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Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750)

Beiträge zur sechsten Arbeitstagung in St. Pölten (Mai 2019)

von Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)
©2020 Konferenzband 520 Seiten

Zusammenfassung

Das Thema dieses Tagungsbandes sind die vielfältigen Widmungs- und Lobpraktiken in Texten der Mittleren deutschen Literatur als Zeugnisse der Rezeption einer literarischen Tradition aus dem europäischen Raum. Die unterschiedlichen Formen von Paratexten auf diesem Gebiet, wie Widmungen, Vorreden, Ehrengedichte und andere Bezeigungen des Respekts, der Verehrung oder der Freundschaft, werden dabei als inhaltlich bemerkenswerte und rhetorisch stilisierte Hinweise auf Textverständnis, Literaturtradition und persönliche Netzwerke untersucht. Der Festvortrag widmet sich dem Thema Nibelungenlied und Klage.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • Impressum
  • About the book
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Empfohlene Rezeption
  • Prologe und Epiloge in den verschiedenen Handschriften des Eilhartschen Tristrant
  • „Ich Johannes Adelphus Phisicus…“ Literarische Strategien und kommunikatives Umfeld in den deutschen Widmungsreden des Johannes Adelphus Muling
  • Die autorisierende Funktion der Widmung in den Übersetzungen von Agrippas De nobilitate et praecellentia foeminei sexus (1529)
  • Hieronymus Rauschers Vorreden zu den Centurien papistischer Lügen. Ein Beitrag zur Widmungsvorrede in religiöser Kampfliteratur des 16. Jahrhunderts
  • Vorreden zu deutschen Übersetzungen italienischer Literatur des 16. Jahrhunderts – die Figur und die Funktion des Übersetzers
  • Die Widmungstexte der deutschsprachigen Amadisromane vor 1600
  • Warum widmete Nicolaus Reusner 1587 die Icones dem König Friedrich II.?
  • Die Paratexte von Brülows Andromede und Fröreisens Andromeda
  • Widmungspraktiken der Übersetzerinnen im 17. Jahrhundert
  • Widmungs- und Lobpraktiken in Texten der schlesischen Autoren des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel der Widmungspraxis Benjamin Neukirchs
  • Zur Funktion der Widmungsbriefe in Christoph Kölers gedruckten Lateinischen und Deutschen Gedichten
  • Übersetzungen, Umsetzungen, Umschreibungen, Neuschreibungen: Widmungen und Prologe in den ersten deutschsprachigen Fassungen des Don Quixote
  • Die romanischen Literaturen in den Paratexten zu Johann Rists Werken
  • Widmungs- und Lobpraktiken und ihre Hintergründe in zwei aufeinander bezogenen Werken: Sigmund von Birkens PEGNEJS und Johann Georg Pellicers, Martin Kempes und Daniel Bärholzens BALTHIS
  • Dem Vaterland „mit seiner Dinten verpflichtet“. Zueignung, Vorworte und Lobpreis in Valvasors Ehre des Hertzogthums Crain
  • Festvortrag: Nibelungenlied und Klage: eine niederösterreichische Doppeldichtung?
  • Register

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Vorwort

Die Veranstalter der Sechsten Arbeitstagung zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400-1750), die vom 9. bis 12. Mai 2019 in St. Pölten stattfand, legen hiermit die Beiträge zu der interessanten und erfolgreichen Tagung vor.

Wie bereits in den Bänden zu unseren ersten fünf Arbeitstagungen (Eisenstadt 2011, Hundisburg-Haldensleben 2013, Wissembourg 2014, Palermo 2015, Wrocław 2017) ausgeführt, steht im Zentrum des Interesses die Anwendung des Begriffs der „Rezeption“ auf die Mittlere Literatur zwischen 1400 und 1750 – also zwischen Mittelalter und Aufklärung. Die Richtung der Untersuchungen war darauf ausgerichtet, auf dem Wege der Deskription, der Textbeschreibung, Veränderungen formaler und mentaler Art als Phänomene des Rezeptionsvorganges zu objektivieren, um damit zu einem besseren Verständnis vom Arbeitsbegriff „Rezeption“ zu gelangen und gleichzeitig diesen mit neuem empirischen Material zu belegen.

