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Die vergaberechtliche Selbstreinigung und Schadenswiedergutmachung im Lichte der Vergaberechtsnovelle 2016

Compliance-Management-Systeme zum Nachweis der Integrität

von Johannes Werschmann (Autor:in)
©2020 Dissertation 230 Seiten

Zusammenfassung

Die öffentliche Auftragsvergabe ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Öffentliche Aufträge werden dabei nur an geeignete Unternehmen vergeben, die nicht nach den §§ 123 oder 124 GWB vom Vergabeverfahren ausgeschlossen worden sind. Das Gesetz gewährt den Unternehmen im Falle des Verfahrensausschlusses in § 125 GWB allerdings die Möglichkeit, durch die Selbstreinigung dennoch am Vergabeverfahren teilzunehmen. Der Autor beleuchtet diese Möglichkeit der zweiten Chance auf Wiederzulassung, sowie die Rechtsschutzmöglichkeiten der Unternehmen und zeigt praktische Lösungsansätze in Bezug auf die Selbstreinigung auf. Dabei werden insbesondere die Maßnahmen gemäß § 125 Abs. 1 Nr. 3 GWB und die Anwendbarkeit gesellschaftsrechtlicher Grundsätze und Compliance-Standards thematisiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Gang der Untersuchung und rechtliche Prüfung
  • I. Abschnitt 1: Ausschlussgründe nach dem GWB
  • 1. Der überholte Begriff der vergaberechtlichen Zuverlässigkeit
  • 2. Obligatorische Ausschlussgründe
  • 3. Fakultative Ausschlussgründe
  • a) Reichweite und rechtliche Überprüfbarkeit der Ausschlussentscheidung des öffentlichen Auftraggebers
  • aa) Allgemeines Grundsätze und Reichweite der Ausschlussentscheidung des öffentlichen Auftraggebers
  • (1) Beurteilungsspielraum/Anwendung verwaltungsrechtlicher Grundsätze im Vergabeverfahren
  • (2) Ermessen auf Rechtsfolgenseite
  • bb) Rechtskontrolle der Ausschlussentscheidung
  • cc) Auswirkungen der Selbstreinigung auf das Ermessen des Auftraggebers bei fakultativen Ausschlussgründen
  • b) Zwischenergebnis
  • II. Abschnitt 2: Selbstreinigung
  • 1. Grundrechtliche und primärrechtliche Relevanz der Selbstreinigung
  • 2. Systematik der Selbstreinigung
  • 3. Frühere Handhabung der Selbstreinigung
  • a) Die Selbstreinigung in der Entscheidungspraxis
  • aa) Aufklärung des Sachverhalts
  • bb) Schadenswiedergutmachung
  • cc) Personelle und organisatorische Maßnahmen (Compliance-Maßnahmen)
  • ee) Geltende Grundsätze als Resultat der Entscheidung des OLG Brandenburg
  • b)    Zwischenergebnis
  • 4. Heutiger Begriff der Selbstreinigung
  • a) Auswirkungen des Wegfalls der Zuverlässigkeit auf den § 125 GWB n.F.
  • b) Voraussetzung der Selbstreinigung nach dem VergRModG203
  • c) Maßgeblicher Zeitpunkt/Beweislast
  • d) Die Selbstreinigungsmaßnahmen im Einzelnen
  • aa) Rechtsanspruch auf Prüfung
  • bb) Schadenswiedergutmachung
  • cc) Aktive und umfassende Aufklärung
  • dd) Zwischenergebnis
  • ee) Konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen
  • (1) Technische und organisatorische Maßnahmen
  • (2) Personelle Maßnahmen
  • ff) Die in Betracht kommende Compliance-Maßnahmen gemäß § 125 Abs. 1 Nr. 3 GWB im Einzelnen – gesellschaftsrechtlicher Einfluss
  • (1) Grundlagen des Compliance-Begriffs
  • (a) Gesetzliche Grundlagen der Compliance
  • (b) Verhältnis zwischen Risikomanagement und Compliance
