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Arrêts de règlement

Gerichtliche Gesetzgebung im frühneuzeitlichen Frankreich am Beispiel des Parlements de Provence

von Daniel Jordanov (Autor:in)
©2021 Dissertation 246 Seiten
Reihe: Rechtshistorische Reihe, Band 493

Zusammenfassung

Das Parlement de Provence erließ in der Zeit seines Bestehens von 1501 bis 1790 zahlreiche arrêts de règlement. Das waren formelle ‚Entscheidungen‘ der Höchstgerichte Frankreichs, die weit über die Funktion eines Gerichts hinausgingen. Denn sie enthielten allgemeinverbindliche Regeln für unterschiedliche Gegenstände, gewöhnlich ohne Bezug zu einem Parteiverfahren. Der Widerspruch zur primären Rolle der Parlements als Gerichte lässt sich nicht einfach mit der Vermengung von Gewalten im Ancien Régime erklären. Dieser Band betrachtet die Parlements als gerichtlich organisierte Gesetzgeber. Auf der Grundlage einer anschaulichen Auswertung der überlieferten arrêts de règlement des Parlements de Provence zeichnet der Autor Inhalte, Form und Verfahren der Akte nach.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort und Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Das Thema und seine Begriffe
  • 1. Arrêts de règlement und Parlements
  • a) Die Institution
  • b) Die Instrumente
  • 2. Vom Quellenbegriff zum Forschungsbegriff
  • a) Der Zugang der modernen Rechtswissenschaft
  • b) Der Quellenbegriff
  • c) Der Forschungsbegriff: arrêts de règlement statt arrêts de police
  • d) Kritik
  • II. Forschungsstand
  • 1. Deutschsprachige Literatur
  • 2. Französischsprachige Literatur
  • a) Monographien
  • b) Standardwerke
  • 3. Bewertung
  • III. Zielsetzung und Themenbegrenzung
  • B. Die Parlements: Gerichte für die Verwaltung des Königreichs
  • I. Geschichte der Parlements
  • 1. Curia Regis und das Parlement in Paris
  • a) Curia Regis
  • b) Parlement de Paris
  • 2. Die Parlements in den Provinzen
  • 3. Das Parlement de Provence
  • II. Die Theorie: Die Parlements zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung
  • 1. Die Cours souveraines
  • 2. Souveränität und Rechtsprechungshoheit
  • 3. Die Gesetzgebung des Königs
  • 4. Die Règlements als Gesetze
  • C. Die arrêts de règlement des Parlements de Provence
  • I. Der überlieferte Bestand
  • 1. Archivquellen – die handschriftlichen arrêts de règlement in den Registern
  • a) Die Register des Parlements de Provence
  • (1) Herkunft, Qualität und Zweck
  • (2) Ordnung der Register
  • (3) Bedeutung und Auswahl der arrêts in den Registern
  • (4) Der Begriff „Arrêt d’État“
  • b) Arrêts d’enregistrement und arrêts de règlement
  • 2. Gedruckte Quellen – die Sammlung von Grimaldy de Régusse
  • a) Die arrêtistes
  • b) Grimaldy de Régusse
  • c) Zweck und Bedeutung der Sammlung von Régusse
  • d) Auswahl der arrêts
  • II. Typische Regelungsgebiete und Gegenstände
  • 1. Leben und Gesundheit
  • a) Die Müllentsorgung
  • b) Gefährliche Waffen und Maskeraden
  • 2. Sicherung der Lebensgrundlagen
  • a) Getreide
  • b) Fischverkauf
  • 3. Berufsausübung
  • 4. Religion und Sitten
  • III. Aufbau, Form und Stil
  • 1. Die Anfrage
  • a) Die Einleitung
  • b) Die Anfrage als Begründung
  • c) Der objektive Stil – Das Subjekt
  • 2. Das Dispositiv
  • a) Das Kernstück des arrêts de règlement
  • b) Der objektive Stil – Das Prädikat
  • c) Maßnahmen und Anweisungen
  • d) Strafandrohungen
  • 3. Bekanntmachungsformel
  • IV. Verfahren
  • 1. Die Einleitung durch Anfragen und Beschwerden
  • a) Die Anfragen des Procureurs
  • b) Requête und réquisition
  • c) Mündliche Anfragen
  • d) Suppliken
  • e) Plaintes
  • 2. Ermittlungen und Zwischenakte
  • 3. Bekanntmachung
  • D. Schlussteil
  • I. Das Parlement de Provence: Gesetzgeber im Gewand eines Gerichtshofes
  • II. Das Problem der Durchsetzung
  • III. Das revolutionäre Verbot und die leise Rückkehr
  • Quellenverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

A. Einleitung

„Un Arrêt de Règlement est une loi publique que personne n’est censé d’ignorer.“1

Ein arrêt de règlement ist ein öffentliches Gesetz, das niemand missachten darf.

