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Ehrverletzungen in der elektronischen Presse

Eine kollisionsrechtliche Untersuchung de lege lata und de lege ferenda – unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung von EuGH und BGH zur Internationalen Zuständigkeit bei Internetdelikten

von Gianandrea Schmidt (Autor:in)
©2020 Dissertation 250 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Die Ermittlung des anwendbaren Rechts bei Persönlichkeitsverletzungen über das Internet ist eine ungeklärte Streitfrage des IPR. De lege lata existieren bereits diskussionswürdige Ansätze; sie sind in ihren vielfältigen Varianten allerdings nur noch schwer überschaubar. Diese Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die Meinungsströmungen in eine Systematik zu bringen und um weitere Aspekte zu ergänzen, insbesondere um solche der parallel im Internationalen Verfahrensrecht geführten Diskussion. Neben der lex lata wird auf der Ebene der lex ferenda der Entschließungsentwurf des Europäischen Parlaments für eine Kollisionsnorm für Mediendelikte einer kritischen Betrachtung unterzogen mit dem Ziel, rechtspolitische Empfehlungen für eine entsprechende europäische Anknüpfungsregel zu formulieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort und Danksagung
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Ausgangsbefund
  • B. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung
  • Teil 1: Anwendbares Recht bei Ehrverletzungen in der elektronischen Presse
  • Kap. 1: Begriff der elektronischen Presse
  • I. Meinungsstand
  • II. Stellungnahme
  • III. Eigener Lösungsvorschlag
  • 1. Rundfunkstaatsvertrag
  • 2. Kriterium der „journalistischen“ Gestaltung
  • 3. Kriterium der „redaktionellen“ Gestaltung
  • 4. Abgrenzung zwischen Telemedien „mit“ und „ohne“ journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • IV. Zusammenfassung und Fazit
  • Kap. 2: Sachrechtlicher Persönlichkeitsschutz im Internet
  • I. Grundlagen
  • II. Wertungszusammenhang zwischen Sachrecht und IPR
  • III. Online-Spezifika für den Persönlichkeitsschutz
  • 1. Ausgangslage
  • 2. Allgemeine Gefahrenpotenziale
  • a) Ubiquität
  • b) Zeitfaktor
  • c) Prangerwirkung
  • 3. Verletzungsgewicht von Online-Veröffentlichungen
  • 4. Konsequenzen für die Güter- und Interessenabwägung
  • IV. Fazit
  • Kap. 3: Grundlagen der deliktischen Anknüpfung
  • I. Maßgeblichkeit des Deliktsstatuts
  • II. Tatortprinzip
  • Kap. 4: Handlungsort bei Veröffentlichungen in der elektronischen Presse
  • I. Problemstellung
  • II. Lokalisierung des Handlungsortes
  • 1. Standort des Servers
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • (1) Nachgelagertes unbeachtliches Geschehen
  • (2) Risiko der Anknüpfungsmanipulation
  • (3) Verhaltenssteuernde Funktion der Handlungsortanknüpfung
  • 2. Ort der Angebotskonzeption
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • 3. Durchleitungsorte
  • 4. Ort des Einspeisens
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • III. Ergebnis
  • Kap. 5: Erfolgsort bei Veröffentlichungen in der elektronischen Presse
  • I. Problemstellung
  • 1. Einführung in die Problematik
  • 2. Überblick über die Problemfelder
  • a) Lokalisierung des Erfolgsortes
  • b) Quantitative Reduzierung der Erfolgsorte
  • c) Qualitative Reduzierung der Erfolgsorte
  • 3. Fortgang der Untersuchung
  • II. Lokalisierung des Erfolgsortes
  • 1. Persönlichkeitsverletzungen als erfolgsortlose Delikte?
  • a) Grundlagen
  • b) Differenzierung zwischen „personaler“ und „sozialer Identität“
  • c) Konsequenzen für die Erfolgsortbestimmung
  • 2. Bekanntheit des Verletzten am Ort der Kenntniserlangung?
