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Das Verhältnis von Anlegerschutz und Kapitalschutz im Vergleich von türkischem und deutschem Rechtssystem

von Elif Kösedağı (Autor:in)
©2021 Dissertation 356 Seiten

Zusammenfassung

Das Verhältnis zwischen dem Anlegerschutz und Kapitalschutz betrifft den aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsgrundsatz und die kapitalmarktrechtliche Emittentenhaftung aufgrund einer Informationspflichtverletzung. Dem Anlegerschutz kommt sowohl im türkischen als auch im deutschen Rechtssystem ein besonderer Stellenwert zu, wobei die Entschädigung der getäuschten Anleger durch die Gesellschaft zu einer möglichen Kollision mit den Kapitalschutzschranken führen kann. Diese Arbeit versucht die Zweifelsfragen unter Betrachtung des türkischen und deutschen Rechts zu klären, ob und inwieweit dem Anlegerschutz ein Vorrang vor dem Kapitalschutz eingeräumt werden soll, und ob die Problemlösung den europäischen Vorschriften entgegenstehen würde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Geleitwort von Prof. em. Dr. iur. Dres. h.c. Harm Peter Westermann
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Erstes Kapitel: Anlegerschutz
  • A. Anlegerschutz nach europäischem Recht
  • I. Anlegerschutz als Ziel des Kapitalmarktrechts
  • II. Das europäische Anlegerleitbild
  • III. Unionsrechtliche Vorschriften zum Anlegerschutz
  • B. Anlegerschutz nach deutschem Recht
  • I. Die Regelungsziele des Kapitalmarktrechts
  • 1. Funktionsschutz
  • 2. Anlegerschutz
  • II. Der Bedarf von Anlegerschutz
  • 1. Begründung
  • 2. Analyse des Anlegerschutzes
  • a. Anbieterseite
  • aa. Informationsasymmetrie
  • ab. Interessenkonflikte
  • ac. Inhalt und Umfang der Aufklärungspflichten
  • i. Emittentenrisiko
  • ii. Rückvergütungen (Kick-Backs)
  • iii. Gewinnmarge
  • b. Anlegerseite
  • III. Zum Begriff des „Anlegers“
  • 1. Definition
  • 2. Anlegerdefinitionen
  • a. Der verständige Anleger
  • b. Der durchschnittliche Anleger
  • c. Der private Anleger
  • d. Der semiprofessionelle Anleger
  • e. Der professionelle Anleger
  • f. Der Verbraucher
  • 3. Die Doppelrolle des Kleinaktionärs
  • IV. Den Anlegerschutz betreffende Verbote
  • 1. Verbot der Marktmanipulation
  • 2. Insidergeschäfte
  • C. Anlegerschutz nach türkischem Recht
  • I. Anleger
  • 1. Der Anleger als Marktakteur
  • 2. Schutz der Rechte und Interessen der Anleger
  • 3. Anlegerkategorien
  • a. Der institutionelle Anleger
  • b. Der individuelle Anleger
  • c. Der qualifizierte Anleger
  • d. Die Anlegergruppe
  • e. Der inländische Anleger
  • f. Anleger und Verbraucher
  • II. Der Schutz des Anlegers
  • 1. Gesetzliche Schutzvorschriften
  • a. Einklang mit dem europäischen und dem türkischen Recht
  • b. Änderungen und Neuigkeiten
  • c. Anlegerschutz im Rahmen der Corporate-Governance-Prinzipien
  • d. Schutzmechanismen des Kapitalmarktgesetzes zum Anlegerschutz
  • 2. Verbotene Handlungen
  • a. Marktmanipulationsverbot
  • b. Insiderhandelsverbot und Veröffentlichung von Insiderinformationen
  • c. Sonstige verbotene Handlungen
  • D. Zusammenfassung
  • Zweites Kapitel: Das Verhältnis des Anlegerschutzes zum Kapitalschutz nach deutschem Recht