I. Das Thema und seine Begriffe

Die arrêts de règlement sind eine Gattung gerichtlicher Quellen aus Frankreich. Der Begriff meint sowohl die Dokumente als auch die damit verkörperten historischen Rechtsakte, die das unmittelbare Ergebnis der Arbeit von Gerichten im Königreich Frankreich vornehmlich vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime 1789 waren.

Die Bedeutung der arrêts de règlement gründete ungeachtet ihres gerichtlichen Ursprungs vor allem auf ihrer Funktion in der Verwaltung und ihrer Gesetzeskraft. Zeitgenössische Theorie und moderne Forschung sprechen ihnen teilweise die Rolle gerichtlicher Gesetze zu. Daher rührt auch das heutige wissenschaftliche Interesse an diesem massenhaft überlieferten Quellentypen2, sowohl in seiner Theorie als auch in der gelebten Praxis der Zeitgenossen3.

Das Aufkommen der arrêts de règlement deckt sich mit der Bildung der ersten modernen Großstaaten des europäischen Kontinents4 in der Frühen Neuzeit. Sie zeichneten sich durch stehende Heere einerseits und ausdifferenzierte Verwaltungsapparate andererseits aus, die sie nach außen unabhängig machten und die Ausübung der herrschaftlichen Gewalt über ein großes zusammenhängendes Territorium innerhalb fester Grenzen ermöglichten. Das Königreich Frankreich ist das herausragende Beispiel für die Entstehung einer großen staatlichen Gesellschaft unter einer zentralen Herrschaft im frühneuzeitlichen Europa. Anders als in Mitteleuropa und insbesondere im Alten Reich konnten die kleineren Territorien weder ihre Unabhängigkeit noch ihre Eigenständigkeit bewahren.

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Die königliche Verwaltung spielte in diesem Prozess der Herrschaftsverdichtung, Vereinheitlichung und Staatsbildung eine entscheidende Rolle. Sie ersetzte in der Frühen Neuzeit schrittweise die personell geprägten Strukturen der vormals selbständigen Landesteile und verband sie dauerhaft mit dem Königtum. Die königlichen Funktionsträger arbeiteten zunächst nur in begrenzten Aufträgen und in einem wenig geordneten Gefüge. Eine Ausnahme bildeten die Gerichte, die nicht nur Streitfragen in Parteiverfahren klärten, sondern auch allgemein rechtssetzend tätig wurden. Sie waren schon lange mit Vertretern des Königs besetzt und hierarchisch organisiert5. Das Gerichtswesen war die Stütze der frühneuzeitlichen Verwaltung des Ancien Régimes. An seiner Spitze standen die Parlements6, die die arrêts de règlement erließen.

1. Arrêts de règlement und Parlements

Die Parlements und die arrêts de règlement sind eng miteinander verbunden. Die Parlements waren Gerichtshöfe und die arrêts de règlement ihre Entscheidungsakte. Die Parlements definierten sich über das exklusive Privileg zum Erlass von arrêts de règlement, materiellen Gesetzen im Urteilsgewand. Denn die Bedeutung der Parlements als Institution speiste sich maßgeblich daraus. Die arrêts demonstrierten in ihrer Reichweite und ihrem Durchsetzungsanspruch eine Art der Herrschaft, die ansonsten dem König vorbehalten war. So war sein Gesetzesmonopol in erster Linie nur ein Formmonopol. Und selbst die Anwendung königlicher Gesetze hing von den Parlements als regionale Autoritäten ab. Im Rahmen dieser quasisouveränen Gewalt verfügten die Parlements über zwei Instrumente, deren eines die arrêts de règlement bildeten.

