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Max Kalbeck – Theaterkritiken des Wiener Fin de siècle

Mit einer Einleitung herausgegeben und kommentiert von Joanna Giel

von Joanna Giel (Band-Herausgeber:in)
©2020 Andere 244 Seiten

Zusammenfassung

Max Kalbeck gilt bis heute als maßgeblicher Biograph von Johannes Brahms. Nahezu unbekannt blieben hingegen seine Zeitungskritiken zu Literatur und Musik, insbesondere die zwischen 1880 und 1920 erschienenen Kritiken von Aufführungen am Wiener Burgtheater. Diese Edition, der eine umfangreiche Einführung vorangestellt ist, präsentiert eine Auswahl dieser Besprechungen. Durch sie wird der Bestand an Quellen zur Wiener Moderne erheblich bereichert, die nicht nur eine Einsicht in das damalige Theater vermitteln, sondern auch in die an Konflikten und Widersprüchen reiche Epoche des Fin de siècle. Verschiedentlich der Tradition verpflichtet, bestätigen Kalbecks Theaterkritiken die These von der Ambivalenz der nicht allein von künstlerischem Experimentalismus geprägten Wiener Moderne.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil 1 Einleitung
  • 1 Zum Leben und Werk von Max Kalbeck
  • 2 Kalbecks ästhetische Position
  • 3 Kalbecks Beitrag zur Geschichte des Wiener Burgtheaters um die Jahrhundertwende
  • Teil 2 Ausgewählte Theaterkritiken von Max Kalbeck aus dem „Neuen Wiener Tagblatt“
  • 1 Theaterleitung und Organisation
  • Direktor Adolf Wilbrandt1
  • Der Abschied vom alten Hause2
  • Das neue Burgtheater6
  • Was wir von dem neuen Direktor des Burgtheaters erwarten7
  • Der Caprivi des Burgtheaters
  • Der Directionswechsel im Burgtheater
  • Der neue Direktor des Burgtheaters
  • Direktor Thimig13
  • Das neue Regime. Zur Wiedereröffnung des Burgtheaters
  • 2 Aufführungen im Burgtheater
  • „König Oedipus“ in Wilbrandt’s Bearbeitung16
  • „Ein Volksfeind“. Schauspiel in fünf Akten von Henrik Ibsen17, übersetzt von J.C. Poestion
  • „Die Kronprätendenten“. Historisches Schauspiel in fünf Aufzügen von Henrik Ibsen20
  • „Die versunkene Glocke“. Ein deutsches Märchendrama in fünf Aufzügen von Gerhart Hauptmann28
  • Eine Trilogie der Illusion. Arthur Schnitzler’s „Paracelsus“, „Die Gefährtin“ und „Der grüne Kakadu“29
  • Henrik Ibsens „Gespenster“30
  • Die Schiller-Wochen im Burgtheater33
  • „Der verlorene Vater“. Komödie in vier Akten von Bernard Shaw, deutsch von Siegfried Trebitsch34
  • „Hargudl am Bach, oder: die Liga der Persönlichkeiten“. Lustspiel in vier Akten von Hans Müller37
  • Friedrich Hebbel: „Kriemhilds Rache“40 (neu einstudiert)
  • „Unterwegs“. Ein Don Juan-Drama von Thaddäus Rittner42
  • „Die Sorina“. Komödie in drei Akten von Georg Kaiser48
  • 3 Theater-Persönlichkeiten
  • Franz Grillparzer49
  • Der Fall Mitterwurzer57
  • Charlotte Wolter58
  • Goethe (Zum 28. August 1899)
  • Adolf Sonnenthal62
  • 4 Philosophisch-ästhetische Fragen
  • Aus der Küche des Naturalismus
  • Ein sonderbarer Schwärmer
  • Die beste und die schlechteste Welt
  • Eine Wiener Dramaturgie
  • Teil 3 Chronologisches Verzeichnis der Theaterkritiken von Max Kalbeck aus dem „Neuen Wiener Tagblatt“1
  • Bibliographie
  • Personenregister