  • A. Problematik
  • B. Aktienrechtlicher Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • I. Gesetzliche Grundlagen
  • II. Verbot der Einlagenrückgewähr
  • 1. Tatbestände verbotener Einlagenrückgewähr
  • a. Objektive Reichweite
  • b. Subjektive Reichweite
  • c. Zeitliche Reichweite
  • 2. Formen der verbotenen Rückgewähr
  • 3. Leistungen unter Beteiligungen Dritter
  • a. Ehemalige und künftige Aktionäre
  • b. Leistungen unter Beteiligung Dritter
  • 4. Einzelfälle verbotener Rückgewähr
  • a. Verbotene Auszahlungen
  • b. Unzulässiger Erwerb eigener Aktien
  • c. Ausnahmen vom Verbot der Einlagenrückgewähr
  • III. Rechtsfolgen der Verstöße gegen den Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • IV. Haftung aufgrund eines Verstoßes gegen Kapitalerhaltungsvorschriften
  • C. Das Spannungsverhältnis zwischen der Haftung für fehlerhafte Informationen und dem Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • I. Das Verhältnis der kapitalmarktrechtlichen Prospekthaftung zum Kapitalerhaltungsgrundsatz nach § 57 AktG
  • 1. Die Prospekthaftung
  • a. Der Prospekt
  • aa. Prospektpflicht
  • ab. Prospektinhalt
  • b. Rechtsnatur der Prospekthaftung
  • c. Haftungstatbestände bei der spezialgesetzlichen Prospekthaftung
  • ca. Gegenstand der Prospekthaftung
  • cb. Unrichtigkeit und Unvollständigkeit des Prospekts
  • d. Haftungsadressaten
  • da. Prospektverantwortliche
  • db. Anspruchsberechtigte
  • dc. Kausalität und Beweiserleichterung
  • 2. Diskussionsstand
  • a. Vorrang der Kapitalerhaltung
  • b. Vorrang der Prospekthaftung
  • c. Vermittelnde Lösungen
  • 3. Haftungsfreistellung bei der Platzierung von Aktien und das Verhältnis zum Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • II. Das Verhältnis der Ad-hoc-Publizitätshaftung zum Kapitalerhaltungsgrundsatz nach § 57 AktG
  • 1. Ad-hoc-Publizitätshaftung
  • a. Haftung des Emittenten
  • aa. Unterlassene unverzügliche oder unwahre Veröffentlichung von Insiderinformationen
  • ab. Fehlerhafte Regelpublizität und sonstige Veröffentlichungen von Fehlinformationen
  • ac. Emittentenwissen und Wissenzurechnung
  • i. Art. 17 MAR als Wissensnorm oder Wissensorganisationspflicht
  • ii. Kenntnis oder Kennenmüssen der Insiderinformation für die Ad-hoc-Publizität
  • iii. Wissenzurechnung
  • iv. Wissenzurechnung im Konzernverhältnis
  • ad. Die Anspruchsberechtigten
  • b. Haftung der Vorstandsmitglieder
  • ba. Gesetzliche Grundlagen
  • bb. Haftung des Vorstands bei Wissenorganisationen
  • bc. Innere- und Außenhaftung des Vorstands
  • c. Schadensmodelle
  • ca. Vertragsabschlussschaden oder Kursdifferenzschaden
  • cb. Kausalität und Beweislast
  • 2. Diskussionsstand
  • a. Entstehung
  • b Vorrang der Kapitalerhaltung
  • c. Vorrang des Anlegerschutzes
  • d. Differenzierende Lösungen
  • III. Erwerb eigener Aktien als Folge von Schadensersatzansprüchen und der Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • D. Zusammenfassung
  • Drittes Kapitel: Der Vorrang der kapitalmarktrechtlichen Informationshaftung vor dem Kapitalerhaltungsgrundsatz nach Europäischem Kapitalmarktrecht