a) Die Institution

Die Parlements waren die obersten Gerichtshöfe in den Provinzen des frühneuzeitlichen Frankreichs7. Ihre Anzahl variierte über die Zeit. Zunächst stieg sie im Spätmittelalter rasch an mit der Einrichtung neuer Parlements in den Gebieten, die nacheinander der Krone zufielen8. Später veränderte sie sich aufgrund der ←16 | 17→territorialen Erweiterung und innerer Reformen des Königreichs bis sich die Zahl in dem Jahrhundert vor der Französischen Revolution bei 139 eingependelt hat. Die Parlements waren die höchsten Instanzen für eine Fülle von Rechtsfragen auf dem Gebiet der jeweiligen Provinz10, für die sie eingerichtet waren. In ihrem sog. Ressort11 arbeiteten sie als Cours souveraines12 ohne vorfestgelegte sachliche Zuständigkeiten. Nur der Conseil du Roi13, also der Rat des Königs, konnte Entscheidungen der Parlements aufheben14, wenn der König selbst ein Interesse an dem Fall hatte oder es den Parteien gelang, die Sache vor ihn zu bringen15.

b) Die Instrumente

Das politische Gewicht der Parlements war enorm16. Das hatte zwei ganz bestimmte funktionelle Gründe. Beide lassen sich nicht unter eine klassische gerichtliche Tätigkeit der Parlements ordnen, sondern stehen eng im Zusammenhang mit der königlichen Gesetzgebung. Es war nämlich zunächst Aufgabe der Parlements, königliche Rechtsakte durch sog. arrêts d‘enregistrement aufzuzeichnen, damit diese in ihren Ressorts verbindlich wurden. Diese „Aufzeichnungsgewalt“ soll aus einer Gewohnheit aus dem 14. Jahrhundert17 entstanden sein, als die Cours souveraines mit der Aufzeichnung der königlichen Briefe (lettres patentes) zu Dokumentationszwecken begannen. Als der König diese Form für die Veröffentlichung seiner Urkunden vorschrieb, um deren Verbreitung und ←17 | 18→Ausführung zu gewährleisten, wurde daraus allmählich eine konstitutive Voraussetzung für ihre Anwendbarkeit. Die Cours souveraines konnten den König unter Druck setzen, indem sie die erforderliche Aufzeichnung verweigerten bzw. Bedingungen daran knüpften, die mal mehr und mal weniger mit dem betreffenden Akt zu tun hatten. Das geschah vor allem im 17. Jahrhundert sehr häufig18. Im Falle einer solchen remontrance19 war der König gezwungen, sich erneut mit der Redaktion seines Rechtsaktes zu beschäftigen und ggf. anzupassen, was einen erheblichen Einfluss der Gerichte auf die königliche Rechtsetzung markiert. Dieser Umstand machte die Parlements zu potentiellen Opponenten der Herrschaft des Königs20. Und doch verlief die Zusammenarbeit in der Regel friedlich21. Der unmittelbare Widerstand gegen die Aufzeichnung war nicht immer das geeignete Mittel, die Interessen der Gerichte zu wahren, zumal das Recht der remontrances 1667 stark eingeschränkt wurde22. Denn immerhin waren die Parlements auch nach der Aufzeichnung von Gesetzen für ihre Ausführung in den Provinzen verantwortlich. Dafür erließen sie auch arrêts de règlement, um die es in dieser Untersuchung geht. Das waren „Entscheidungen“23 mit Verordnungscharakter24, die auf unterschiedliche Sachverhalte und Rechtsfragen eingingen und dafür von allen Untertanen zu beachtende Regeln aufstellten (Règlements)25. Weil die ←18 | 19→Parlements sie in ihre exklusive Form (arrêt) kleideten, nannte man diese allgemeinverbindlichen Rechtsakte arrêts de règlement. Weil sie mit ihren Ausführungen, ihren Gegenständen und ihrem Gehalt den königlichen Gesetzen nahekamen, bezeichneten sie Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts als Gesetze26.

Sie sind in einer rechtshistorischen Betrachtung streng von den vorgenannten arrêts d’enregistrement zu trennen, mit denen sie all zu oft thematisiert27, sogar vermengt28 werden. Teilweise erkennt die Forschung bei den beiden Bereichen sogar einen Bedeutungsgegensatz, da die arrêts de règlement vor allem als rechtliche Prärogative einzuordnen seien und weniger als politisches Instrument29. Dennoch trugen sie schon wegen ihrer Allgemeinverbindlichkeit und mit ihrem Bezug zur königlichen Gesetzgebung maßgeblich zum politischen Gewicht der Parlements bei. Die arrêts de règlement waren ein Instrument nicht nur für die Klärung rechtlicher Fragen, sondern ganz allgemein zur Ordnung des gesellschaftlichen Lebensalltages der Untertanen, der Police30.