Das Thema dieser Tagung waren die vielfältigen Widmungs- und Lobpraktiken in Texten der Mittleren deutschen Literatur als Zeugnisse der Rezeption einer literarischen Tradition aus dem europäischen Raum. Die unterschiedlichen Formen von Paratexten auf diesem Gebiet, wie Widmungen, Vorreden, Ehrengedichte und andere Bezeigungen des Respekts, der Verehrung oder der Freundschaft, sollten dabei als inhaltlich bemerkenswerte und rhetorisch stilisierte Hinweise auf Textverständnis, Literaturtradition und persönliche Netzwerke untersucht werden.

Wien / Berlin, im März 2020.

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Empfohlene Rezeption

Hans-Gert Roloff (Berlin / Bauer)

Zusammenfassung: Die Autoren der Frühen Neuzeit empfehlen in unterschiedlichen Formen der Einführung dem angestrebten Publikum die Lektüre ihrer Werke. An Hand von vier Beispielen wird gezeigt, dass diese Paratexte als bemerkenswerte Zeugnisse der Kulturgeschichte interpretiert werden können.

Stichwörter: Martin Luther; Johann Fischart; Johann Beer; Sebastian Franck

Meine Damen und Herren,1

wir sind bei unseren Fragestellungen nach den Aspekten der literarischen Rezeption nun bei dem auffälligen Phänomen angelangt, dass eine Vielzahl von Textpublikationen der Literatur der Frühen Neuzeit eine Empfehlung des Autors oder literarischen Vermittlers enthält, die auf die Bedeutung des gebotenen Textes und auf dessen Nutzen für den Rezipienten, also den Leser, expressis verbis hinweist.

Theoretisch kann man das „Empfohlene Rezeption“ nennen – praktisch ist es der Imperativ an die Leserschaft: „Lies es“ oder „Lest es“ – und zwar den vorgelegten Text. Allerdings sollte man hier zwischen dem ideologisch-didaktischen Anlass und dem ökonomisch-vertriebsorientierten Interesse nach Absatz differenzieren, wenngleich beide Interessen – Textempfehlungen und Textvermarktung – einen gegenseitigen Bezug aufeinander haben. Was dem Autor des Textes das mentale Ankommen beim Leser ist, ist für den, der den Text erstellt und vertreibt, das ökonomische Ankommen beim Publikum. Und das läuft auf die ‚heilige‘ oder ‚unheilige‘ Trinität des Buchwesens hinaus, seit es das gibt, also seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert: Autor – Produzent – Leser!

Diese – wenn man es so will banale – Trinität ist zum Rückgrat der Kultur seit der frühen Neuzeit geworden, und zwar gegenüber der manuell bedingten Vorzeit gerade durch die Technisierung der Textvervielfältigung. Insofern erfährt nunmehr die Empfehlung einer Schrift einen weiten Zugang zu entsprechenden Leserschichten.

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Der Historiker, speziell der Literarhistoriker, sieht sich in der Frühen Neuzeit einer Fülle von „Empfohlenen Rezeptionen“ gegenüber, die in Vorworten, Appellen ‚An der Leser‘, Textwidmungen, Lobesbekundigungen für Autor und Werk, usw. begegnen. Sie unterscheiden sich bei genauerem Hinsehen von bloßen Werbetexten aus Verkaufsgründen, wie sie in erweiterten Titeln etwa begegnen, die aus der Feder des Druckers / Verlegers stammen, die aber nicht aus der Feder des Autors bzw. Vermittlers geflossen sind.

Wir haben es mit einer Textsorte zu tun: Die Intention der „Empfohlenen Rezeption“ zielt auf Belehrung, Aufklärung, Warnung vor Verführung, vor moralisch falschen Wegen usw. ab. Man kann diese Textsorte in ihrer Gesamtheit als eine Art ethisches Barometer der Gesellschaft der Frühen Neuzeit bezeichnen. Für den heutigen Literarhistoriker ist daran insofern interessant, festzustellen, was aus welchen Gründen zur Kenntnisnahme durch Literatur empfohlen wird.