Teil 1 Einleitung

1 Zum Leben und Werk von Max Kalbeck

Max Kalbeck kam am 4. Januar 1850 in Breslau auf die Welt, als Sohn des Oberpostkommissars Eduard Kalbeck und der begabten Sängerin Florentine (Flora), geb. Schade. Zwischen den Jahren 1858–1869 besuchte er das berühmte Breslauer Maria Magdalenen-Gymnasium. Bereits als Mitschüler verfasste er die ersten Gedichte, die die Aufmerksamkeit des in Breslau lebenden Karl von Holtei auf sich zogen. Holtei zeigte Interesse an Kalbecks Lyrik, schrieb darüber eine freundliche Rezension in der „Schlesischen Zeitung“1 und verschaffte sogar dem jungen Kalbeck einen Verleger. So erschien in Breslau sein erster Lyrikband Aus Natur und Leben (1870). In demselben Jahr begann Kalbeck auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium an der Breslauer Universität, das aber seinem kunst- und literaturorientierten Interesse wenig entsprach. Er hörte lieber die Vorlesungen über Literatur- und Kunstgeschichte.

Eine Wende in seinem Leben brachte das Jahr 1871, und zwar aus zumindest zwei Gründen: es starb seine Mutter, Kalbeck brach seine Studien in Breslau ab und übersiedelte auf Vorschlag von dem späteren Nobelpreisträger Paul Heyse nach München. Heyse wurde von Karl von Holtei auf das junge Talent aufmerksam gemacht. Der Aufenthalt in München, obwohl er nur drei Jahre andauerte, war eine wichtige Station in der schriftstellerischen Laufbahn Kalbecks. Dort wurde er in die Dichtervereinigung „Krokodil“ aufgenommen. Das war ausschlaggebend für seine weitere Entwicklung als Dichter und prägte seine ästhetischen Ansichten. Außerdem bekam er dadurch Kontakt mit anderen anerkannten Dichtern und Schriftstellern – neben Heyse mit Emmanuel Geibel, Henrik Ibsen, Hermann Lingg, Friedrich Bodenstedt und Felix Dahn.

Das poetische Programm der „Krokodile“2 kann man auf einen gewissen, lebensfernen Idealismus zurückführen. Mit ungewöhnlicher Betonung des Idealen schlossen die Münchener Dichter alles Niedrige, Gemeine, Häßliche und Alltägliche aus. Mit der Abwendung vom Alltäglichen ging bei ihnen die Abkehr vom Realen und vom Volkstümlichen einher. Für die Bearbeitung wählten sie alles Große, Edle und Entfernte. Die Dichter des Münchener Dichterkreises ←13 | 14→wollten der Tatsache das Ideal entgegenstellen. Auch in der Form strebten sie besonders strengen Idealen nach und nahmen sich oft den Grafen August von Platen zum Vorbild. Dieser Theoretiker der Ästhetik und Dichter pflegte die Virtuosität der Form in der deutschen Literatur. Auf ihn lässt sich die betonte Formenpflege und Formenliebe der Münchener zurückführen.

Mit ihrer Vorliebe für den hohen Stil und der Neigung zum Vornehmen wurden die Werke der „Krokodile“ von Seiten der Naturalisten kritisiert (als „Produktion für Massengeschmack“). Im Unterschied zu den Naturalisten wollten die Münchner Dichter keine bestimmten politischen oder sozialen Wirkungen erzielen, sondern nur künstlerische. Kern ihres Wirkens war die Wiederbelebung und Stärkung der Selbstbestimmung und des Verantwortungsgefühls des Künstlers. Der Dichter war in ihrem Verständnis zugleich ein Priester des Volkes.

Die Münchener „Krokodile“ trafen sich wöchentlich einmal nachmittags im Café „Stadt München“ und später im Café „Daburger“. Es wurden meistens neue Gedichte der Mitglieder vorgelesen und in einer Debatte technische Fragen wie auch innere Formen und Gesetze erörtert. Den Höhepunkt erreichte das „Krokodil“ im Jahre 1862 mit der Veröffentlichung des „Münchener Dichterbuches“ (hg. von Geibel). Die Geschichte der „Krokodile“ schließt mit dem von Heyse im Jahre 1882 herausgegebenen Neuen Münchener Dichterbuch – hier wurden sieben Gedichte von Kalbeck abgedruckt.