Das Regelungsgebiet der arrêts de règlement31 war daher weit. Die Inhalte der überlieferten Akte reichen von Streitfragen des materiellen Rechts32 über Vorschriften zum Gerichtsprozess bzw. zur Gerichtsverwaltung33 bis hin zu Police-Règlements des Markt- und Berufsrechts, des Seuchenschutzes und der guten Sitten34. Dazu kommen hin und wieder merkwürdig spezielle Ausführungsanweisungen und Disziplinarmaßnahmen, manchmal gegenüber nur einem Beamten35. Schon mit den breitgefächerten Themen erhält die Materie ←19 | 20→ungeachtet ihres einheitlichen Begriffs ein komplexes Gepräge. Dazu kommt, dass die inhaltliche Vielseitigkeit unmittelbar mit verschiedenen prozeduralen Situationen und den dazugehörigen Formalitäten zum Erlass von arrêts de règlement zusammenhing. So gingen sie manchmal mit Urteilen in Parteiverfahren einher, entstanden aus einer erbetenen Gleichsetzung unterer Verwaltungsträger oder beruhten allein auf Anfragen der königlichen Vertreter am Gerichtshof. Und die Vielfalt der zugrundeliegenden Themen wirkte sich auch auf den normativen Gehalt der arrêts aus. Fragen des materiellen Zivil- oder Strafrechts erhielten die abstrahierte Lösung des Urteils in den jeweiligen Parteierfahren, an die das Parlement die unteren Gerichte in ihrer Judikatur abschließend per arrêt de règlement band. Missstände in der Justizverwaltung und Verfahrensgrundsätze wurden auf die gleiche Art gelöst, erforderten aber mitunter besondere Durchsetzungsanweisungen und Disziplinarmaßnahmen gegen einzelne Beamte, ebenfalls in Form von arrêts de règlement. Auf die Gefahren des Alltags reagierte das Parlement in der Regel mit neuen policeylichen arrêts de règlement36, die konkrete Maßnahmen und ihre sofortige Umsetzung über untere Verwaltungsträger sicherstellten und häufig ausdrückliche Regeln für die eigene Bekanntmachung enthielten. Die diversen Gegenstände führten also zu ganz unterschiedlichen Anordnungen.

2. Vom Quellenbegriff zum Forschungsbegriff

Das uneinheitliche Gepräge der arrêts de règlement als Quellengattung wirft Fragen nach Gemeinsamkeiten auf. Normative und gegenständliche Variationen der arrêts scheinen die Klammern eines definitorischen Begriffes arrêt de règlement zu sprengen. Dabei gibt es allerdings einige Kriterien, die die Einordnung als arrêt de règlement für die heutige Forschung rechtfertigen, auch wenn die Einzelakte mitunter erhebliche Unterschiede aufweisen. Diese Kriterien deckte ←20 | 21→schon die zeitgenössische Rechtswissenschaft auf. Auf das Verständnis, das ihre Quellen offenbaren, kann sich die moderne Forschung zu den arrêts de règlement stützen. Für eine unbefangene Herangehensweise möchte ich aber den Blick zunächst auf den Begriff lenken, wie er heute von Juristen verstanden wird (a). Erst dann möchte ich mich den Ausführungen der zeitgenössischen Autoren des 18. Jahrhunderts zuwenden, um den historischen Begriff in seinen Quellen nachzuzeichnen (b). Auf Grundlage des Quellenverständnisses werde ich die konkurrierenden Forschungsbegriffe „arrêt de police“ und „arrêt de règlement“ beleuchten (c), um mich letztlich für einen von beiden zu entscheiden (d).