  • A. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz auf der europäischen Ebene
  • I. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz nach der Gesellschaftsrechtsrichtlinie
  • 1. Grundlagen
  • 2. Der Ausschüttungsumfang an Aktionäre
  • II. Erwerb eigener Aktien und dessen finanzielle Unterstützung
  • III. Einberufung der Hauptversammlung bei schweren Verlusten
  • IV. Weitere Vorschriften zum Kapitalschutz im Unionsrecht
  • B. Die Spannung zwischen dem Kapitalerhaltungsgrundsatz und dem Vorrang der Informationshaftung
  • I. Problembeschreibung
  • II. Vereinbarkeit des Vorrangs der Informationshaftung mit dem Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • 1. Vorrang des Anlegerschutzes und Art 56 GesRRL
  • a. Begriff der Ausschüttung und seine Auslegung
  • b. Meinungsstand zur möglichen Kapitalausschüttungsnatur der Schadensersatzleistung
  • c. Vereinbarkeit der kapitalmarktrechtlichen Emittentenhaftung mit der Richtlinie
  • 2. Das Verhältnis des Anlegerschutzes zum Erwerb eigener Aktien
  • III. Unionsrechtliche Schutzvorschriften für die Haftung aufgrund einer fehlerhaften Kapitalmarktinformation
  • C. Zusammenfassung
  • Viertes Kapitel: Kapitalschutz versus Anlegerschutz nach türkischem Recht
  • A. Zur Problematik
  • B. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • I. Anpassung an das europäische Recht
  • 1. Notwendigkeit eines neuen Handelsgesetzbuchs
  • 2. Kritik
  • 3. Einklang mit dem Kapitalmarktgesetz
  • II. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • 1. Schutz des „Grundkapitals“ oder des „Gesellschaftsvermögens“
  • 2. Das Verbot der Einlagenrückgewähr
  • a. Reichweite des Verbots
  • b. Formen der verbotenen Rückgewähr
  • c. Zuwendungen im Konzernverhältnis
  • III. Einzelfälle verbotener Rückgewähr
  • 1. Unzulässiger Erwerb eigener Anteile nach Art. 379 Abs. 1 tHGB
  • 2. Das Verschuldungsverbot der Aktionäre nach Art. 358 tHGB
  • 3. Das finanzielle Unterstützungsverbot des Erwerbs eigener Anteile nach Art. 380 Abs. 1 tHGB
  • IV. Rechtsfolgen von Verstößen gegen Kapitalschutzvorschriften
  • 1. Die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts
  • 2. Haftung nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuchs
  • a. Haftung für gesetzwidrige Urkunden und Erklärungen
  • b. Unrichtige Angaben über das Grundkapital und die Zahlungsunfähigkeit
  • c. Betrug bei der Wertbestimmung
  • d. Geldansammlung aus dem Publikum
  • 3. Reichweite der Haftung
  • a. Die Gesellschaft
  • b. Persönliche Haftung der Vorstandsmitglieder
  • ba. Sorgfalts- und Organisationspflichten
  • i. Risikomanagement durch die Vorstandsmitglieder unter Berücksichtigung der Corporate-Governance-Prinzipien
  • ii. Bei den Publikumsgesellschaften
  • iii. Auskunftspflichten im Konzernverhältnis
  • bb. Grenzen der Sorgfaltspflichten
  • 4. Schadensersatzansprüche
  • a. Aufgrund unmittelbarer Schäden der Aktionäre und Gläubiger
  • b. Möglichkeit der Ersetzung von mittelbaren Schäden
  • C. Die Spannung zwischen dem Anlegerschutz und dem Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • I. Prospekthaftung
  • 1. Erstellung des Prospekts
  • a. „Prospekt“ als Publizitätsdokument