Nach seiner Rückkehr in die Stadt an der Oder im Jahre 1874 vertiefte Kalbeck seine Kontakte zu den Breslauer Dichterkreisen. Noch während seiner Studienzeit in Breslau war er – u.a. zusammen mit Kurt Laßwitz – Mitglied eines Jungakademikervereins „Dintenfaß“. Dieser Dichterkreis verband sich mit dem „Verein zur Pflege der Dichtkunst“, so dass am 9. April 1872 der endgültige Name „Verein Breslauer Dichterschule“ beschlossen wurde. Zwischen dieser Dichterversammlung und den Dichterkreisen von München bestanden vielfältige Verbindungen im Hinblick auf Personen, Programme, Organisationsstrukturen wie auch Publikationsorgane3. Kalbeck ist ein Beispiel für diese Wechselwirkungen. Er versuchte seine dichterischen Erfahrungen aus München nach Breslau zu übertragen, wie das Programm des „Münchener Idealismus“ oder seine Identifikation mit dem in München herrschenden Formideal.

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Im Jahre seiner Rückkehr nach Breslau gab Kalbeck eine Lyrik-Anthologie Deutsches Dichterbuch heraus, das sich mit seinem Titel an die von Geibel im Jahre 1862 herausgegebene Gedichtsammlung Münchener Dichterbuch anschloß. Es war kurz nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges. Kalbecks Sammlung ist aber kein nationales Kampfbuch; er präsentiert hier Natur- und Liebesgedichte von vorwiegend jüngeren und demnach noch unbekannten Dichtern. Neben dieser Sammlung ist Kalbeck Autor von insgesamt fünf Lyrikbänden: dem oben genannten Band Aus Natur und Leben (Breslau 1870), dann Wintergrün. Eine Blumensprache in Versen (Breslau 1872), Nächte. Lyrische Dichtungen (Hirschberg 1878, 2. Auflage Berlin 1880), Zur Dämmerzeit (Leipzig 1881) und Aus Alter und neuer Zeit. Gesammelte Gedichte (Berlin 1890), wobei der letzte Band eine chronologisch geordnete Auswahl von Kalbecks schon publizierten Gedichten ist.

Die Widmung auf der ersten Seite im Lyrikband Aus Natur und Leben – „Den Freunden im Dintenfaß“ – verweist auf Kalbecks Zugehörigkeit zu dem oben erwähnten Breslauer Jungakademikerverein und auf seine Dankbarkeit für dessen Mitglieder, die ihn „recht von Herzen aufgenommen haben“. Diese Gedichtsammlung kündigt die programmatische Ausrichtung Kalbecks an: Seine Gedichte sind Natur- und Liebesgedichte. Kalbeck bleibt dieser Thematik treu auch in seinen weiteren vier Lyrikbänden. Somit stellt er sich in die Traditionslinie der deutschen Romantik, seine Lyrik erinnert an die Lyrik Eichendorffs und Heines. Während die Angehörigen der Breslauer Dichterschule eine Entwicklung in die Richtung des Naturalismus durchmachten, waren die Gedichte Kalbecks nach wie vor spätromantische und biedermeierhafte Liebes-, Natur- und Heimatgedichte. Er ließ sich durch die neuen Strömungen nicht beeinflussen, und während bei seinen Kollegen die Töne realistischer und politischer Lyrik herauszuhören waren, ergriff Kalbeck niemals Wort zu den politischen Themen.

Parallel zu der dichterischen Aktivität entwickelte Kalbeck ein Interesse an der Musik. Seine musikalische Begabung entdeckte sehr früh und förderte seine Mutter. Bereits als sechsjähriger Knabe nahm er Geigenunterricht bei Ignaz Peter Lüstner (1793–1873). Dieser Violinist und Musikpädagoge gründete in Breslau das Institut für gründliche Erlernung des Violinspiels, aus dem begabte Geiger und Musiker hervorgingen, darunter Max Kalbeck. Neben dem Geigenspiel wurde Kalbeck auch im Gesang ausgebildet. Sein Gesanglehrer war Leopold Damrosch (1832–1885): Ab dem Jahre 1861 durfte Kalbeck als Sängerknabe in dem von Damrosch gegründeten Konzert- und Chorverein auftreten. Ein anderer wichtiger Musiklehrer Kalbecks war der Violinist und Dirigent Adalbert Blecha (geb. um 1820, gest. 1870), der zugleich der Musikdirektor im Orchester des Breslauer Stadttheaters war. Er erlaubte seinem begabten Schüler Max Kalbeck ←15 | 16→bei Vorstellungen in diesem Theater mitzuspielen. Nach der Mutation im Jahre 1867 trat der Breslauer zusätzlich als Kirchensänger und Konzertsolist auf. In München brach er sein Jurastudium ab und besuchte stattdessen in den Jahren 1873–1874 die Königliche Musikschule. Er lernte dort Geige bei Josef Walter, Orchesterspiel und Chorgesang bei Franz Wüllner und Komposition bei Joseph Rheinberger. Alle drei Münchner Pädagogen vertraten die Richtungen, die von Konzepten der aufkeimenden Spätromantik abweichen sollten. Das prägte Kalbecks musikalische Ansichten: Aus dieser Lehrerkombination kommend, vertrat er eine konservative Haltung, die in der klassischen Tradition verankert war.