Freilich ist das nur ein Teil der tatsächlichen sozialen Wirklichkeit und zwar mehr in ihren Idealen und Lebenswerten als in der Praxis der Bewältigung der Lebensprobleme. Festgeschrieben werden Kriterien eines gewissen Sozial-Codes, der mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht immer identisch ist. Aber die feststellbare Diskrepanz zwischen dem Code und der außerhalb der Literatur überlieferten Wirklichkeit ist geschichtlich höchst aufschlussreich und interessant und lässt die ethischen Spannungen zwischen Ideal und Wirklichkeit erkennen.

Ich gebe ein paar Beispiele dafür, die mir als beachtenswerte Pfeiler für die Anwendungsgeschichte dieser opulenten Textsorte erscheinen.

Beispiel 1

Als Luther 1521 die erste Fassung seiner Übersetzung des Neuen Testaments – das sogenannte September-Testament – in den Druck gab, waren damit nicht die Kollegen der Theologie und die gemeindebediensteten Amtsbrüder angesprochen, sondern vor allem die große Gemeinde des lesekundigen Volkes. Ihnen sollte die „Frohe Botschaft“ in einem verständlichen Text zugänglich gemacht werden.

Die große Schar der Leser hatte ja von den Texten des Neuen Testaments nur Kenntnis vom Hören-Sagen der Prediger oder allenfalls durch die lateinische Version der Vulgata. Die vor-lutherischen deutschen Fassungen waren ohne breite Wirkung geblieben.

Aber Luther und seinen Gefolgsleuten kam es auf die unmittelbare Textkenntnis weiter Volkskreise an. Das war der geniale Schachzug der frühen Re←10 | 11→formationsbewegung. Luther war auch – im Nachhinein gesehen – ein bewundernswerter Taktiker, der erkannte, dass der bloße, nunmehr in der Volkssprache verständlich vorliegende Text Anlass geben konnte, die Mitteilungen der „Frohen Botschaft“ nicht nur Sinn für Sinn zu begreifen, sondern sie zu deuten und nach eigenem Bedarf verständlich zu machen. Um das zu verhindern, griff Luther zum Mittel der Leser-Lenkung in Gestalt der Vorreden. Mit ihrer Hilfe eröffnete er das September-Testament, aber setzte sie auch zur Sinn-Ermittlung für den Leser bei einzelnen Texteinheiten ein. Die lutherische Ur-Vorrede im September-Testament 1521 ist in ihrer Funktionalisierung des Lesers höchst aufschlussreich. Sie beginnt folgendermaßen:

ES were wol recht vnd billich / das dis buch on alle vorrhede vnnd frembden namen auszgieng/ vnnd nur seyn selbs eygen namen vnd rede furete/ Aber die weyl durch manche wilde deuttung vnd vorrhede/ der Christen synn da hyn vertrieben ist/ das man schier nit mehr weys/ was Euangeli oder gesetz/ new oder alt testament/ heysse/ fodert die noddurfft eyn antzeygen vnd vorrhede zu stellen/ da mit der eynfelltige man/ aus seynem allten wahn/ auff die rechte ban gefuret vnd vnterrichtet werde/ wes er ynn disem buch gewartten solle/ auff das er nicht gespott vnnd gesetze suche/ da er Euangeli vnd verheyssung Gottis suchen sollt.2

Luther differenziert dann im Folgenden das Neue Testament vom Alten Testament, in dem aber das Neue Testament mehrfach verheißen ist, und er belegt das an Textbeispielen aus dem Alten Testament. Er definiert für den Leser die Bedeutung des Evangeliums:

SO ist nu das Euangelium nichts anders/ denn eine Predigt von Christo/ Gottes vnd Dauids Son/ warem Gott vnd Mensch/ der fur vns mit seinem sterben vnd aufferstehen/ aller menschen Sûnde/ Tod vnd Helle vberwunden hat/ die an jn glauben.3

und weist auf die der Überlieferung des Textes entsprechenden Unterschiede in der Struktur, Länge bzw. Kürze der Evangelien hin.