a) Der Zugang der modernen Rechtswissenschaft

„Arrêt de règlement“ ist selbst beim ersten Lesen eine griffige Formel. Sie lässt sich zunächst semantisch zerlegen. Das Wort „arrêt“ versteht in der heutigen französischen Sprache ein Urteil bzw. die Entscheidung eines höheren Gerichts37. Dabei kommt es nicht auf den Inhalt an. Der arrêt ist die klassische Außenform höherer gerichtlicher Entscheidungen. Das Attribut „règlement“ ist nicht ganz so einfach zu fassen. Es ergänzt den inhaltlichen Aspekt und entspricht dem deutschen Wort Regel bzw. Regelung, mit dem es den lateinischen Ursprung sowie seine moderne Bedeutung im Wesentlichen teilt38. Das vermittelt vorerst keine genauere Vorstellung über ein solches „Urteil“, enthält doch jede gerichtliche Entscheidung irgendeine Regelung39. Etwas genauer ist die Verwendung des Wortes „règlement“ in der modernen juristischen Fachsprache40. Auch dort sind die Dinge zwar nicht so eindeutig41, zumal der Begriff seit der Revolution einem fast ständigen Bedeutungswandel unterworfen war42. Nach dem heutigen Verständnis sind règlements aber jedenfalls normative Akte einer nichtparlamentarischen Autorität auf Gesetzesrang und mit allgemeiner Bedeutung für formell-gesetzlich nicht geregelte Gegenstände43. So unscharf die Abgrenzung ←21 | 22→auch sein mag, lenkt sie den Blick unmittelbar auf die staatliche Verwaltung, wo das Règlement als außenwirksame Handlungsform einen angestammten Platz hat. Damit entspricht ein Règlement im heutigen Sinne der Rechtsverordnung im deutschen Verwaltungsrecht44. Die Übersetzungen sind angesichts unterschiedlicher juristischer Traditionen überraschend konsequent. So fasst die französische Fachsprache parallel zur deutschen auch den eigenständigen Verordnungsbegriff des Europarechts unter „règlement“.

In der geschichtslosen Zusammenschau könnte man unter einem arrêt de règlement also ein „Verordnungsurteil“ verstehen. Im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung müssen sich Juristen schon beim Vernehmen dieses Wortes die Nackenhaare aufstellen. Ein solches Urteil, das nicht wie gewöhnlich nur einen Fall entscheidet, sondern allgemeine Bestimmungen für eine Vielzahl von Adressaten und ähnliche Sachverhalte enthält, ist einerseits stets ein obiter dictum und andererseits das Ergebnis allgemeiner richterlicher Normsetzung außerhalb des Gesetzes. Das erscheint umso schlimmer, wenn es andere Hoheitsträger – wie ein Gesetz – unmittelbar an seinen Inhalt bindet. Das Konfliktfeld zwischen den staatlichen Gewalten scheint eröffnet. Genau in dieser problematischen Nische kann man den arrêt de règlement in der modernen Rechtswissenschaft Frankreichs verorten, auch wenn er nur selten thematisiert wird45. Seinen Platz in der heutigen Rechtstheorie verdankt er seinem ausdrücklichen Verbot im Code Civil, das seit der Einführung 1804 gilt.

„Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.“46

Es ist den Richtern verboten, in allgemeingültiger und reglementarischer Weise über die Sachen zu urteilen, die ihnen vorgelegt werden.

Juristische Schriften, die von einer materiellen richterlichen Gesetzgebung handeln, kommen um die Thematisierung dieses Verbots und den Begriff der arrêts de règlement nicht herum. Sie begnügen sich mit der knappen Erklärung, dass ←22 | 23→diese arrêts der Parlements aus der Sicht der Revolutionäre den Parlements und der Justiz insgesamt zu viel Macht über das Recht einräumten. Dabei bleibt die (ursprüngliche) Bedeutung der Formel unklar. Sie anhand von Quellen nachzuzeichnen bringt, der modernen Rechtswissenschaft aber auch herzlich wenig. Schließlich liegt der einzige Anknüpfungspunkt an die arrêts de règlement in einem über 200 Jahre alten Verbot, das auf Erfahrungen des Ancien Droit baut und seit seiner Einführung keinen (als solchen anerkannten) Verstoß hinnehmen musste.