Die musikalische Ausbildung und die musikalischen Erfahrungen waren ausschlagegebend für Kalbecks weitere, musikkritische Tätigkeit. Ab Oktober 1874 wurde er – als Nachfolger von dem kompetenten und erfahrenen Meister des Faches Friedrich Wilhelm Viol – Musikberichterstatter und Feuilletonist der „Schlesischen Zeitung“ und ab 1879 der „Breslauer Zeitung“. Beide Zeitungen waren die wichtigsten und bekanntesten Tagesblätter der Stadt. Dem jungen Kalbeck wurde also eine hochinteressante und zugleich keine einfache Aufgabe anvertraut. Seine ersten Kritiken erschienen in der „Schlesischen Zeitung“ bereits zwischen Januar und Juni 1874. Kalbeck signierte sie mit dem Buchstaben „X“. Auch seine späteren Breslauer Kritiken unterschrieb er selten mit dem Namen.

„Wohl kaum ist außer Berlin und Wien eine Stadt in musikalischer Beziehung so gut situiert als unser Breslau. Selbst Residenzen und Orte, an welchen sich Bildungsanstalten für Musiker befinden, wie München, Leipzig, Dresden, Stuttgart u.a., können sich, was die Quantität der Musikaufführungen betrifft, nicht mit Breslau messen. Wir hatten Gelegenheit uns davon persönlich zu überzeugen und wünschen nur, daß der Strom, der hier so gewaltig in die Breite geht, an Tiefe nichts verliert. Es hängt, wie wir glauben, mit dem Charakter des Schlesiers und dem des Breslauers im Besonderen eng zusammen, daß gerade die Musik die von ihm bevorzugte Kunst ist“4. Diese Worte stammen aus dem Artikel von Kalbeck in der „Schlesischen Zeitung“ vom 15. Oktober 1874 und schildern, wie reich das musikalische Leben in Breslau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Ab dem Jahre 1827 wirkte hier die von Johann Theodor Mosevius ins Leben gerufene Singakademie. Bernhard Scholz leitete den im Jahre 1861 gegründeten Breslauer Orchesterverein, in dessen Rahmen die Konzertabende veranstaltet wurden. Auch in dem bekannten Hotel de Silesie wurden durch ←16 | 17→den Tonkünstlerverein wichtige Konzerte veranstaltet, wo sich junge Breslauer Talente präsentieren durften.

Über den Wert und die Bedeutung der Breslauer Musikkritiken Kalbecks schreibt Piotr Szalsza Folgendes: „Für die künftigen Forschungen zum Thema ‚Das Musikleben in Breslau‘ bedeuten Kalbecks Kritiken eine unschätzbare historische Quelle. (…) Genauigkeit und Ehrlichkeit eines Musikreferenten verband der junge Kalbeck mit erstaunlicher Sachlichkeit und musikgeschichtlichen Kenntnissen. Jede niedergeschriebene Kritik bedeutete eine Beschreibung des Ereignisses – womit vor allem die künstlerische Interpretation gemeint ist. Wir haben es aber auch immer mit einer tiefen historisch und formal dokumentierten Analyse der vorgeführten Kompositionen zu tun“5.