Schließlich gibt Luther dem Leser noch den Hinweis, wie dieser das Evangelium zu verstehen und anzuwenden habe: nämlich keinesfalls als Gesetzoder Lehrbuch im Sinne des Alten Testaments, sondern als Dokument des Glaubens an die Erlösungstat Christi:

DARumb sihe nu drauff/ Das du nicht aus Christo einen Mosen machest/ noch aus dem Euangelio ein Gesetz oder Lerebuch/ wie bis her geschehen ist/ vnd etliche Vorrede auch S. Hieronymi sich hôren lassen. Denn das Euangelium foddert eigentlich nicht vunser werck/ das wir da mit from vnd selig werden/ Ja es verdampt ←11 | 12→solche werck/ Sondern es foddert den glauben an Christo/ Das derselbige fur vns/ Sûnde/ Tod vnd Helle vberwunden hat/ vnd also vns nicht durch vnser werck/ sondern durch sein eigen werck/ sterben vnd leiden/ from/ lebendig vnd selig machet/ Das wir vns seines sterbens vnd Siegs mûgen annemen/ als hetten wirs selbs gethan.4

Und so entlässt der Vermittler der Hl. Schriften seinen Leser der deutschen Sprachform mit dem Leser-Imperativ der Vorworte: „Sihe/ nu richte dich also/ in die Bûcher des newen Testaments das du sie auff diese [weise] zu lesen wissest.“5

Von grundlegender Bedeutung der Vorreden ist natürlich jene zu den Römerbriefen, die die Grundzüge der evangelischen Glaubenslehre enthält; auch hier regiert der Leser-Imperativ: „du aber folge dieser Epistel in jrer ordnung“,6 und der Schlussabschnitt bekräftigt für den Leser, was er aus diesen Briefen entnehmen soll: „Also finden wir in dieser Epistel auffs allerreichliste/ was ein Christen wissen soll […]“.7

Bemerkenswert ist, dass Luther zunächst mit der Offenbarung Johannis nichts anfangen konnte und das freimütig in dem kurzen Vorwort eingestand: „meyn geyst kan sich ynn das buch nicht schicken“8 – das Vorwort von 1530 aber war dann sehr ausführlich!

Die intendierte Popularität der Bearbeitung Luthers ist, wie die Luthergeschichte zeigt, voll aufgegangen: Luthers Bibel-Verdeutschung ist bis heute kontinuierlich der Volkslesestoff geblieben und hat sich seinen unerschöpflichen Sprachschatz in der sprachlichen Kommunikation aller Art bis heute erhalten.

Beispiel 2

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind zwei Schriften herausragend, die beide mit dem Namen Johann Fischart (1546–1590) verbunden sind: die Amadis-Rezeption in deutscher Sprache (1572) und die deutsche Rezeption von Rabelais’ humanistischer Satire Gargantua (1575). Der Frankfurter Groß-Verleger Sigmund Feyrabendt hatte für die Übersetzung des 6. Bandes der Amadis-Serie Fischart gewonnen.

Die „Zuwendung“ an den Leser geschieht hier vierfach:

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Erstens unmittelbar im Titel: „gantz nuetzlich von guten Lehren/ vnd lieblich von geschichten zu Lesen“.

Danach wird eine Lesergruppe speziell angesprochen: „Allen Ehrliebenden vom Adel/ züchtigen Frawen vnd Jungfrawen/ sehr nuetzlich vnd kurtzweilig zu lesen“.

Die Empfehlung wirkt wie ein sozialer Persilschein. Der Titelverfasser könnte der Drucker, aber auch der Verleger gewesen sein.

Zweitens widmet der Verleger bzw. Buchhändler Sigmund Feyrabendt einer adligen Dame, „Anna von Graenrodt/ geborner von Gemmingen“, den Band mit einer längeren devoten Zuschrift. Darin weist der Verleger neben den Devotionalien auf folgendes literarisch Interessantes hin:

a)der Text sei „in Franckreich/ Italia/ Hispania vnd Engellandt/ von meniglich/ sonderlichen aber von Frawen vnd Jungfrawen/ sehr lieb vnd werth/ so wol jres nutzens/ als sondern angenemen belustigung/ halben/ gehalten“ worden.

b)Der Text sei „hieuor in Frantzôsischer sprach der Kônigin in Franckreich/ dediciert vnd vbergeben worden/ als darauß fuerwar jede Adeliche Person/nit wenig nutzens neben der belustigung/ zu löblicher handhabung der Tugendt wie ausser einem lieblichen lustgarten/ in dem gute vnd boese Kreuter gefunden/ nemen vund abbrechen/ das Bôß aber vnd lasterlich zurueck stellen vund fahren lassen mag“.