  • (2) Unternehmerische Pflichten/Reichweite der Legalitätspflicht des Vorstandes
  • (3) Compliance-Organisationsstruktur im Einzelnen – Geltung auch im Rahmen der vergaberechtlichen Selbstreinigung nach § 125 Abs. 1 Nr. 3 GWB
  • (a) Compliance als Leitungsaufgabe
  • (b) Risikoanalyse
  • (c) Umstrukturierung des Unternehmens
  • (d) Zuordnung der Zuständigkeiten
  • (e) Tone from the Top und Unternehmenskultur
  • (f) Umfang der Ressourcenzuteilung
  • (g) Aufklären, Abstellen, Ahnden
  • (h) Grundsätzliche Bedeutung von IDW-PS 980, ISO 19600 und DICO Leitlinie „Kartellrechtliche Compliance“
  • (i)    Zwischenergebnis
  • gg) Zurechnung von Fehlverhalten (konzernweite Selbstreinigung)
  • (1) Grundsätze konzernweiter Zurechnung von Selbstreinigungsmaßnahmen
  • (2) Umfang und Reichweite organisatorischer Selbstreinigungsmaßnahmen im Konzern/Konzernweite Dimension von Compliance
  • III. Abschnitt 3: Prüfung und Bewertung der Selbstreinigungsmaßnahmen
  • 1. Allgemeine Grundsätze
  • 2. Zeitpunkt der Überprüfung/Mangelnde Bindungswirkung
  • 3. Grundsatz: Beurteilungsspielraum des Auftraggebers in Bezug auf die getroffenen Selbstreinigungsmaßnahmen – Grenzen des Beurteilungsspielraums
  • 4. Umfang der Überprüfbarkeit und Inkongruenz der Bewertungsmaßstäbe
  • IV. Abschnitt 4: Konsequenzen für die Bieter/Rechtsfolgen
  • 1. Rechtsfolgen für die Unternehmen aus der Inkongruenz der gesetzlichen Selbstreinigungsregelungen zu den Ausschlusstatbeständen – Gesamtkontext beider Regelungstatbestände
  • a) Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch die Gesetzessystematik
  • b) Begründungserfordernis gemäß § 125 Abs. 2 S. 2 GWB.
  • c) Keine andere Bewertung aufgrund der Überprüfungsmöglichkeiten nach dem WRegG
  • d)    Zwischenergebnis
  • 2. Rechtssicherheit durch den IDW PS 980/die ISO 19600/die Leitlinien der DICO/den Leitfaden des Bundesministeriums zur Berücksichtigung von Selbstreinigungsmaßnahmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
  • a) Rechtssicherheit durch den IDW-PS 980
  • b) Rechtssicherheit durch die ISO 19600
  • c) Rechtssicherheit durch die DICO Leitlinie „Kartellrechtliche Compliance“ und den Leitfaden des Bundesministeriums
  • d)    Zwischenergebnis
  • 3. Die Business Judgement Rule im Kontext der vergaberechtlichen Selbstreinigung
  • a) Grundsatz des Geschäftsleiterermessens/Auswirkung auf das Vergabeverfahren
  • b) Wesentliche Tatbestandsmerkmale der Business Judgement Rule
  • c) Vergaberechtlicher Bezug
  • d)    Zwischenergebnis
  • C. Praktischer Lösungsansatz
  • I. Organisatorische Umsetzung von Compliance-Strukturen im Unternehmen
  • 1. Autonome Organisation
  • 2. Matrix-Organisation
  • II. Vorzugswürdige Organisationsform/Vergaberechtlicher Bezug
  • D. Ergebnis/Zusammenfassung
  • I. Bedürfnis der Bieterunternehmen nach Rechtssicherheit
  • II. Geltung gesellschaftsrechtlicher Grundsätze für die (konzernweite) vergaberechtliche Selbstreinigung
  • III. Aktuell kein Mehr an Rechtssicherheit durch das WRegG
  • IV. Vollumfängliche gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung des öffentlichen Auftraggebers
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis

←14 | 15→

A. Einleitung

Jährlich vergibt die öffentliche Hand in Deutschland Aufträge in Höhe eines dreistelligen Milliardenbetrages an private Unternehmen.1 Gleichzeitig liegen die vom Bundeskartellamt wegen verbotener Kartellabsprachen verhängten Geldbußen auf einem Rekordniveau. Allein im Jahr 2015 betrug die Höhe der Bußgelder rund 208 Millionen Euro. Im Jahr 2016 überstiegen die Bußgelder schätzungsweise einen Betrag von rund 125 Millionen Euro.2 Im Jahr 2018 waren es bereits 376 Millionen Euro.3 Bereits das Auftragsvolumen aber natürlich auch die Höhe der verhängten Sanktionen unterstreichen die Bedeutung der Materie, mit der sich Politik und Verwaltung im Kontext der öffentlichen Auftragsvergabe zu beschäftigen haben. Der Sache nach geht es um Rechtsverstöße von Unternehmen im öffentlichen Bereich und insbesondere bei der Bewerbung um öffentliche Aufträge auf der einen Seite und das Bestreben des öffentlichen Auftraggebers, gerade nur den gesetzestreuen und geeigneten Unternehmen die Erfüllung eines öffentlichen Auftrags zuteilwerden zu lassen auf der anderen Seite.

Im Sinne einer verantwortungsvollen Verwendung öffentlicher Mittel besteht naturgemäß ein Bedürfnis des öffentlichen Auftraggebers daran, seine Geschäftsbeziehungen lediglich zu gesetzestreuen und leistungsfähigen Vertragspartnern zu unterhalten. Gemäß § 122 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge daher an „fachkundige und leistungsfähige Unternehmen vergeben, die nicht nach den §§ 123 oder 124 [GWB] [vom Vergabeverfahren] ausgeschlossen worden sind.“. In Umsetzung des Art. 58 Abs. 1 RL 2014/24/EU greift § 122 Abs. 2 GWB n.F. die in der Richtlinie enthaltenen Kategorien der Eignung zur Definition ←15 | 16→des Eignungsbegriff auf. Danach sind die seitens des öffentlichen Auftraggebers zugelassenen Eignungskategorien abschließend festgelegt. Vor der Vergaberechtsnovelle 2016 galt insoweit der § 97 Abs. 4 S. 1 GWB a.F., wonach „Aufträge […] an fachkundige, leistungsfähige sowie gesetzestreue und zuverlässige Unternehmen vergeben [wurden]“4.

Mit einer umfassenden Reform des GWB, welche am 18. April 2016 in Kraft getreten ist5, hat der deutsche Gesetzgeber das deutsche Vergaberecht umfassend reformiert und in Teilen erweitert. Hierdurch wurden die neuen EU-Vergaberichtlinien, welche am 28.03.2014 im EU-Amtsblatt veröffentlicht wurden6, fristgerecht in das deutsche Recht transformiert. Es handelt sich im Einzelnen um die Richtlinie 2014/24/EU über die Vergabe öffentlicher Aufträge7, welche die bisherige Richtlinie 2004/18/EG ersetzt, die Richtlinie über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste 2014/25/EU8, welche die frühere Richtlinie 2004/17/EG ersetzt sowie die neu eingeführte Richtlinie zur Regelung der Konzessionsvergabe, Richtlinie 2014/23/EU9. Durch die Novellierung des GWB soll das Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte reformiert, vereinfacht und praxisgerechter ausgestaltet werden.10 Die Neufassung der Richtlinien enthält in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Regelungen zur Prävention von Korruption und Vetternwirtschaft im Kontext der öffentlichen Auftragsvergabe.11 Insbesondere wurden im Rahmen der Novellierung die Gründe für den Ausschluss eines Bieters oder Bewerbers vom Vergabeverfahren klarer gefasst und in Teilen erweitert. Art. 41 und 57 RL 2014/24/EU sowie §§ 123, 124, GWB auf nationaler Ebene sehen hier eine Reihe, teils neuer, Gründe für einen Ausschluss vom Vergabeverfahren vor.