  • 3. Ort des tatsächlichen Abrufs vs. Ort der Abrufbarkeit
  • a) Grundlagen
  • b) Fehlende gesetzliche Grundlage zur Datenübermittlung
  • c) Unzumutbarkeit der Datenabfrage
  • d) Gefahr der Abrufmanipulation
  • e) Zusammenfassung und Überleitung
  • III. Einschränkung der konkurrierenden Erfolgsorte
  • 1. Meinungsstand
  • 2. Ort der bestimmungsgemäßen Abrufbarkeit
  • a) Ausgangspunkt: Lauterkeitsrechtliche Rechtsprechung
  • b) Meinungsstand zum Kriterium der bestimmungsgemäßen Abrufbarkeit
  • c) Stellungnahme
  • (1) Fehlende Trennschärfe der indizienbasierten Sichtweise
  • (a) Merkmal der verwendeten Sprache
  • (b) Maßgeblichkeit der „Top Level Domain“-Endung
  • (2) Differierende Schutzrichtungen
  • 3. Mosaikprinzip
  • a) Meinungsstand
  • b) Traditioneller Ansatz
  • (1) Konzept
  • (2) Stellungnahme
  • (a) Aufspaltung des Sachverhalts in einzelne Schadensbruchteile
  • (b) Fehlende Eignung zur Reduzierung der Erfolgsorte
  • (c) Mangelnde Vorhersehbarkeit der Erfolgsorte
  • (d) Interesse des Geschädigten an effektivem Rechtsschutz
  • (e) Fehlende Abstimmung von IPR und IZVR
  • c) Prozessuale lex fori-Modifizierung nach Wagner
  • (1) Konzept
  • (2) Stellungnahme
  • d) Freie Wahl durch den Geschädigten nach Wüllrich
  • (1) Konzept
  • (2) Stellungnahme
  • 4. Günstigkeitsvergleich
  • 5. Alleinige Maßgeblichkeit des Handlungsortes
  • 6. Konzentration auf einen Schwerpunkterfolgsort
  • a) Grundlagen
  • b) Meinungsstand
  • c) „Geschädigten-orientierte“ Schwerpunktanknüpfung
  • (1) Konzept
  • (a) Schwerpunkterfolgsort am gewöhnlichen Aufenthalt nach v. Hoffmann
  • (b) Erfolgsort am „Mittelpunkt der Interessen“ des Betroffenen nach Neu
  • (c) Alternative Anknüpfung an den Ort der Bekanntheit nach Kristin
  • (2) Stellungnahme
  • (a) Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt
  • (b) Technologieneutralität
  • (c) Berücksichtigung der Online-Spezifika
  • (d) Gewöhnlicher Aufenthalt als fester Anknüpfungspunkt?
  • d) „Schädiger-orientierte“ Schwerpunktanknüpfung
  • (1) Einschränkung auf „bestimmungsgemäße“ Schwerpunkterfolgsorte?
  • (2) Stellungnahme
  • e) Mögliche Einwände
  • (1) Verhaltenssteuernde Funktion des Deliktsrechts
  • (2) Gewöhnlicher Aufenthalt und internationale Prominenz
  • (3) Außerachtlassen weiterer Erfolgsorte
  • f) Rechtsvergleichender Exkurs
  • IV. Zusammenfassung und eigener Vorschlag de lege lata
  • 1. Grundlagen
  • 2. Übertragbarkeit auf andere Dienste im Internet
  • a) Erfolgsort im Rahmen der Massenkommunikation
  • b) Erfolgsort im Rahmen der Individualkommunikation
  • 3. Weitere Anknüpfungspunkte
  • Kap. 6: Lösungsansätze für die Erfolgsortbestimmung aus dem Internationalen Verfahrensrecht
  • I. Grundlagen
  • II. Legitimation und Grenzen eines Rückgriffs auf die Regeln des IZVR
  • 1. Wechselwirkungen zwischen IZVR und IPR
  • 2. Gleichlauf zwischen IZVR und IPR?
  • 3. Partieller Gleichlauf bei gemeinsamen Anknüpfungspunkten
  • 4. Ergebnis
  • III. Rechtsprechungsgenese
  • 1. Vorlagebeschluss des BGH in der Rechtssache „www.rainbow.at“
  • 2. Die „New York Times“-Entscheidung des BGH
  • a) Ort des tatsächlichen Abrufs vs. Ort der Abrufbarkeit
  • b) Kriterium des „hinreichenden“ bzw. „besonderen“ bzw. „deutlichen“ Inlandsbezugs
  • 3. Die „7 Tage Moskau“-Entscheidung des BGH
  • 4. Stellungnahme zu „New York Times“ und „7 Tage Moskau“
  • (1) Zweistufige Prüfungsfolge
  • (2) Kriterien des „erheblichen“ bzw. „besonderen“ Interesses
  • (3) Ort der Interessenkollision als Alternative zur bestimmungsgemäßen Ausrichtung?
  • 5. Die „eDate Advertising/Martinez“-Entscheidung des EuGH