Aus der rechtshistorischen Perspektive ist die moderne Handhabung des Begriffs bedeutungslos. Seine heutige Verwendung vermittelt nur eine trügerische Kontinuität, die uns zu falschen Rückschlüssen verleitet. Der Begriff entstammt, wie gesagt, der Zeit des Ancien Régimes Frankreichs vor der berühmten Revolution von 1789. Das war, als die aufklärerischen Ideale sich gerade artikulierten und noch lange nicht umgesetzt waren und Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung noch nicht klar voneinander trennbar waren. Der angesprochenen Problematik der modernen Rechtswissenschaft um die arrêts de règlement fehlte die notwendige „vertikale Dimension“. Damit meine ich die nebeneinander stehenden, nach unten auf die Gesellschaft einwirkenden Gewalten mit voneinander getrennten Befugnissen. Auch hat die Auseinandersetzung mit arrêts de règlement in der heutigen Rechtswelt aus rechtshistorischer Sicht einen völlig anderen Anknüpfungspunkt. Mit der konsequent ausgeführten Gewaltenteilung der modernen französischen Rechtsordnung47 dokumentiert das Verbot der arrêts de règlement im Artikel 5 des Code Civil nämlich lediglich einen Wendepunkt der Rolle des Richters. Das Verbot ist nur noch ein formeller Ausdruck eines grundlegenden Prinzips der Rechtsprechung und eignet sich nicht als Ausgangspunkt einer rechtshistorischen Betrachtung der arrêts de règlement. Das ist auch nicht schlimm. Für eine Arbeit zu den historischen arrêts de règlement der Parlements kommt es ebenso wenig auf das Verständnis der modernen Rechtswissenschaft an, wie es der modernen Rechtswissenschaft umgekehrt auf die historische Bedeutung eines modernen Begriffs ankommt. Der für die rechtshistorische Forschung entscheidende Begriff ist auf der Grundlage der Quellen seines unmittelbaren zeitlichen Umfelds auszumachen.

←23 | 24→
b) Der Quellenbegriff

Während die Primärquellen48 keine konsequente Eigenbezeichnung kennen, taucht der Begriff arrêt de règlement sehr häufig in französischen Schriften der frühen Neuzeit vor allem aus dem 18. Jahrhundert auf49, woher auch seine Verwendung in der modernen Rechtswissenschaft und Forschungsliteratur rührt50. Dort ist er sowohl Bezeichnung für die betreffenden Entscheidungsakte als auch Terminus für den speziellen Gehalt des „Urteils“. Für die Abgrenzung zu übrigen arrêts erscheint das enthaltene Règlement maßgeblich. Als Begriff verwenden zeitgenössische Quellen fast nur die Paarformel „arrêt de règlement“, die sich auf eben diese besonderen Entscheidungen der Cours souveraines bezieht. „Règlement“ hat wiederum keine besondere Eigenbedeutung. Die Zerlegung und isolierte Betrachtung der Bestandteile des Terminus vermittelt deswegen auch für dieses zeitliche Umfeld keine aufschlussreiche Erklärung. Das belegen die juristischen Wörterbücher des Ancien Droit. In der Regel verzichten sie auf eine isolierte Betrachtung von „arrêt“ und „règlement“, um den Gesamtbegriff zu definieren. Nur die Erklärung in der berühmten Enzyklopädie51 von Diderot52 stellt die Bestandteile ausnahmsweise getrennt dar:

„On comprend sous ce terme tout ce qui est ordonné pour maintenir l’ordre et la règle; tels sont les ordonnances, édits et déclarations, et les arrêts rendus en forme de réglement.“53

Unter diesem Terminus versteht man alles, was angeordnet wird, um die Ordnung und die Regel aufrechtzuerhalten; dies sind die Ordonnanzen, Edikte und Erklärungen, und die arrêts in Form von Règlements.

Demnach versteht man unter einem Règlement alles, was zur Aufrechterhaltung der Ordnung verfügt wird. Als Beispiele halten dafür die königlichen Gesetze ←24 | 25→her. Daneben verweist der Autor des Artikels, Boucher d’Argis54, aber auch auf die arrêts, die in Règlement-Form erlassen werden. Die Definition erschöpft sich für den Gegenstand dieser Arbeit also in einem nutzlosen Zirkelschluss.

Die Suche nach dem Gesamtbegriff „arrêt de règlement“ ist sinnvoller und die Befunde sind ergiebiger. Er taucht häufig in den gängigen rechtswissenschaftlichen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts auf. Es gibt zwar keine ausschließlich dem Thema der arrêts de règlement gewidmete Abhandlung. Allerdings enthalten alle in Frankreich bedeutenden juristischen Lexika und Wörterbücher der Zeit mindestens einen Artikel oder zumindest Ausführungen zum arrêt de règlement in einem übergeordneten Abschnitt. Sie knüpfen oft an das Stichwort „arrêt“ an. So bezeichnet man seit jeher Urteile höherer Gerichtshöfe. Die Auffassungen der Autoren offenbaren dabei einige bedeutende Unterschiede, wie die Nebeneinanderstellung der Ausführungen im Folgenden zeigen soll. Aus den Überschneidungen lässt sich aber ein harter Bedeutungskern ermitteln.