←16 | 17→

Insbesondere wurden auch die Vorgaben für die Prüfung der Eignung des Bieter- oder Bewerberunternehmens12 sowie das Konstitut der Selbstreinigung umfassend reformiert. Die Eignungsvoraussetzungen der Bieter im Vergabeverfahren sind nun unter Rückgriff auf Art. 58 RL 2014/24/EU im Rahmen des neuen § 122 GWB unter den dort abschließend aufgeführten Voraussetzungen kodifiziert.13 In Umsetzung des Art. 58 der RL 2014/24/EU wird insbesondere dessen Terminologie und Systematik aufgegriffen.14 Auch die Vergabeverordnungen greifen das Erfordernis einer Prüfung der Eignung sowie das Nichtvorliegen von Ausschlussgründen auf, vgl. bspw. §§ 42 Abs. 1 VgV. Während nach der bisherigen Gesetzeslage des § 97 Abs. 4 S. 1 GWB a.F. die Eignung aus den vier Elementen Fachkunde, Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Gesetzestreue bestand, orientiert sich § 122 Abs. 1 GWB n.F. nun ausschließlich an der Fachkunde und Leistungsfähigkeit als zentral definierende Komponenten der Eignung. Dabei wird dieses Begriffspaar vollständig durch die in § 122 Abs. 2 GWB genannten Kategorien ausgefüllt. Die Eignungskriterien dürfen gemäß § 122 Abs. 2 S. 2 GWB lediglich die „Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung“, die „wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit“ sowie die „technische und berufliche Leistungsfähigkeit“ betreffen.15 Weiter fordert § 122 Abs. 1 S. 1 GWB, dass neben der Fachkunde und Leistungsfähigkeit (Eignung) der ←17 | 18→Unternehmen keine Ausschlussgründe nach §§ 123, 124 GWB vorliegen dürfen. Sinn und Zweck dieser Vorgabe ist ausweislich der Gesetzesbegründung, dass lediglich solche Unternehmen den Zuschlag erhalten, die Recht und Gesetz in der Vergangenheit eingehalten haben und bei denen auch in Zukunft ein gesetzestreues Verfahren zu erwarten ist.16 Damit ändert sich im Grundsatz freilich auch nach der Vergaberechtsreform 2016 nichts an dem Bedürfnis des öffentlichen Auftraggebers, seine Geschäftsbeziehungen lediglich zu gesetzestreuen und leistungsfähigen Vertragspartnern zu unterhalten. Die unbestimmten Rechtsbegriffe der Zuverlässigkeit und Gesetzestreue, die bisher zur Definition der Eignung herangezogen wurden und denen stets im Rahmen einer Beurteilung durch den öffentlichen Auftraggeber eine einzelfallbezogene Bedeutung zukommen musste17, sind indes im Zuge der Vergaberechtsreform 2016 entfallen, da im Rahmen des § 122 Abs. 1 GWB nunmehr ein eindeutiger Ausschlussvorbehalt bei Vorliegen bestimmter Ausschlussgründe normiert wurde.18 Wurden Gesetzesverstöße in der Vergangenheit nach Maßgabe des § 97 Abs. 4 S. 1 GWB a.F. im Kontext der Zuverlässigkeit berücksichtigt, kommen nunmehr ungeachtet der Erfüllung der vom Auftraggeber aufgestellten Eignungsanforderungen Bieterunternehmen nicht als Zuschlagsdestinär in Betracht, wenn in ihrer Person ein entsprechender Ausschlussgrund nach §§ 123, 124 GWB vorliegt.19

Im Kontext der Zulassung zum und des Ausschlusses vom Vergabeverfahren, wurde ferner auch das bereits durch Rechtsprechung und Literatur etablierte Institut der Selbstreinigung, welches es den Unternehmen erlaubt, im Falle eines Verfahrensausschlusses aufgrund gesetzeswidrigen Verhaltens wieder am Vergabeverfahren teilzunehmen, erstmals in Gestalt einer eigenen gesetzlichen Grundlage (§ 125 GWB in Umsetzung von Art. 57 Abs. 6 RL 2014/24/EU) ausdrücklich kodifiziert.20 Liegt ein Verfahrensausschluss aufgrund von Ausschlussgründen vor, so ist den Bieterunternehmen die Möglichkeit eröffnet, ihr Fehlverhalten durch das Konstitut der Selbstreinigung gemäß § 125 GWB zu korrigieren und somit dennoch im Wege einer „zweiten Chance“ einen Zugang zum Vergabeverfahren und damit den Zuschlag zu erhalten. Unter Selbstreinigung sind dabei ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 125 GWB Maßnahmen zu verstehen, ←18 | 19→„die ein Unternehmen ergreift, um seine Integrität wiederherzustellen und eine Begehung von Straftaten oder schweres Fehlverhalten in der Zukunft zu verhindern.“21 Vorausgesetzt die sonstigen verbindlichen Eignungsvoraussetzungen nach Maßgabe des § 122 Abs. 1, 2 GWB liegen vor, kann somit das vergangene Fehlverhalten nicht zur Rechtfertigung einer Nichtberücksichtigung im Verfahren herangezogen werden. Nach dem Wortlaut des § 125 Abs. 1 Nr. 1–3 GWB werden an entsprechende Maßnahmen von Unternehmen drei Voraussetzungen gestellt:

Das Unternehmen muss den verursachten Schaden ausgleichen oder sich hierzu verpflichten (Nr. 1),

die Tatsachen und Umstände im Zusammenhang mit dem Fehlverhalten in Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden sowie der Vergabestelle umfassend aufgeklärt haben (Nr. 2)

und konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen haben, die geeignet sind, weitere Straftaten oder weiteres Fehlverhalten zu vermeiden (Nr. 3).

Aus dogmatischer wie auch aus praktischer Sicht wirft die Norm indes – obgleich hier scheinbar eine klare Handlungsanweisung für die Selbstreinigung gegeben wird – erhebliche Fragen in Bezug auf ihre Umsetzung im konkreten Einzelfall auf, da die Voraussetzungen recht allgemein gehalten sind. Dies macht es für den Rechtsanwender in der Praxis schwierig, die Folgen und Voraussetzungen der Norm konkret umzusetzen und zu einer rechtssicheren Selbstreinigung zu finden. Aus Unternehmenssicht stellt sich zunächst einmal die trivial anmutende Frage, welche Selbstreinigungsmaßnahmen gemäß § 125 Abs. 1 GWB denn nun theoretisch in Betracht kommen und welche praktischen Umsetzungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, um die für sie wirtschaftlich bedeutsame Wiederzulassung zum Vergabeverfahren planbar zu erreichen. Dabei spielen vor dem Hintergrund einer potentiell heterogenen Bieterstruktur auch die Zurechnung von Fehlverhalten übergeordneter Konzerngesellschaften und die konzernweite Ausgestaltung und Zurechnung von Selbstreinigungsmaßnahmen eine Rolle. Mit Blick auf das Bedürfnis eines effektiven Rechtsschutzes stellt sich ferner die Frage, welche Rechtsschutzmöglichkeiten den Bietern gegen eine Versagung der Wiederzulassung zur Verfügung stehen.

Insbesondere in Bezug auf die zu treffenden Selbstreinigungsmaßnahmen nach § 125 Abs. 1 Nr. 3 GWB ist im Zusammenhang mit der Frage der ←19 | 20→Rechtssicherheit eine nähere Analyse erforderlich. Die genannten technischen, organisatorischen und personellen Maßnahmen umfassen aus gesellschaftsrechtlicher Sicht – je nach Gesellschaftsform und -struktur des Bieterunternehmens oder des in Rede stehenden Fehlverhaltens – ein breites Spektrum an infrage kommenden Handlungsmöglichkeiten. Es handelt sich hierbei ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 125 GWB n.F. um „Compliance-Maßnahmen im weitesten Sinne“.22 In der Gesetzesbegründung werden unter anderem Personalmaßnahmen sowie Organisationsmaßnahmen genannt, insbesondere die Einführung eines Compliance-Management-Systems (CMS) abhängig von Größe und Struktur des Unternehmens sowie der Art des Verstoßes.23

Wurden entsprechende Selbstreinigungsmaßnahmen gemäß § 125 Abs. 1 GWB seitens der Bieterunternehmen getroffen, so sieht § 125 Abs. 2 GWB in einem zweiten Schritt vor, dass diese seitens der öffentlichen Auftraggeber unter Berücksichtigung der Schwere und der besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens „bewertet“ werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung handelt es sich um eine auf das konkrete Vergabeverfahren bezogene „Prognoseentscheidung“.24 Der öffentliche Auftraggeber soll dabei gemäß der Gesetzesbegründung einen „weiten Beurteilungsspielraum“ dahingehend haben, ob die vom Unternehmen durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen ausreichend sind.25 Will man den Fokus der (rechtlichen) Betrachtung auf die praktische Umsetzbarkeit von Selbstreinigungsmaßnahmen und die Rechtssicherheit für die Bieter richten, so stellt sich zwangsläufig die Frage wie weit dieser Entscheidungsspielraum reicht und inwieweit er von der Rechtsprechung überprüfbar ist. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage nach möglicherweise geltenden einheitlichen Prüfungsstandards, denen der öffentliche Auftraggeber bei seiner Maßnahmenbewertung möglicherweise unterliegt, um eine Ungleichbehandlung der Bieter zu verhindern. Die Frage nach dem rechtlichen Maßstab der Bewertung und rechtlichen Überprüfbarkeit der getroffenen Selbstreinigungsmaßnahmen ist dabei eng verzahnt mit der Rechtmäßigkeit und Überprüfbarkeit der Ausschlussentscheidung durch den Auftraggeber, welche eine Selbstreinigung erst erforderlich machen.