c)Neben der Charme-Offensive kommt aber auch das Ökonomische zu Wort; Feyrabendt läßt die Dame wissen: „Ich trag auch gentzlich kein zweiffel/ wenn E. G. ermelte historien lesen/ werden sie die andern auch begeren/ darauß zu vernemen/ was solche Frantzôsische History inhalt/ der hoffnung E. G. werde aûch solche in Teutscher sprach dero G. gefallen lassen.“

Einerseits weist der Verleger darauf hin, dass es sich bei Amadis um ein moralisches Lehrbuch handelt, andererseits geht es ihm um die Bestellung der Folgebände, die Feyrabendt im Plan hatte, etwa noch einmal sechs weitere Bände übersetzen zu lassen! Die wollen natürlich auch verkauft werden.

Drittens folgt auf diese Widmung eine „Vorrede an den gûnstigen Leser“, auch aus der Feder des Verlegers. Feyrabendt gibt einen Überblick über die Buchwelt „von allen zeiten her“:

Die sozialen Maßstäbe für die Bewertung von Gut und Böse sind aber die der Moralia præcepta göttlicher Gnade. Das Bild vom Kräutergarten steht dafür bereit.

Immerhin können wir diesen Ausführungen des Verlegers entnehmen, dass er u.a. mit der Produktion der Amadis-Serie und Publikationen wie dem großangelegten Buch der Liebe bewusst Neuland betreten hat, für das das Publikum und die Zeit im letzten Drittel des Reformationsjahrhunderts bereits reif waren.

Vier tens: Was aber sagt der Vermittler des französischen Textes, Johann Fischart dazu? Er fügt nach seinem Verleger in 138 Vierzeilern „Ein Vorbereitung in den Amadis“ hinzu. Er greift dabei in poetischer Form den Gift-Begriff der moralisierenden Literaturkritik der Zeit auf und versucht, den Roman mit Gegenargumenten und Bildern ad absurdum zu führen. Ein kultur- und sozialgeschichtlich höchst bemerkenswerter Akt!

Zunächst erzählt Fischart in 40 Versen die Legende vom König Mithridates (132–66 v.Chr.), einem „hellenischen Barbaren“ und Kleinkönig (so Paul-Wissowa),9 der gegen Gifte aller Art immun war, und zwar dadurch, dass er als Vertriebener sieben Jahre in Wäldern lebte und sich nur von Wurzeln, Kräutern und Früchten ernährte. Diese Nahrung immunisierte ihn. Als er von Pompeius besiegt wurde und nach Rom zum Triumph transportiert werden sollte, ließ er sich von einem Söldner töten, da das eingenommene Gift nicht wirkte. Das setzt Fischart um:

Das macht/ er het vor eingenommen/

Solch kôstlich kraut/ solch krâfftig samen/

Der gar kein gifft nicht mocht erleiden/

Vnd mußt diß falls den Todt vermeiden.

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Also soll es auch hie geschehen

Jn diesem Buch/ darinn jhr sehen/

Wie in Comedij vnd im spiel

Beide guttes vnd auch böses viel/

Das jhr euch machet vorgerüst/

Mit guttem/ welchs das bôß verdûst/

Vnd habt mit reinem kraut der Thugend

Vor ewer hertz erweicht von jugend/

Vnd seyt bereyt mit Gôttlich lehren

Darmit jhr môcht dem bôsen wehren/

Braucht den verstand/ den jhr all habt

Darmit euch Gott dan hat begabt/

Das jhr das bôß vom gutten scheiden/

Vnd so jhrs kennen auch vermeiden.