  • b. Umfang des Prospekts
  • c. Unrichtige, irreführende und unvollständige Informationen im Prospekt
  • 2. Haftung für den Prospekt
  • a. Emittentenhaftung
  • b. Vorstandsmitglieder als sekundäre Haftungsverpflichtete
  • c. Kausalität und Unkenntnis der Verantwortlichen
  • II. Kapitalmarktrechtliche Publizitätshaftung
  • 1. Allgemeines zu den Publizitätspflichten
  • 2. Publizitätspflichten im Handelsgesetzbuch
  • 3. Publizitätspflichten im Kapitalmarktgesetz
  • a. Veröffentlichung von Insiderinformationen
  • b. Finanzberichte und unabhängige Prüfung
  • III. Allgemeine Haftung bei Publizitätsdokumenten
  • 1. „Publizitätsdokumente“ als Gegenstand der Haftung
  • 2. Kausalität und Schaden für die Publizitätsdokumente
  • a. Beweiserleichterung für die Anleger bei der haftungsbegründenden Kausalität
  • b. Kursdifferenzschaden oder Naturalrestitution?
  • 3. Unkenntnis der Emittenten und Vorstandsmitglieder
  • 4. Rolle der Kapitalmarktaufsicht beim Schadensersatz
  • IV. Das Verhältnis der Kapitalmarktinformationshaftung zum Kapitalerhaltungsgrundsatz
  • 1. Vorrang des Kapitalschutzes
  • 2. Vorrang der Interessengruppen
  • a. Unterscheidung der Interessengruppen
  • b. Vorrang des Aktionärsinteresses
  • c. Vorrang des Gläubigerinteresses
  • V. Vorrang des Anlegerschutzes gegenüber dem Kapitalschutz
  • 1. Allgemeine Urteile zum Anlegerschutz
  • 2. Urteile in sogenannten Islamische Holdings-Fällen
  • a. Sachverhalt
  • b. Verstoß gegen das Bankgesetz
  • c. Verstoß gegen das Kapitalmarktgesetz
  • d. Aktionärstellung der Anleger
  • e. Deliktsrechtliche Schadensersatzansprüche der Anleger
  • f. Keine Fristen wegen dem Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben
  • g. Durchgriffshaftung
  • ga. Ausländische Tochtergesellschaften
  • gb. Durchgriffshaftung der türkischen Muttergesellschaften und ihrer Vorstandsmitglieder
  • 3. Die Beziehung zwischen dem Erwerb eigener Aktien und den Schadensersatzansprüchen der Anleger
  • 4. Urteile der deutschen Gerichte in Parallelfällen
  • a. Tatbestände
  • b. Entscheidungsgründe
  • c. Kritik an den Entscheidungsgründen
  • ca. Erforderliche Prüfung des türkischen Rechts wurde nicht durchgeführt
  • cb. Das offensichtliche Ponzi-Schema wurde nicht erkannt
  • cc. Kritik zum Urteil des Bundesgerichtshofs in der deutschen Literatur
  • D. Zusammenfassung
  • Schlussbetrachtung
  • A. Gesetzlicher Handlungsbedarf bezüglich des Konflikts zwischen dem Anlegerschutz und Kapitalschutz
  • B. Der Handlungsbedarf für die Haftung der Vorstandsmitglieder
  • C. Die Erfüllung eines grenzübergreifenden Entscheidungseinklangs
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Das Verhältnis zwischen dem aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsgrundsatz und der Emittentenhaftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformationen gehört zu den aktuellsten Konflikten des Kapitalmarktrechts. Der finanzielle Schwerpunkt der Aktiengesellschaft liegt überwiegend auf den Gläubigern, wobei der Kapitalerhaltungsgrundsatz eine wichtige Rolle spielt, während das Kapitalmarktrecht den Funktions- und Anlegerschutz fokussiert.1