Die Erklärungen benennen arrêts de règlement als eine durch bestimmte Merkmale geprägte Gattung von höchstgerichtlichen Urteilen. Im Vordergrund steht die Form der Entscheidungen. Ausgehend von der formalen Ebene vergleicht man sie auch nach ihrem Gehalt mit königlichen Gesetzen55. So wird ein arrêt de règlement fast durchgehend als das Urteil eines Gerichts beschrieben, das untergeordnete Justiz- oder Verwaltungsinstanzen im jeweiligen Zuständigkeitsbereich wie ein Gesetz an einen bestimmten Inhalt bindet. So in etwa erklärt es Guyot56, ein später zeitgenössischer Autor, in seinem großen Repertoire universel von 1775:

„Les Parlements font quelques fois, dans des assemblées de toutes les chambres, des règlements, soit sur la procédure, soit sur des affaires de droit ecclésiastique ou de droit civil : Ces règlements faits sous le bon plaisir du roi, qui ne les désavoue pas, doivent tenir lieu dans tous les tribunaux ecclésiastiques ou séculiers du ressort du Parlement : C’est pourquoi on les envoie dans ces tribunaux pour y être publiés, comme les édits, ordonnances et déclarations du roi.“57

Die Parlements erlassen nach seiner Erklärung manchmal in Versammlungen aller Kammern „règlements“, entweder zum Verfahrensrecht oder zu materiellen Rechtsfragen. Und weil die geistlichen und weltlichen Gerichte im Ressort des Parlements sie eben wie die Gesetze des Königs beachten müssen, versende man sie gleichermaßen an die Untergerichte. In seiner Definition stellt Guyot damit die schon genannten wesentlichen Aspekte zusammen: Gesetzliche Autorität und Veröffentlichung. Dabei versteht er, anders als Boucher d’Argis in Diderots Enzyklopädie58, unter der Kurzform „règlements“ ausschließlich die arrêts de règlement59. Er weist auch auf ihre inhaltliche Reichweite hin, die für ihn offenbar unbegrenzt ist, da Fragen des (gerichtlichen) Verfahrens genauso Gegenstand sein können wie (materielle) Fragen des kirchlichen und weltlichen Rechts. Außerdem bemerkt er, dass die Parlements ihre Règlements nur manchmal und dann mit versammelten Kammern, nach dem Wohlgefallen des Königs treffen. In einem später veröffentlichten Supplement zum Repertoire universel weicht der Autor ausdrücklich von diesem Verfahrensmerkmal ab:

„Nous disons que ces règlements doivent se faire dans l’assemblée de toutes les chambres ; et en effet, comme aucune de ces chambres n’a autorité sur les autres, elle ne sauroit les lier par aucune décision sans leur consentement, ou du moins sans qu’elles aient été consultées […]. Il y a cependant bien des arrêts en forme de règlements qui n’ont été portés que par une chambre, sans consulter les autres, et qui ne laissent pas d’être respectés comme des lois. Mais si on les examine bien, on verra qu’il n’en est presque point qui constituent un droit nouveau. Ils ne font pour la plupart que confirmer des usages anciens et reconnus de tout le monde, ou éclaircir quelques ambiguïtés qui pouvaient se trouver dans la pratique de ces usages. A l’égard de ceux qui ont introduit quelque nouveauté, ils n’ont acquis force de loi que par l’adoption que les autres chambres en ont faite.“60

Die Klarstellungen des Supplements sind kritisch und betreffen nicht nur die begriffliche Ebene. Sie beziehen sich unmittelbar auf die verfahrenstechnische Voraussetzung, so wie Guyot sie im Répertoire ursprünglich verstand, dass die Entscheidungen von allen Kammern des Parlements in einer Versammlung getroffen werden61. Diese Einschränkung findet sich hier insoweit relativiert, als dass auch einzelne Kammern arrêts de règlements erlassen. Für die Anerkennung und Anwendung als Gesetz benötigen sie allerdings eine Art Autorisierung durch die anderen Kammern, die hier nur mit „adoption“ umschrieben ist. Vermutlich konnte in diesem Sinne eine implizite Zustimmung62 genügen, womit praktisch doch auch eine einzelne Kammer arrêts de règlements erlassen konnte63. Das ist eine wichtige Korrektur der Definition des Répertoires.