Wa jr dann also seyt versehen/

Wurd euch vom gifft kein schad geschehen/

Vnd wurd den Reinen alles rein/

Wer aber nicht das Heilkraut ‚Tugend‘ kennt, und genießt das Gift, also das Schändliche im Text, der geht ins Verderben. Wer kein Moralbewusstsein hat und demzufolge nicht den Unterschied zwischen Zucht und Üppigkeit kennt, „Derselb des Buechleins – des Amadis! – sich entheb.“

Wichtig ist der Hinweis, das Buch zeige gute und böse Leute; die Bösen seien deshalb darin dargestellt, dass man die Guten daran erkennen kann und wem „History vnd geschicht“ und „der Poeten jhre Kunst“, Parabeln zu dichten, die „schönste lehren süß verdecken“, nichts Lernbares sagen, der solle der Literatur bzw. der Dichtung fernbleiben! Gott stehe hinter Amadis – das bedeute „Gottes lieb“. Niemand soll den Roman verachten, ehe er ihn nicht gelesen habe; der Leser soll nach dem Gleichnis der Bienen handeln, die nur das Gute, nicht das Schlechte aus den Blüten saugen. Abermals der ‚Vorwort-Imperativ‘!

Dieser vierfache Einsatz für die ethische Werthaltigkeit des Textes dürfte darauf hinzuweisen, wie erforderlich immer noch die Verteidigung der ‚weltlichen‘ Literatur gegen finstere kirchliche Moral gewesen ist. Andererseits aber hat sich allein gerade der deutsche Amadis für einige Zeit als begehrte Lektüre der Zeitgenossen behaupten können.

Auffällig ist allerdings, dass Fischart sein eigentlich großes Werk, die deutsche Bearbeitung von Rabelais’ Gargantua, nur mit einem kurzen Vorwort in 36 Vierzeilern ausgehen ließ, das sich nicht verändert hat – in den neun Auflagen zwischen 1575 und 1631, die dieser schwer lesbare Text erreicht hat.

Es ist immer noch nicht entschieden, ob es sich bei diesem Werk Fischarts um verschrobenen Irrsinn oder um ein höchst geniales Sprachkunstwerk handelt! Die Zeit scheint damit zurecht gekommen zu sein – wir erkennen zwar ←15 | 16→den Spaß und den letztlich sprachlich-existentiellen Ernst der deutschen Konzeption, aber das Meiste bleibt doch auch dem heutigen Leser verschlossen. Fischart wollte dem Leser – wie es im Vorwort heißt – „ein guten dienst thun“, der darin bestünde, ihn von den Plagen des Tages und des Lebens abzulenken. Wie ein Arzt will er durch das Werk „das Gemüt frisch halten“, denn „kurzweil vnd freud“ seien „deß Gemüts artzney vor leid“ (S. 13f.). An sich verrät sein ‚Vorwort‘ eigentlich eine ganz moderne Haltung des Autors zu seinem Kunstwerk und zum Leser: „Lies es und verstehe es nach deinem Gusto!“ Der Autor leistet keine Hilfe zum Verständnis von Form und Aussage! Fischart schließt seinen Vorspruch an den Leser unverbindlich:

So ist diß Buch nicht zu verachten

Dieweil es auch dahin thut trachten,

Und schmiert mit Honig euch das Glaß

Daß der Wärmut eingang deß baß.

Und laßt euch sein, als ob jr hörten

Democritum den Weißheitgelehrten

Überlaut lachen der Welt thorheit,

Die jr Narrheit halt für klug warheit:

Dann man solch Leut auch haben muß

Die weisse Wänd bstreichen mit Ruß:

Und im schimpff die Leut rühren fein:

Dann wir nicht all Catones seyn:

Und gleich wie Schlaff dem Leib wol thut

So kompt kurtzweil dem Gmüt zu gut.

Drumb leß es nun du frölichs Blut,

Ob es dir geb ein frischen muth.

Die sprachsatirischen Wortkaskaden des deutschen Textes sind bereits frei von Morallehren – wo Moralkritik durchklingt, dürfte das auf das Kritik-Konzept Rabelais’ zurückgehen.

Beispiel 3

Johann Beer (1655–1700), österreichischer Protestant, deutscher Immigrant, stand in mitteldeutschen Fürstendiensten als Musiker, Komponist, Schriftsteller. Er veröffentlichte mit 22 Jahren 1677 den ersten Band seines Romans Der Simplicianische Welt-Kucker; der vierte Teil erschien – mit dem ganzen Text-Corpus – 1679. Fast alle seine Romane oder Traktate verfügen über eine Vor←16 | 17→rede, bzw. Widmung, bzw. Anrede an den Leser, in denen jeweils die Grundstrukturen des Textes und dessen Aussage mitgeteilt werden, damit der Leser sich daran orientiere und nicht eigenmächtig zu deuten anfange.