Die Anlegerschutzvorschriften werden im organisierten Kapitalmarkt hauptsächlich in Marktbeteiligungsverfahren bei fehlerhaften Prospekten oder bei Ad-hoc-Publizitätspflichten, verbotenen Handlungen wie z.B. bei Insidergeschäften, bei dem Verstoß gegen das Marktmanipulationsverbot und bei fehlerhaften Anlageberatungen verletzt. Wenn Wertpapiere am Kapitalmarkt öffentlich angeboten bzw. zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen werden, wird für das öffentliche Angebot2 und für die Zulassung zum Handel3 ein Prospekt benötigt, so dass sich der Anleger über die Wertpapiere und die Emittenten informieren kann. Falls die wesentlichen Angaben in dem Prospekt unrichtig oder unvollständig sind, kann der Erwerber der Wertpapiere Schadensersatz verlangen. Diese Rechtsfolge kann in einer Aktiengesellschaft möglicherweise zu einem Konflikt zwischen dem Grundsatz der Kapitalerhaltung4 und dem Verbot des Erwerbs eigener Aktien5 führen.

Der Kapitalerhaltungsgrundsatz ist im Aktienrecht als das Verbot der Einlagenrückgewähr kodifiziert. Wer als Anleger eine Aktie kauft, fällt als Aktionär in den Anwendungsbereich des Kapitalerhaltungsgrundsatzes. Das bedeutet, dass Zahlungen der Aktiengesellschaft an ihre Aktionäre außerhalb der Verteilung des Bilanzgewinns verboten sind. Die Schadensersatzleistung für geschädigte Anleger in Form einer Zahlung der Differenz zwischen dem Erwerbspreis und dem Veräußerungspreis kann nicht als Verteilung des Bilanzgewinns6 bewertet werden.

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Dies hat zur Folge, dass prinzipiell eine Kollision zwischen dem Kapitalerhaltungsgrundsatz und der Schadensersatzleistung der Aktiengesellschaft besteht.

Hinzu kommen auch Bedenken im Hinblick auf die Vorschriften über den Erwerb eigener Aktien durch die Aktiengesellschaft, soweit der Ersatzanspruch der Anleger zu einer Rückabwicklung einer Transaktion an die Gesellschaft führt. Diese Rechtsfolge wird nicht nur für die gesetzliche Prospekthaftung7 vorgesehen, sondern auch bei der Haftung aufgrund vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung8, der Verletzung eines Schutzgesetzes wegen fehlerhafter Ad-hoc-Mitteilungen9 und nach jüngster höchstrichterlicher Rechtsprechung auch bei spezialgesetzlichen10 Haftungsvorschriften.11

Die Schadensersatzansprüche der geschädigten Anleger bedeuten einerseits aus Sicht der Gläubiger eine Schmälerung des Gesellschaftsvermögens, andererseits stellt diese auch eine Gefahr für den Fortbestand der Aktiengesellschaft dar, wenn die Schadensersatzverpflichtung der Aktiengesellschaft massenhaft ist.12 Die Interessenkollision zwischen den Anlegern und der Aktiengesellschaft bzw. den Aktionären sowie Gläubigern der Aktiengesellschaft liegt darin, dass die getäuschten Anleger entschädigt werden müssen, da ansonsten der Anlegerschutz nur unvollkommen verwirklicht wird.13 Jedoch verbirgt sich darin die Gefahr, dass bei einem unbegrenzten Schadensersatzanspruch die Aktiengesellschaft im schlimmsten Fall nicht mehr existieren würde, so dass auch die Aktionäre und Gläubiger der Aktiengesellschaft geschädigt werden.

Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich in Deutschland sowohl das Reichsgericht als auch der Bundesgerichtshof. Seit den Entscheidungen des Reichsgerichts14 verbreiten sich die kapitalmarktrechtlichen Haftungsvorschriften für Emittenten immer weiter.15

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Im Wesentlichen räumte der Bundesgerichtshof zum ersten Mal in seiner EM.TV-Entscheidung einen Vorrang des Anlegerschutzes vor dem Gläubigerschutz unter Bezugnahme auf die Diskussion zur Prospekthaftung des Emittenten ein. Im Rahmen der Emittentenhaftung wird neuerdings häufig diskutiert, ob bei einer Verletzung von Informationspflichten, bzw. bei der Veröffentlichung von Insiderinformationen die Kenntnis des Emittenten erforderlich ist.16

In einem weiteren Schritt muss der Vorrang des Anlegerschutzes gegenüber dem Kapitalerhaltungsgrundsatz auch auf der Grundlage europäischer Kapitalschutzvorschriften überprüft werden, da der Vorrang des Anlegerschutzes für fehlerhafte Informationen diesen widersprechen kann. Wie das deutsche Aktiengesetz enthält auch die Gesellschaftsrechtsrichtlinie (frühere Kapitalrichtlinie) eine Ausschüttungsbeschränkung (Art. 56 GesRRL) und eine Begrenzung des Erwerbs eigener Aktien (Art. 60 GesRRL) durch die Aktiengesellschaft. Nach dem Wortlaut des Art. 56 Abs. 4 GesRRL wird insbesondere die Zahlung von Dividenden und von Zinsen für Aktien durch den Begriff „Ausschüttung“ erfasst, worunter verstanden wird, dass außer diesen auch andere Zahlungen als Ausschüttung gelten können. Ob der Richtliniengeber die Schadensersatzansprüche des geschädigten Anlegers durch Art. 56 GesRRL erfassen will, muss ausgelegt werden. Demzufolge könnte ein Konflikt zwischen dem Kapitalerhaltungsgrundsatz und der Emittentenhaftung aufgrund fehlerhafter Kapitalmarktinformationen bestehen. Ebenfalls muss geklärt werden, ob ein Verstoß gegen das Verbot des Erwerbs eigener Aktien (Art. 60 GesRRL) vorliegt, wenn die Schadensersatzleistung in Form der Rücknahme der Aktien gegen Erstattung des Erwerbspreises ausbezahlt wird.

Der Europäische Gerichtshof stand mit seiner Hirmann-Entscheidung erstmalig bei der Diskussion über das Auslegungsproblem der Schadensersatzleistung aufseiten der Anleger, so dass eine Zahlung aufgrund der Emittentenhaftung keine Kapitalausschüttung i.S.d Art. 56 GesRRL darstellt.17

Nicht nur im deutschen Recht, sondern auch im türkischen Recht ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Anlegerschutz und dem Kapitalschutz bei der Emittentenhaftung und der Haftung der Vorstandsmitglieder, insbesondere aufgrund fehlerhafter Informationen aus einem Prospekt oder einem Publizitätsdokument, streitig.

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Anlegerschutz und Kapitalschutz sind zwei Bestandteile im türkischen Recht, die inzwischen viel bearbeitet und verändert wurden, um das türkische Recht in Einklang mit dem Europäischen Recht zu bringen. Hauptmotiv war neben einer Entwicklung in Richtung der Europäischen Union auch die Einbindung der Türkei in den internationalen Markt. Nach einer fünfzigjährigen Existenz der alten Auffassung wurde erst im Jahr 2012 zur Verwirklichung dieser Ziele das türkische Handelsgesetzbuch, welches sachlich das Aktienrecht betrifft18 und sich grundsätzlich auf den Schutz der Gläubiger und Aktionäre konzentriert, unter Berücksichtigung europäischer Rechtsvorschriften, vor allem der Kapitalrichtlinie, neu gefasst.