  • a) Inhalt der Entscheidung
  • b) Stellungnahme
  • 6. Die „Blogeintrag“-Entscheidung des BGH
  • 7. Die „Google Autocomplete“-Entscheidung des BGH
  • 8. Die „Bolagsupplysningen“-Entscheidung des EuGH
  • a) Inhalt der Entscheidung
  • b) Stellungnahme
  • IV. Zusammenfassung
  • V. Kollisionsrechtliche Beurteilung
  • 1. „Hinreichender“ bzw. „besonderer“ bzw. „deutlicher“ Inlandsbezug nach dem BGH
  • a) Fehlende Allseitigkeit des Kollisionssatzes
  • b) Anwendbares Recht als bloße Folge des Zuständigkeitsrecht
  • c) Multiplizierung der Erfolgsorte
  • d) Divergenzen zum Europäischen Zuständigkeitsrecht
  • 2. Modifizierte Mosaikbeurteilung nach dem EuGH
  • Kap. 7: Überlagerung durch das Herkunftslandprinzip
  • I. Reichweite des Herkunftslandprinzips
  • 1. Regelungsgehalt von § 3 TMG
  • 2. Auslegung durch den EuGH
  • 3. Stellungnahme
  • II. Anwendbarkeit auf Persönlichkeitsverletzungen
  • 1. Bereichsausnahme in § 3 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 TMG
  • 2. Persönlichkeitsverletzungen im „koordinierten Bereich“ der ECRL
  • III. Zusammenfassung
  • Teil 2: Perspektiven internationaler Harmonisierung des Mediendeliktsrechts
  • Kap: 1: Entwicklungen vor Inkrafttreten der Rom II-VO
  • I. GEDIP-Entwurf
  • II. Vorentwurf der Kommission vom 03.05.2002
  • III. Kommissionsentwurf vom 22.07.2003
  • IV. Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments vom 06.07.2005
  • V. Revidierter Kommissionsentwurf vom 21.02.2006
  • VI. Gemeinsamer Standpunkt und Vermittlungsverfahren
  • Kap. 2: Entwicklungen nach Inkrafttreten der Rom II-VO
  • I. Überblick
  • II. Vorschläge aus dem Schrifttum
  • 1. Mosaikbeurteilung
  • 2. Schwerpunktanknüpfung
  • III. Vergleichsstudie der Europäischen Kommission
  • 1. Wesentliche Ergebnisse der Vergleichsstudie
  • 2. Schlussfolgerungen der Vergleichsstudie
  • IV. Vorschläge des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments
  • 1. Arbeitspapier vom 23.06.2010
  • 2. Arbeitspapier vom 23.05.2011
  • 3. Stellungnahme
  • a) Abs. 1 S. 1: Grundanknüpfung
  • (1) Grundsätzliche Maßgeblichkeit des Erfolgsortes
  • (2) Ort der „wesentlichen Rechtsgutsverletzung“
  • (3) Keine Sonderanknüpfung bei Internetdelikten
  • b) Abs. 1 S. 2: Vorhersehbarkeitsklausel
  • (1) Allgemeines
  • (2) Geeignetheit für die elektronische Presse
  • c) Abs. 2: Lex fori-Option bei Streudelikten
  • d) Abs. 3: Sonderanknüpfung bei Ansprüchen auf Gegendarstellung
  • e) Abs. 4: Nachträgliche Rechtswahl nach Art. 14 Rom II-VO
  • f) Presserechtliches Beschränkungsverbot
  • g) Ergebnis
  • V. Entschließungsentwurf des Europäischen Parlaments
  • 1. Inhalt
  • 2. Stellungnahme
  • a) Abs. 1: Grundanknüpfung
  • (1) Ort des „wesentlichen Schadenseintritts“
  • (2) „Auflockerung“ nach Art. 4 Abs. 2, 3 Rom II-VO?
  • b) Abs. 2: Vorhersehbarkeitsklausel
  • c) Abs. 3: Sonderanknüpfung bei schriftlichen Veröffentlichungen oder einer ausgestrahlten Sendungen
  • (1) Kritik am Wortlaut
  • (2) Gefahr widersprechender Entscheidungen
  • d) Abs. 4: Sonderanknüpfung bei Gegendarstellung und vorbeugenden Maßnahmen
  • e) Erwägungsgrund 32a
  • f) Zwischenergebnis zu Art. 5a Rom II-VO-E
  • Kap. 3: Thesen und eigener Vorschlag de lege ferenda
  • Wesentliche Ergebnisse
  • I. Begriff der elektronischen Presse
  • II. Sachrechtlicher Persönlichkeitsschutz im Internet
  • III. Lokalisierung des Tatortes bei Internetdelikten
  • IV. Bestimmung des Schwerpunkterfolgsortes
  • V. Rückschlüsse aus der Verfahrensrechtlichen Judikatur
  • VI. Überlagerung durch das Herkunftslandprinzip
  • VII. Reformperspektiven
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Einleitung