Beers Roman Die Winternächte – 1682 erschienen; der Autor war 27 Jahre alt – mag als Beispiel dienen. Beer legt das Klima des Romans gleich zu Beginn seiner „Vorrede“ fest: Der Text sei „mehr einer Satyra/ als Histori ähnlich“.10 Trotzdem ist er in der modernen Forschung u.a. als romantische Schilderung des oberösterreichischen Landadels verstanden worden. Liest man ihn im Ansatz des Autors, stellt er sich als soziale Kritik an den relativ geistlosen Lebensverhältnissen des kastenmäßig in sich geschlossenen oberösterreichischen Klein-Adels dar, dem es stark an geistigen Interessen und Ambitionen mangelt.

Der Roman wird eröffnet mit dem bezeichnend titulierten Kapitel „Unterricht an den geneigten Leser“. Der Autor sieht sich „gleich einem Gärtner/ der das Unkraut ausrauft und […] die guten Pflanzen einsetzet“.11 Ein bekanntes Bild! Er appelliert an den Nutzen, der dem Leser durch die Lektüre zufällt: „Der Nutz solcher Schrifften/ und die daraus entspringende Lehren werden jederzeit bey denen in hohem Aufnehmen bleiben/ die fähig sind/ unter dem Bösen und Guten einen Unterscheid zu machen.“12

Er referiert dann kurz allgemeine Grundzüge einer Ethik von Gut und Böse, Tugend und Laster, sozialer Ehre und Schande und fährt fort:

Wer hier von auf beyderley Weiß ein Exempel begehret/ der durchlese diese Schrifft/ allwo er eine genugsame Anzahl aller dieser Tugenden und Laster finden wird/ die ihm wol und übel anstehen. Auf eine solche Art wird der Leser gleichsam lachend unterrichtet/ was zu seinem besten dienet/ und kan durch fremde Gesichter seine eigene Gestalt erblicken.13

Darum müssen dergleichen Bücher mit genauer Obsicht und gutem Fleiß gelesen werden/ damit man nicht/ statt/ Goldes/ Koth/ und des statt Perlen/ kleine Steinlein/ sammle.14

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Solches lasse sich der geneigte Leser zum vorhergehenden Unterricht dienen/ auf daß er die Schrifft nicht in einer andern Meinung lese/ als sie geschrieben worden. Alsdann wird die Frucht keines Wegs mangeln […]15

Ich zitiere das als ‚klassisches‘ Beispiel für „Empfohlene Rezeption“ aus dem letzten Viertel des ‚Barock‘-Jahrhunderts: Irgendwann im 18. Jahrhundert bricht die Vorwort-Lenkung weg. Das bedarf noch der Untersuchung ...

Die von Beer gelieferten Kriterien für die Intention seines Romans dürften nicht eigenwillig gewesen sein, sondern als grundsätzliche Überzeugung von der Funktion von Literatur gegolten haben.

Beispiel 4

Als viertes Beispiel möchte ich zum Schluss auf einen renommierten Text hinweisen, der uns zeigt, wie geläufige und sehr bekannte Texte durch Fremd-Autorisation zu Dokumentationsargumenten in der Aussage eines zielbewussten Autors umgestempelt, um-manipuliert, ja argumentativ neu funktionalisiert werden.

Es geht hierbei um Sebastian Francks Vier Kronbuechlein (1534).

Franck hat hier das Lob der Torheit – Encomion Moriæ – des Erasmus und Textpartien aus der Schrift De Incertitudine et Vanitate scientiarum et Artium atque excellentia Verbi Dei Declamatio (Über die Unsicherheit und Eitelkeit der Wissenschaften und Künste und über die Vortrefflichkeit des Wort Gottes – eine Abhandlung) von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim mit eigenen Schlussfolgerungen zu einem Textdokument zusammengezogen, das eine Rechtfertigung von Gottes Wort als Orientierung und Ziel für eine Wiedergeburt den Menschen als Möglichkeit der Reformationsdiskussion darlegte. In der Definition Francks besagt das: „Das lebendig wort ist/ das inwendig vns Leret/ vnd fruchtbar macht. Das tödt/ das vns im Buchstaben vnd flaisch würt furtragen!“16

Das Wort Gottes stand für Franck höher als die Vorstellung von „Gottes Sohn“. Er sah darin Sinn und Ziel menschlicher Weisheit.

