchen hinausgehend,94 ist es insbesondere die Aufgabe der Kunstgeschichte, Pilgerzeichen als Bildmedien mit einer ganz eigenen Bildwirkung zu beachten. Schließlich machten sie noch vor der ersten Druckgraphik religiöse Bilder für breite Bevölkerungsschichten verfügbar.95 Eine konzentrierte und eingehende Analyse ihrer Ikonografie und Bildstrukturen im Zusammenhang mit einer umfassenden Betrachtung der Heiligenverehrung und der Ausstattung der jeweiligen Wallfahrtskirche einerseits und ein breit angelegter Bezug zu anderen zeitgenössischen Bildmedien wie der Tafel- und Buchmalerei, Reliquiaren und kleinformatigen Bildmedien andererseits geschieht bisher lediglich punktuell.96 Dies ist für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit allerdings eine Grundvoraussetzung und wird daher jeweils entsprechend der Fallbeispiele erörtert.

Die Untersuchungen von Poettgen zu Pilgerzeichen aus Aachen und deren möglicher Vorbilder sowie Lees Ansatz zu den Unterschieden zwischen Pilgerzeichen und dem Wallfahrtsort Canterbury bieten den Ausgangspunkt, um deren Ergebnisse kritisch zu überprüfen und weiterzudenken. Denn gerade Poettgens Arbeit geht nicht über eine stilistisch-ikonografische Auswertung des Abhängigkeitsverhältnisses zu möglichen Vorbildern hinaus, um die Pilgerzeichen zunächst typologisch zu ordnen und zu datieren. Eine differenziertere Sicht bringt jedoch auch Unterschiede zutage, die weniger den medialen Divergenzen zwischen Reliquiaren und Pilgerzeichen geschuldet sind, sondern vielmehr andere Sinnzusammenhänge zum gesamten Sakralraum der Wallfahrtskirche offenbaren, wie es zu zeigen gilt.97 Lees Studie mangelt es dagegen an einer ←36 | 37→gründlichen Rückbindung an schriftliche Quellen zum Kult um den Heiligen Thomas Becket.98

Details

Seiten
376
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631836972
ISBN (ePUB)
9783631836989
ISBN (MOBI)
9783631836996
ISBN (Hardcover)
9783631829370
DOI
10.3726/b17651
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Kunstgeschichte Bildwissenschaft Thomas Becket Karl der Große Maria Reproduktion Andacht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 376 S., 17 farb. Abb., 62 s/w Abb.

Biographische Angaben

Carolin Rinn (Autor:in)

Carolin Rinn studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, arbeitete dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin und ist derzeit in der Kulturvermittlung tätig. Ihre Magisterarbeit zum Antwerpener Diptychon des «Meisters von 1499» behandelte bereits bildwissenschaftliche Fragen zur Rezeptionsästhetik und Andachtsvorstellungen in der spätmittelalterlichen Tafelmalerei. Sie wurde an der Universität Gießen promoviert.

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Titel: Zwischen Erinnerung und Heilsvermittlung
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