Ziel dieser Dissertation ist es, die sich aus der Umsetzung der Richtlinie 2014/24/EU ergebenen Anforderungen an die vergaberechtliche Selbstreinigung ←20 | 21→insbesondere in Bezug auf ein Compliance-Management–System zum Nachweis einer effektiven Selbstreinigung und der Integrität des Unternehmens am Beispiel der „klassischen“ Vergaberichtlinie RL 2014/24/EU bei der Vergabe von Lieferungen und Dienstleistungen herauszustellen und zu analysieren. Zu klären ist sowohl aus wissenschaftlicher wie auch aus praktischer Sicht, ob § 125 Abs. 1 Nr. 1–3 GWB sowie § 125 Abs. 2 GWB mit Blick auf die Rechtssicherheit für die Bieter praktisch umsetzbare und klare Vorgaben für eine Wiederzulassung zum Verfahren aufstellen und damit einem Ausschluss vom weiteren Vergabeverfahren oder sogar einer Vergabesperre (§ 126 GWB) planbar und rechtssicher entgegengewirkt werden kann. Es genügt aus Sicht der Bieter angesichts der wirtschaftlich relevanten Auswirkungen eines Verfahrensausschlusses möglicherweise nicht, dass der Gesetzgeber ihnen gemäß § 125 Abs. 1 GWB einen Rechtsanspruch auf Wiederzulassung am Vergabeverfahren im Wege der Selbstreinigung an die Hand gibt, der aber im Wege der Auslegung nicht mit „Leben“ gefüllt werden kann und damit auf den „guten Willen“ des öffentlichen Auftraggebers im Rahmen seiner Bewertung der Selbstreinigungsmaßnahmen nach § 125 Abs. 2 GWB vertraut werden muss. Ferner stellt sich auch die Frage nach der Effektivität der bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten.

In diesem Spannungsfeld zwischen Dogmatik und Praxis setzt die vorliegende Arbeit an und wird die dogmatischen wie praktischen Voraussetzungen der Selbstreinigung mit Blick auf die Rechtssicherheit für die Unternehmen beleuchten. Da Schwachstelle des gegenwärtigen Systems der vergaberechtlichen Selbstreinigung möglicherweise insbesondere die Unüberschaubarkeit der in Betracht kommenden organisatorischen Maßnahmen und die Gefahr einer uneinheitlichen Vergabepraxis ist, gilt es insbesondere auch die gegebenenfalls bestehenden Schnittmengen zwischen Gesellschafts- und Vergaberecht in den Fokus zu nehmen um abschließend einen Vorschlag für praktische Lösungsansätze bei der Umsetzung von Selbstreinigungsmaßnahmen zu entwickeln.

Unter Berücksichtigung der erörterten Gesetzessystematik sowie der dogmatischen Grundlagen, ist die Vorschrift des § 125 GWB aus wissenschaftlicher Sicht unter Zugrundelegung der juristischen Auslegungsmethoden insbesondere mit Blick auf die Historie und die Systematik sowie den Wortlaut und ihren Sinn und Zweck zu analysieren. In diesem Zusammenhang gilt es, nachdem die vom GWB normierten Voraussetzungen für den Ausschluss eines Unternehmens vom Vergabeverfahren vorgestellt werden sollen, in einem ersten Schritt aus gesetzeshistorischer Sicht die bisher von Rechtsprechung und Literatur herausgearbeiteten Voraussetzungen einer vergaberechtliche Selbstreinigung darzustellen und in die aktuelle Gesetzessystematik nach der Vergaberechtsnovelle 2016 einzuordnen. Den Ausgangspunkt der rechtlichen Analyse bildet dabei ←21 | 22→das Spannungsverhältnis zwischen Ausschluss und Wiederzulassung zum Vergabeverfahren, da erst der Verfahrensausschluss eine Selbstreinigung überhaupt erforderlich macht. Methodisch wird dies sowohl anhand einer umfassenden richtlinienkonformen Gesetzesauslegung der §§ 122–125 GWB als auch allgemeiner verwaltungsrechtlicher dogmatischer Grundlagen zum Ermessens- und Beurteilungsspielraum erfolgen, welche möglicherweise auf das Vergabeverfahren übertragen werden können. Dabei soll der Blick neben den §§ 123–125 GWB stellvertretend auf die vor der Vergaberechtsnovelle 2016 für Dienstleistungsaufträge geltende Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen (EG) VOL/A a.F. gerichtet werden.