Die Schrift hat sich als „eine kompositorische und argumentative Einheit“17 erwiesen. Die dezidierten Erörterungen der Analyse und der Edition des Textes durch Klaus Peter Knauer sind instruktiv und bezeugen in unserem ←18 | 19→Sinn, dass die Autoren dieser Zeit ein hohes Bewusstsein von literarischer Wirkung, von literarischer Konstruktion und von zielgerichteter Leser-Führung hatten. Wir tun gut daran, solche Beobachtungen ernst zu nehmen und die struktur- und vor allem meinungsbildenden Vorgaben literarhistorisch zu würdigen. Denn dadurch beeinflussen sie die zeitgemäße Diskussion im Rahmen eines bereits in dieser Zeit sehr umfangreichen Leser-Potentials!

Die Beispiele zeigen unterschiedliche Verfahrensweise der Leser-Lenkung durch auktorialen Vorbau und auch durch Funktionalisierung von Fremdtexten. Die zielgerichtete ideologische Funktionalisierung von Texten der Frühen Neuzeit dürfte wesentliche Kriterien für eine angemessene historische Einschätzung der Literatur in ihrer Zeit bieten.

So hat die Berücksichtigung dieser zeitgemäßen Intentionen hohen Wert für die historisch orientierte Texterfassung und kann als Schlüsselfunktion zu einem angemessenen Textverständnis späterer Leser-Generationen verhelfen.

Das steht hinter dem Begriff „Empfohlene Rezeption“.

Benutzte Texte:

Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Studienausgabe hg. von Hans-Gert Roloff. 2 Bde. Stuttgart: Reclam 1989.

Fischart, Johann: Amadis. 6. Buch. Nachdruck. Bern: Peter Lang 1988 (=Bibliotheca Anastatica Germanica).

Johann Fischarts Geschichtklitterung (Gargantua). Hrsg. v. A. Alsleben. Halle/S. 1891 (=Neudrucke deutscher Literaturwerke 65-71).

Der kleine Pauly. Bd. 3. München 1979, Sp.1355-58.

Beer, Johann: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen und Hans-Gert Roloff. Band 7. Teutsche Winternächte. Bern: Peter Lang 1994 (=Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken).

Franck, Sebastian: Sämtliche Werke. Band 4. Die vier Kronbüchlein. Hrsg. v. Peter Klaus Knauer. Bern: Peter Lang 1992 (=Berliner Ausgaben).

Knauer, Peter Klaus: Der Buchstabe lebt. Schreibstrategien bei Sebastian Franck. Bern: Peter Lang 1993 (= Berliner Studien zur Germanistik 2).

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1 Der abgedruckte Text entspricht der Vortragsform. Die ausgewählten Beispiele stehen für hunderte und aberhunderte ihresgleichen in der Mittleren Literatur bis etwa ins 18. Jahrhundert.

2 Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Studienausgabe hg. von Hans-Gert Roloff. 2 Bde. Stuttgart: Reclam 1989, Bd. 2, S. 55.

3 Das Neue Testament, Bd. 1, S. 7.

4 Das Neue Testament, Bd. 1, S. 8.

5 Das Neue Testament, Bd. 1, S. 8.

6 Das Neue Testament, Bd. 1, S. 401.

7 Das Neue Testament, Bd. 1, S. 403.

Details

Seiten
520
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783034341745
ISBN (ePUB)
9783034341752
ISBN (MOBI)
9783034341769
ISBN (Paperback)
9783034339735
DOI
10.3726/b17365
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Literatur Frühe Neuzeit Widmungspraktiken Lobpraktiken Rezeption Nibelungenlied
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 520 S., 17 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)

Alfred Noe unterrichtet Romanische Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Hans-Gert Roloff leitete die Forschungsstelle für Mittlere deutsche Literatur an der FU Berlin.

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