A. Ausgangsbefund

Das Internet hat unser Kommunikations- und Informationsverhalten verändert und eine neue Wirklichkeit geschaffen, mit der sich die juristische Disziplin – insbesondere das traditionelle, an räumliche Bezüge anknüpfende Kollisionsrecht – noch sehr schwer tut. Die aus der wachsenden Bedeutung des Mediums resultierenden Anforderungen an das geltende Recht haben Rechtsprechung und Literatur zwar in weiten Teilen erkannt und auch gelöst. Insbesondere die Ermittlung des anwendbaren Rechts bei Persönlichkeitsverletzungen über das Internet bleibt unterdessen weiterhin eine ungeklärte Streitfrage des IPR.

Hintergrund ist, dass ein vereinheitlichtes europäisches Kollisionsrecht für Persönlichkeitsverletzungen durch die Medien nicht existiert. Mit der in Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom II-VO1 enthaltenen Sonderbereichsausnahme hat der Europäische Gesetzgeber Pressedelikte bewusst von dem Anwendungsbereich der Rom II-VO ausgenommen. Zudem verzichtete der nationale Gesetzgeber im Rahmen der IPR-Reform von 19992 ausdrücklich auf eine Sondernorm für Persönlichkeitsverletzungen. Deshalb wird auch bei der Veröffentlichung ehrverletzender Inhalte im Internet zur Bestimmung des anwendbaren Rechts (weiterhin) auf den Tatort abgestellt, der sich nach den allgemeinen Anknüpfungen des Art. 40 Abs. 1 EGBGB sowohl am Handlungs- als auch am Erfolgsort des Delikts befindet (sog. Ubiquitätsprinzip).

Die für die Lokalisierung des Tatortes von traditionellen Mediendelikten (Print, Rundfunk etc.) zum nationalen Kollisionsrecht entwickelten Grundsätze führen bei Ehrverletzungen in der elektronischen Presse zu keinen eindeutigen Ergebnissen: Tritt die Rechtsgutsverletzung bei international verbreiteten Print- Presseerzeugnissen in mehreren Rechtsordnungen ein (sog. Multistate- oder Streudelikte), führt eine uneingeschränkte Anwendung des Ubiquitätsprinzips zu einer Kumulierung der Erfolgsorte. Gestritten wird dann um den richtigen Weg, die vielfachen Wahlmöglichkeiten des Geschädigten zwischen den zur Verfügung stehenden Rechtsordnungen auf ein angemessenes Maß zu reduzieren. ←21 | 22→Diese Problematik potenziert sich im Fall von Internetdelikten, bei denen das räumlich unbegrenzte Schutzgut „Persönlichkeit“ auf das von geografischen Bezügen losgelöste „World Wide Web“ trifft.