Die Leiter der „Schlesischen Zeitung“ vertrauten Kalbeck auch andere Gebiete der Berichterstattung an. Neben den Musikkritiken schrieb er Theaterkritiken wie auch Berichte über die Ereignisse im Bereich der Bildenden Künste. Aus seinen Kritiken geht hervor, dass die damalige Stadt Breslau auf der kulturellen Ebene viel anzubieten hatte: Es existierten hier zahlreiche kulturelle Institutionen und Vereine. In der Schweidnitzer Straße wurde im Jahre 1871 das Stadttheater wieder eröffnet, nachdem es zweimal durch Feuer zerstört worden war. Dieses Theater spielte in Breslau eine Führungsrolle, und zwar dank seinem langjährigen Direktor Theodor von Löwe, der das Stadttheater zum „Mekka der dramatischen Kunst“ machte. Daneben existierten in Breslau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch drei wichtige Bühnen, wo man eine Art alternatives Repertoire pflegte. Es geht um das Volkstheater, das Thalia-Theater und das Lobe-Theater. Dieses letzte wurde vom Schauspieler und Regisseur Theodor Lobe im Jahre 1869 erbaut. Die Eröffnung erfolgte am 1. August mit Lessings Komödie Minna von Barnhelm, die ja in Breslau entstanden war. Lobe pflegte ein anspruchsvolles Repertoire – es wurden Stücke von deutschen (Lessing) und europäischen (Shakespeare) Klassikern, aber auch von zeitgenössischen Autoren (Ibsen) gespielt. Das im Jahre 1870 eröffnete Thalia-Theater mit seinem volkstümlichen Programm sollte die anderen Bühnen ergänzen, indem es auf den Geschmack der Arbeiterklasse eingestellt war.6

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte auch ein seit langem in Breslau geplantes kulturelles Vorhaben realisiert werden, und zwar die Gründung des Schlesischen Museums der Bildenden Künste. Gegen Ende des Jahres 1876 wurde das Kuratorium dieses Museums einberufen und zwei Jahre später dessen Direktor, ein Künstler aus Berlin namens Albert Berg, ernannt. Berg berief Kalbeck auf die Stelle seines Assistenten und Archivars. Kalbeck sollte bekannte Werke bzw. gute Kopien dieser erwerben. Leider verschlechterten sich bald die Verhältnisse zwischen Berg und Kalbeck, so dass es zur Auflösung des Dienstvertrages im Herbst 1879 kam. Der Breslauer übernahm dann das Musikreferat in der „Breslauer Zeitung“.

Kalbecks Zusammenarbeit mit den Breslauer Periodika endete im Jahre 1880, das heißt in dem Jahre, mit dem ein neuer Abschnitt in seiner Biographie beginnen sollte. Seine letzte Breslauer Kritik ist mit 14. Februar datiert. Am 12. Februar starb sein hochgeschätzter Lehrer und Förderer Karl von Holtei. Am 15. Februar reiste der 30-jährige Kalbeck nach Wien, nachdem er von Eduard Hanslick für die gerade ins Leben berufene „Wiener Allgemeine Zeitung“ empfohlen worden war. Das deutet darauf hin, dass Kalbecks Verdienste auch aus der Ferne beobachtet und hoch geschätzt wurden. Eduard Hanslick, der Gründer und Leiter des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der Universität Wien, ist eine Schlüsselfigur zum Verstehen und zur Rekonstruktion des späteren musikalischen Werdegangs Kalbecks. Er wurde für Kalbeck ein Mentor, später auch ein Freund, wovon ihre rege, in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München aufbewahrte Korrespondenz aus den Jahren 1880 bis 1904 zeugt. Hanslicks umstrittene Habilitationsschrift zur Musiktheorie Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst (1854), die eine große Resonanz auch außerhalb Wiens fand und die eine neue formalistische Richtung in der Musikästhetik eröffnete, übte auf Kalbeck einen starken Einfluss aus. Durch seine Wiener Musikkritiken realisierte Kalbeck praktisch das, was Hanslick theoretisch postulierte7.