Im Gegensatz zu Guyots unbegrenzter gegenständlicher Reichweite der règlements versteht der Autor des Artikels zum Stichwort „arrêt“ in Diderots Enzyklopädie, Louis Jean-Marie Daubenton64, unter den arrêts de règlement nur Urteile, die Verfahrensfragen regeln:

„Les arrêts de réglemens sont ceux qui établissent des règles et des maximes en matière de procédure : il est d’usage de les signifier à la communauté des avocats et procureurs.“65

←27 | 28→

Die arrêts de règlement sind solche, die Regeln und Grundsätze im Bereich des Verfahrens aufstellen[;] Sie werden gewöhnlich der [Anwaltsvereinigung] mitgeteilt.

Neben der unpräzisen Verschränkung auf Verfahrensmaximen bemerkt er die Gewohnheit, die arrêts den anwaltlichen Vereinigungen mitzuteilen. Das hebt seine Definition von anderen ab, ist aber ganz offensichtlich kein notwendiger Bestandteil. Dessen ungeachtet ist Daubentons Beschreibung allerdings die engste aller hier aufgeführten. Die entschiedene Ausklammerung materieller Rechtsfragen für den Gegenstand der arrêts de règlement macht sie zu einer reinen Verfahrensrechtsquelle. Das steht im Kontrast zu Guyots weiter Auffassung. Daubenton war allerdings Arzt und nicht Jurist und Diderots Enzyklopädie streng genommen kein juristisches Werk.

Insofern darf man an einer gegenständlichen Begrenzung der arrêts auf das Verfahren zweifeln, wenn Claude-Joseph de Ferrière66, Autor eines Einführungswerks zu juristischen Begriffen, wie Guyot keine solche Einschränkung vornimmt. Ferrières Erklärung vergleicht die arrêts de règlement ebenfalls unmittelbar mit den Gesetzen, bezeichnet sie aber ausdrücklich als Entscheidungen der Cours souveraines, also aller höheren Gerichtshöfe einschließlich der Parlements67:

„Arrêt de règlement des Cours Souveraines, sont les décisions que les Cours Souveraines font pour être observées comme Loix dans l’étenduë de leur ressort.“68

Arrêts de règlement der Cours Souveraines sind die Entscheidungen, die die Cours Souveraines erlassen, um wie Gesetze in der Ausdehnung ihres Ressorts beachtet zu werden.

Wie Guyot nimmt er den wichtigen Veröffentlichungsaspekt auf und weist ihn als Kennzeichen der arrêts de règlement aus. Ferrière besteht ferner auf den Vermerk am Ende der Entscheidung, dass sie als Règlement dienen soll:

„La marque qu’un Arrêt est Arrêt de règlement, c’est quand il est dit à la fin qu’il servira de reglement, & qu’il sera lù & publié à cet effet.“69

←28 | 29→

Das Kennzeichen dafür, dass ein arrêt ein arrêt de règlement ist, ist wenn es am Ende gesagt wird, dass er als Règlement dienen wird und dass er zu diesem Zweck verlesen und veröffentlicht wird.

Auch Jean-Batiste Denisart70, Begründer einer berühmten Reihe von Entscheidungssammlungen71, stellt die arrêts de règlement auf eine Stufe mit den Gesetzen. Er grenzt sie aber stärker von den übrigen Urteilen der Cours souveraines ab und hebt dabei ihre besondere Form hervor:

Details

Seiten
246
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631832950
ISBN (ePUB)
9783631832967
ISBN (MOBI)
9783631832974
ISBN (Hardcover)
9783631823293
DOI
10.3726/b17455
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Gerichtliche Gesetzgebung Police Arrêts d‘état Ancien Régime Staatstheorie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 246 pp., 3 fig. b/w.

Biographische Angaben

Daniel Jordanov (Autor:in)

Daniel Jordanov studierte Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er war als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Münster tätig, wo auch seine Promotion erfolgte.

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Titel: Arrêts de règlement
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