Jenseits aller tatsächlichen Kalamitäten zeichnen sich zudem rechtsdogmatische Schwierigkeiten in bemerkenswertem Umfang ab, weil sich der Erfolgsort von Persönlichkeitsverletzungen im Internet nicht nur vervielfältigt, sondern auch verselbstständigt bzw. „verflüchtigt“3. Drahtlose Technologien stehen jetzt fast überall zur Verfügung. Begünstigt durch den technischen Fortschritt hat die gesteigerte Mobilität bei dem Bezug von Informationen zu einer Dezentralisierung des Leseverhaltens geführt. Menschen nehmen deshalb längst nicht mehr ortsgebunden eine bestimmte Meldung zur Kenntnis. Anders als im Fall von Print-Presseveröffentlichungen entscheidet allein der Nutzer darüber, ob eine Meldung aufgrund eines Abrufes ihren Weg in eine bestimmte Rechtsordnung findet. Das Problem der Tatortbestimmung von Internetdelikten besteht deshalb nicht nur in der (quantitativen) Reduzierung der ausufernden Zahl von Erfolgsorten. Die daneben tretende (qualitative) Herausforderung liegt in der Herstellung der für das Kollisionsrecht erforderlichen Selektionswirkung zwischen bedeutenden und unbedeutenden Auslandsberührungen. Das klassische IPR gerät hier schnell an seine Grenzen, weil ein digitales, vom Urheber festgelegtes und damit „steuerbares“ Verbreitungsgebiet nicht existiert. Im Kern geht es deshalb auch um die Frage, ob bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts jede Beziehung zwischen dem Sachverhalt und der berufenen Rechtsordnung ausreicht oder sich der Bezug in einer wie auch immer gearteten Weise konkretisiert haben muss.

Hinzu kommt das vom IPR entkoppelte, sachrechtliche Phänomen, dass ehrverletzende Internet-Veröffentlichungen aufgrund ihres globalen Wirkungsfeldes eine ganz andere Durchschlagungskraft entwickeln können,als im gegenständlichen Lebensbereich. Verglichen mit einer Meldung in einem Print-Presseprodukt ist ihnen die Gefahr eines höheren Verletzungsrisikos immanent. In Zeiten von „Fake News“, „Cyber Mobbing“ und „Hate Speech“ stellt sich die Frage nach einem effektiven Rechtsschutz des Betroffenen auch auf der internationalprivatrechtlichen Ebene dringender denn je. Daneben stellt das Internet auch den Täterschutz vor Herausforderungen, weil sich der Urheber eines inkriminierten Online-Inhalts einem globalen Haftungsrisiko ausgesetzt sieht. Der Verletzer muss sich auf eine Verfolgung nach nahezu allen denkbaren Rechtsordnungen der Welt einstellen4 – und damit theoretisch mit der Anwendung des strengsten ←22 | 23→Haftungsregimes rechnen. Eine weitere Schwierigkeit bei der Lokalisierung des kollisionsrechtlichen Erfolgsortes im Rahmen von Art. 40 Abs. 1 EBGB liegt deshalb in einer sachgerechten Beschränkung der weltweit in Betracht kommenden Erfolgsorte unter Wahrung des für die klassischen Medien geltenden Gleichgewichts zwischen Persönlichkeitsschutz einerseits und Meinungs- bzw. Medienfreiheit andererseits.

Die Bestimmung des Erfolgsortes im Fall von Internetdelikten ist nicht nur ein Problem des Kollisionsrechts. Vielmehr erweisen sich auch die Zuständigkeitsregelungen des autonomen und europäischen Internationalen Verfahrensrechts in § 32 ZPO (analog) bzw. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO5 bei Klagen gegen Internet-Veröffentlichungen als auslegungsbedürftig. Die Debatte um eine sachgerechte Anknüpfung wird hier aufgrund der gemeinsamen Tatortanknüpfung parallel geführt und hat durch die viel beachteten, kurz aufeinander folgenden Entscheidungen des BGH in den Rechtssachen „New York Times“6 und „7 Tage Moskau“7, sowie die Entscheidungen „eDate Advertising/Martinez“8 und „Bolagsupplysningen“9 des EuGH, wieder erheblich an Fahrt aufgenommen. Insoweit wird das IPR von der im Zuständigkeitsrecht geführten Diskussion teilweise überlagert. Dieser Umstand leistet der gewünschten Rechtsklarheit nicht unbedingt Vorschub.

B. Ziel der Arbeit und Gang der Untersuchung

I. De lege lata existieren zur Bestimmung des auf Ehrverletzungen im Internet anwendbaren Rechts verschiedene diskussionswürdige Ansätze.10 Diese ←23 | 24→sind in ihren vielfältigen Varianten nur noch schwer überschaubar und unterscheiden sich teilweise lediglich in Nuancen. Der weit überwiegende Teil der einzelnen Lösungsansätze wurde um die Jahrtausendwende herum entwickelt. Deshalb wird der Frage nachzugehen sein, ob die einzelnen Vorschläge noch zeitgemäß sind oder einer konzeptionellen Anpassung bedürfen. Diese Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die einzelnen Meinungsströmungen in eine Systematik zu bringen und um die folgenden weiteren Aspekte zu ergänzen:

1. Obwohl die Tatortbestimmung von Persönlichkeitsverletzungen im IPR und im Zuständigkeitsrecht aufgrund ihrer gemeinsamen Anknüpfungsmomente Hand in Hand gehen sollte, ist die bisherige Diskussion im Deliktskollisionsrecht auf die für Print-Presseprodukte entwickelten Muster fixiert. Angesichts der neuen Entscheidungen des EuGH und BGH zum verfahrensrechtlichen Erfolgsort von Internetdelikten soll die Arbeit nicht auf das IPR beschränkt bleiben. Was vor einigen Jahren bzw. Jahrzehnten im Kollisionsrecht möglicherweise noch Geltungsanspruch erhob, könnte angesichts neuer Erkenntnisse aus dem Kompetenzrecht eine abweichende Beurteilung rechtfertigen. Gesamtbetrachtet ist die von der Rechtsprechung zum Verfahrensrecht entwickelte Kasuistik im kollisionsrechtlichen Schrifttum bis dato weitgehend unbeachtet geblieben. Teilweise wird zudem zwischen dem Zuständigkeits- und dem Kollisionsrecht nicht trennscharf unterschieden. Die vorliegende Arbeit wird diese Lücke schließen und die Bestimmung des Tatortes von Internetdelikten nach Art. 40 ff. EGBGB einer interdisziplinären Untersuchung zur lex lata des deutschen und europäischen Internationalen Zuständigkeitsrechts unterwerfen.

2. Neben der Ausgrenzung all jener Felder des Kompetenzrechts vernachlässigt die bisherige Diskussion ebenso die von dem in Art. 3 ECRL11 („E-Commerce-Richtlinie“) geregelten und in § 3 TMG12 umgesetzten ←24 | 25→EU-sekundärrechtlichen Herkunftslandprinzip auf die Tatortbestimmung ausgehenden Wirkungen. Die richtige dogmatische Einordnung des Herkunftslandprinzips zählte bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „eDate Advertising/Martinez“ zu den umstrittensten Fragen des deutschen IPR.

3. Ungeachtet der Diskussion zum nationalen Deliktskollisionsrecht besteht aufgrund der in der Rom II-VO für Persönlichkeitsverletzungen enthaltenen Bereichsausnahme zudem aus rechtspolitischer Sicht Handlungsbedarf. Das Europäische Parlament hat der Europäischen Kommission am 12.05.2012 einen Entschließungsentwurf13 zur Schließung der Bereichsausnahme des Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom II-VO durch Einfügung eines neuen Art. 5a Rom II-VO vorgelegt. Trotz der vorangeschrittenen Rechtsprechung des EuGH aus „eDate Advertising“ und „Bolagsupplysningen“ sind die Reformbestrebungen ins Stocken geraten. Der Entschließungsentwurf wirft Fragen auf und bietet Anlass für eine kritische Betrachtung.

4. Ziel der Arbeit ist, auf der Grundlage der gewonnenen Untersuchungsergebnisse rechtspolitische Empfehlungen für eine europäische Anknüpfungsregel für Verletzungen der Persönlichkeitsrechte und der Privatsphäre zu formulieren.

II. Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert:

1. Im ersten Teil wird der Bezug zum geltenden Kollisionsrecht hergestellt. Untersucht und beantwortet wird die Frage, welches Recht auf die Veröffentlichung ehrverletzender Inhalte in der elektronischen Presse anwendbar ist. Am Anfang der Betrachtung steht eine Definition der elektronischen Presse (unter Kapitel 1). Im Vorgriff zur kollisionsrechtlichen Untersuchung werden sodann die Reichweite des sachrechtlichen Persönlichkeitsschutzes im Internet und dessen online-spezifische Gefährdungen beleuchtet (unter Kapitel 2). Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die Auslegung des Deliktsstatuts im Fall von Ehrverletzungen in der elektronischen Presse. Zunächst werden die Grundlagen der ←25 | 26→deliktischen Anknüpfung erarbeitet (unter Kapitel 3). Hieran knüpft die Lokalisierung des kollisionsrechtlichen Handlungsortes an (unter Kapitel 4). Dies leitet über zur Kernfrage, nämlich nach welchen Maßgaben die Bestimmung des kollisionsrechtlichen Erfolgsortes zu erfolgen hat (unter Kapitel 5). Sodann werden die Rechtsprechungslinien von EuGH und BGH dargestellt und zunächst im verfahrensrechtlichen, danach im kollisionsrechtlichen Kontext gewürdigt (unter Kapitel 6). Im Anschluss hieran soll hinterfragt werden, welche Konsequenzen sich aus dem Herkunftslandprinzip aus Art. 3 ECRL bzw. § 3 TMG für die Tatortbestimmung ergeben (unter Kapitel 7).