Im Ergebnis wird mit Blick auf möglicherweise bestehende Rechtsunsicherheiten insbesondere in Bezug auf § 125 Abs. 1 Nr. 3 GWB die Frage zu klären sein, ob aus wissenschaftlicher und praktischer Sicht überhaupt auf Grundlage einer theoretischen Herleitung ein Mindeststandard für Compliance-Maßnahmen im Kontext der vergaberechtlichen Selbstreinigung entwickelt werden kann und wenn ja, wie hier ein vereinheitlichender und diskriminierungsfreier Maßstab für alle Bieterunternehmen gewährleistet werden kann. Ergänzend werden bei der Auslegung der Vorschrift des § 125 GWB die gesellschaftsrechtlichen Grundsätze zur Compliance-Forschung sowie potentielle vergaberechtliche Besonderheiten eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang werden auch die vergaberechtliche Anwendbarkeit und Bindungswirkung gesellschaftsrechtlich motivierter ISO-Standards wie insbesondere die 2014 neu eingeführte ISO 19600 oder Prüfungsstandards wie der IDW-PS 980 sowie der neuen DICO-Leitlinie „Kartellrechtliche Compliance“ relevant.


1 Vgl. auch Auskunft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, abrufbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/oeffentliche-auftraege-und-vergabe.html (letzter Abruf: 29.03.2020); vgl. auch: Maibaum, CB 2015, 104 (104), der in einen Betrag von 300 Mrd. € nennt.

2 Vgl. Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2015/2016, BT- Drs. 18/12760, VIII; vgl. auch den Jahresbericht des Bundeskartellamtes,2015, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Jahresbericht/Jahresbericht_2015.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf: 22.03.2020); Mutschler-Siebert, BB 2015, 642 (642).

3 Vgl. Jahresbericht des Bundeskartellamts 2018, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Jahresbericht/Jahresbericht_2018.pdf?__blob=publicationFile&v=9 (letzter Abruf: 22.03.2020).

4 Hervorhebung durch Verfasser.

5 Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts (Vergaberechtsmodernisierungsgesetz -VergRModG), BGBl. I 2016 S. 203. Flankiert wurde die Novelle durch die Verordnung zur Modernisierung des Vergaberechts (Vergaberechtsmodernisierungsverordnung- VergRModVO), BGBl. I 2016, S. 624.

6 RL 2014/23/EU, RL 2014/24/EU und RL 2014/25/EU des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments vom 26.02.2014 (Abl. L 94/1, Abl. L94/65/Abl. L 94/243).

7 RL 2014/24/EU vom 28.03.2014, Abl. L 94/65.

Details

Seiten
230
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631831571
ISBN (ePUB)
9783631831588
ISBN (MOBI)
9783631831595
ISBN (Paperback)
9783631823309
DOI
10.3726/b17377
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Wettbewerbsregister § 125 GWB Business-Judgement-Rule Autonome Organisation Wettbewerbsregistergesetz Beurteilungsspielraum IDW-PS 980 Normative Ermächtigungslehre Matrix Organisation WRegG
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 230 S.

Biographische Angaben

Johannes Werschmann (Autor:in)

Johannes Werschmann studierte Rechtswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war im Anschluss an sein Referendariat im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf mehrere Jahre als Rechtsanwalt in Düsseldorf tätig. Seine Promotion erfolgte berufsbegleitend an der Universität zu Köln.

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