Die „Wiener Allgemeine Zeitung“ erschien ab 1. März 1880. Dort war Kalbeck zunächst Musikreferent, seit 1. Juli 1880 aber auch schon Feuilletonredakteur der „Wissenschaftlichen Beilage“. Im Jahre 1883 wechselte er zur „Presse“, mit der er bis 1890 verbunden war. Seit 1890 schrieb Kalbeck auch für die Wiener Wochenschrift „Montags-Revue“. In der Zwischenzeit begann er die Zusammenarbeit ←18 | 19→mit der Tageszeitung „Neues Wiener Tagblatt“: Im Jahre 1886 übernahm er das Burgtheaterreferat. Mit 5. Dezember 1895 berief ihn das „Neue Wiener Tagblatt“ zusätzlich zum Musikreferenten. Kalbeck meldete stolz in seinem Tagebuch 1895: „Nun habe ich eine Doppelstellung, wie sie kein Wiener Kritiker jemals gehabt hat: zwei erste Referate bei dem zweitgrößten und verbreitesten Blatte! Da werden manche Leute Augen machen“8. Kalbecks journalistische Karriere in Wien dauerte ohne Unterbrechung rund 40 Jahre, bis zu seinem Tode am 4. Mai 1921.

Hinter jedem Blatt, für das Kalbeck seine Texte schrieb, verbarg sich ein bestimmtes politisches Programm. Die „Wiener Allgemeine Zeitung“ vertrat die Interessen des föderalistischen Liberalismus, später zeigte sie eine linksliberale Haltung. „Die Presse“ vertrat eine zentralistisch-großösterreichische Linie mit liberaler Prägung. Für die Wochenschrift „Montags-Revue“ war eine deutsch-liberale Haltung charakteristisch, auch wenn sie auf politische Unabhängigkeit bedacht war. Das „Neue Wiener Tagblatt“ bezeichnete sich selbst im Untertitel als „demokratisches Organ“. Es war links-liberal orientiert und vertrat eine antiklerikale, antifeudale, religiös tolerante und wissenschaftsgläubige Linie.9 Die im Allgemeinen liberale Ausrichtung dieser Zeitungen kann auch über Kalbecks politische Ansichten etwas besagen, auch wenn er sich politisch nie engagierte.

Neben der journalistischen Karriere entfaltete Kalbeck auch eine weitere Tätigkeit als Übersetzer und Bearbeiter von Operntexten. Die erste Übersetzung galt Mozarts Don Giovanni und wurde im Jahre 1887, im Jahre des hundertsten Jubiläums dieses Werkes, in der Wiener Hofoper verwendet. Unter den von Kalbeck übersetzten bzw. bearbeiteten Libretti (in den meisten Fällen zuerst für die Wiener Hofoper erstellt, dann nachgespielt von zahlreichen Bühnen) befinden sich sowohl Meisterwerke als auch „die Eintagsfliegen“. Insgesamt hat Kalbeck ungefähr 60 Operntexte bearbeitet bzw. übersetzt – die genaue Zahl lässt sich schwer herausfinden.

Max Kalbeck wurde von einigen seiner Wiener Zeitgenossen ironisch als derjenige bezeichnet, der die Anschauungen seines Förderers Eduard Hanslick fortpflanzte. Dieses Urteil finden wir bei Karl Kraus in seiner satirischen Zeitschrift ←19 | 20→„Die Fackel“10. Die Schriften des österreichischen Musikschriftstellers, vor allem die Abhandlung zur Musiktheorie Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, prägten in der Tat Kalbecks musikästhetische Anschauungen. Diese kann man durch das Prisma der für die Wiener Moderne charakteristischen Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der neuromantischen Richtung (also Komponisten der sog. „Neudeutschen Schule“ wie etwa Richard Wagner, Franz Liszt oder Anton Bruckner) und den Anhängern der traditionellen Richtung (verkörpert von Johannes Brahms) sehen. Kalbeck notierte in seinem Tagebuch: „Meine Ablehnung gegen Wagner und Genossen nimmt immer noch zu, meine Bewunderung für Brahms desgleichen. Beides liegt mir im Blute“11. Der Breslauer kannte Brahms persönlich. Ihre Bekanntschaft begann in Breslau Ende 1874 und wurde auch später, nach Kalbecks Übersiedlung nach Wien, gepflegt. Am 11. März 1879 bekam Brahms von der Universität Breslau den Titel des „Doctor honoris causa“, was als eine Durchsetzung der Antiwagnerianer-Lobby, zu der auch Kalbeck gehörte, zu sehen ist. Kalbeck schenkte dem Schaffen Brahms’ eine bedingungslose Bewunderung und schuf ihm ein Denkmal in der Form einer vierbändigen Biographie, die er kurz nach dem Tode des Komponisten zu schreiben begann. Trotz einiger subjektiven Interpretationen und eines publizistischen Stils wird dieses Werk in den wichtigsten musikalischen Lexika zitiert als eine wichtige Quelle für die Erforschung des Lebens und des Schaffens von Brahms.12 Kalbeck wirkte auch bei der Edition der Briefe von und an Brahms mit – die heutige Forschung verdankt ihm die Herausgabe der sieben von insgesamt 16 Bänden des Brahms-Briefwechsels (erschienen zwischen 1907–1922).