2. Im zweiten Teil der Arbeit wird die Ebene des geltenden Rechts verlassen, um die Perspektiven internationaler Harmonisierung im Mediendeliktsrecht in den Blick zu nehmen. Den Ausgangspunkt bildet eine Darstellung der bisherigen Vorschläge für eine Kollisionsnorm für Pressedelikte bis zum Inkrafttreten der Rom II-VO am 20.08.2007 (unter Kapitel 1). Hieran schließt sich eine Würdigung der Entwicklungen nach ihrem Inkrafttreten an (unter Kapitel 2). Im Rahmen der Darstellung der Reformbestrebungen gilt besonderes Augenmerk dem von dem Europäischen Parlament entwickelten Vorschlag für einen neuen Art. 5a Rom II-VO. Abschließend werden die zur lex ferenda gewonnenen Erkenntnisse zu einzelnen Thesen zusammengefasst. Auf dieser Grundlage wird ein eigener Vorschlag für eine neue europäische Kollisionsnorm für Verletzungen der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte formuliert (unter Kapitel 3).

←26 | 27→

1 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. EU 2007 Nr. L 199/40 vom 31.07.2007.

2 Gesetz zum internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen vom 21.05.1999, BGBl. I S. 1026 vom 01.06.1999.

3 V. Hinden, ZEuP 2012, 940, 948.

4 Gounalakis/Rhode, Persönlichkeitsschutz im Internet, Rn. 15.

5 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU Nr. L 351 vom 20.12.2012, auch „Brüssel Ia-VO“.

6 BGH, Urt. v. 02.03.2010, Az.: VI ZR 23/09 = GRUR 2010, 461 ff. – „New York Times“.

7 BGH, Urt. v. 29.03.2011, Az.: VI ZR 111/10 = NJW 2011, 2059 ff. – „7 Tage Moskau“.

8 EuGH, Urt. v. 25.10.2011, Az.: C-509/09 = EuZW 2011, 962 ff. – „eDate Advertising“.

9 EuGH, Urt. v. 17.10.2017, Az.: C-194/16 = EuZW 2018, 91 ff. – „Bolagsupplysningen“ oder auch „Svensk Handel“.

10 Mit den kollisionsrechtlichen Aspekten des Internets und der Frage nach dem auf die Verbreitung ehrverletzender Inhalte anwendbaren Recht eingehend auseinandergesetzt haben sich insbesondere: V. Hinden, Persönlichkeitsverletzungen im Internet, S. 1 ff.; Kristin, Das Deliktsstatut, S. 1 ff.; Neu, Die kollisionsrechtliche Behandlung, S. 1 ff.; Wüllrich, Das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen im Internet, S. 1 ff.; Gounalakis/Rhode, Persönlichkeitsschutz im Internet, S. 5 ff.; Spindler, ZUM 1996, 533, 555 ff.; ders., NJW 1999, 3193, 3198; Mankowski, RabelsZ 63 (1999), 256 ff.

11 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 08.06.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), ABl. EU Nr. L 178 vom 17.07.2000.

Details

Seiten
250
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631823262
ISBN (ePUB)
9783631823279
ISBN (MOBI)
9783631823286
ISBN (Hardcover)
9783631819920
DOI
10.3726/b17030
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Persönlichkeitsverletzungen Erfolgsort Art. 40 EGBGB Herkunftslandprinzip eDate Advertising Mosaikbetrachtung Schwerpunktlösung Hinreichender Inlandsbezug Reform Rom II Reform Mediendeliktsrecht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 250 S.

Biographische Angaben

Gianandrea Schmidt (Autor:in)

Gianandrea Schmidt wächst in Hamburg auf und studiert Rechtswissenschaften sowie Politik und Literatur an den Universitäten Marburg, Lausanne und Münster. Seit 2015 ist er in Hamburg als Rechtsanwalt in den Bereichen Corporate und M&A tätig.

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Titel: Ehrverletzungen in der elektronischen Presse
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