Wenn wir das Lexikon Musik in Geschichte und Gegenwart aufschlagen, erscheint dort Kalbeck als „Musikschriftsteller, Musik- und Theaterkritiker, Lyriker, Librettist und Übersetzer“. Der Breslauer war eben auf vielen Gebieten tätig. Das betont u.a. Uwe Harten in seinem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Max Kalbeck – eine Mehrfach-Begabung13. Für mich war Kalbeck in erster Linie ein Zeitungsschriftsteller, heute würden wir sagen: ein Journalist. Seine ←20 | 21→eigene Beziehung zu der journalistischen Beschäftigung veranschaulicht das Vorwort zu der Wagner-Kritik Das Bühnenfestspiel zu Bayreuth. Eine kritische Studie, das in der Form eines Buches in Breslau im Jahre 1877 erschien. Kalbeck schreibt hier kurz, aber sehr bildhaft und ironisch über das Schicksal der journalistischen Texte. Er bezeichnet einen Journalisten als Tagesschriftsteller. „Den meisten Zeitungsartikeln ergeht es nicht viel besser als den Eintagsfliegen: gleich nach ihrer Geburt flügge, schwärmen sie fröhlich in die Welt hinaus und büssen ihre leichte Lebenslust mit einem ruhmlosen Tode bei Sonnenuntergang“14. Manchmal aber – so schreibt Kalbeck weiter – „verirrt sich ein bunter Schmetterling, dem die Blumen der Wiese gern ein längeres Leben gegönnt hätten, in die Spalten der Tagesblätter. Freundliche Hände heben den Entseelten wol auf und bringen ihn unter Glas, dass man noch ferner der schillernden Flügeldecken sich erfreuen könne; und ward er auch nur eine schöne Leiche, so durfe er doch im Tage sagen non omnis moriar…“15. Dem journalistischen Werk entsprießen also auch literarische Perlchen, die mehr oder weniger zufällig eine Chance auf ein längeres Bestehen haben. Dass Kalbeck diese Perspektive ironisch versteht, erfahren wir bald in den nächsten Zeilen, in denen der Breslauer schreibt, dass der verdächtigte Findling sogleich unter die mikroskopische Lupe gesetzt wird. Es wird zugesehen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist: „Sie zälen ihm die Haare an den Beinen, finden, dass ihrer zu wenig oder zu viele; daß der Flügelstaub zu dünn oder zu dick aufgetragen; daß die Fülhörner zu kurz oder zu lang u.s.w.“16. „Armes Pfauenauge, wärst du lieber bei den Blumen auf der Wiese geblieben…“17 – diese Worte zeigen Kalbecks ironische Distanz zu seiner journalistischen Beschäftigung. Er schrieb sie im Jahre 1877. Hatte er schon damals geahnt, dass der Beruf des Zeitungschriftstellers zu seiner Hauptbeschäftigung wird?

Details

Seiten
244
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631821602
ISBN (ePUB)
9783631821619
ISBN (MOBI)
9783631821626
ISBN (Hardcover)
9783631820025
DOI
10.3726/b16951
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Wiener Burgtheater Kunst der „Wiener Moderne“ Anthologie der Theatertexte Rezeption der Theateraufführungen Theaterleben Wiens
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 244 S.

Biographische Angaben

Joanna Giel (Band-Herausgeber:in)

Joanna Giel promovierte im Fach Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Wrocław. Seit 2010 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie ebenda tätig. Im Zentrum ihrer Forschung liegen das österreichische Drama und das Wiener Theater sowie der schlesisch-österreichische Kulturtransfer.

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Titel: Max Kalbeck – Theaterkritiken des Wiener Fin de siècle
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