Die Türkei ist ein EU-Beitrittskandidat. Außerdem pflegt sie sehr enge Beziehungen zu Deutschland, insbesondere aufgrund des Anwerbeabkommens vom 30.10.1961, wodurch hunderttausende türkischstämmige Arbeiter nach Deutschland kamen. Da die türkischen Immigranten zu Anfangszeiten noch von einer Rückkehr in die Türkei ausgingen, sparten sie einen großen Teil ihrer Einnahmen. So betrugen die Ersparnisse mehrere Milliarden deutsche Mark, die Betrüger als Beute ansahen. In den 90er Jahren sammelten Muttergesellschaften mit Sitz in der Türkei durch ihre in Deutschland, Luxemburg und Liechtenstein gegründeten Scheingesellschaften Gelder von in Europa ansässigen, türkischstämmigen Anlegern, mit dem Versprechen, dass eine Rückzahlung zuzüglich hoher Zinsen jederzeit möglich sei.

Es wird davon ausgegangen, dass durch diese Gesellschaften innerhalb von 5 Jahren von ca. 300.000 Anlegern insgesamt eine Geldsumme in Höhe von 50 Milliarden deutschen Mark gesammelt wurde. Die Anleger wurden dabei als Aktionäre der türkischen Muttergesellschaften bezeichnet. Später jedoch wurde eine Rückzahlung mit der Begründung, dass der Rückerwerb der Aktien nach türkischem Recht nicht möglich sei, verweigert, so dass die Anleger in Deutschland sowie in der Türkei gegen diese Gesellschaften Klagen auf Schadensersatz erhoben.

Nicht nur die türkischen, sondern auch die deutschen Gerichte mussten seit 2001 in sogenannten „Islamische-Holdings-Fällen“ über Anleger- und Kapitalschutz entscheiden. Die berühmten sowie fehlerhaften Urteile des Bundesgerichtshofs über den Anlegerschutz vom 04.07.201319, welche auch in der Literatur kritisiert wurden,20 betreffen ebenfalls diese Verfahren.

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Da es sich sowohl um inländische als auch ausländische Gesellschaften handelt und auch die Durchgriffshaftung der Gesellschafter diskutiert werden musste, waren diese Fälle sowohl für deutsches als auch für türkisches Recht sehr interessant. Durch die Entscheidungen der türkischen und deutschen Gerichte in diesen Fällen kann ein Röntgenfilm des deutschen und türkischen Anlegerschutzes aufgenommen werden.

Die vorliegende Untersuchung soll dazu beitragen, die Zweifelsfragen zu klären, inwieweit der Anlegerschutz einen Vorrang vor dem Kapitalerhaltungsgrundsatz hat und ob dieser Vorrang gegen europäische Vorschriften verstößt. Dafür müssen der Anlegerschutz und seine Beziehung zu den Kapitalschutzvorschriften im deutschen und türkischen Kapitalmarktrecht im Vergleich mit dem europäischen Recht gründlich untersucht und die Institutionen, durch die die Anleger geschützt werden sollen, näher behandelt werden. In diesem Zusammenhang wird zuerst der Anlegerschutz unter Berücksichtigung unterschiedlicher Anlegertypen in europäischen (Erstes Kapitel-A), deutschen (Erstes Kapitel-B) und türkischen Vorschriften (Erstes Kapitel-C) analysiert und existierende Schutzvorschriften zusammen mit den verbotenen Handlungen erläutert. Sodann werden die Prospekthaftung und die Ad-hoc-Publizitätshaftung mit ihrem Konfliktverhältnis zum Einlagenrückgewährverbot bzw. zum Verbot des Erwerbs eigener Aktien nach deutschem (Zweites Kapitel), europäischem (Drittes Kapitel) und türkischem Recht (Viertes Kapitel) erörtert und unter entscheidender Rechtsprechung und Literatur zitiert. Anschließend folgen eine Bewertung der Problematik und Lösungsmöglichkeiten (Schlussbetrachtung).

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1 Langenbucher, ZIP 2005, S. 239; zur gläubigerschutzorientierten Interpretation Henze, GroßKommAktG, § 57 Rn. 20; Zimmer/Grotheer in: Schwark/Zimmer, KMRK, §§ 37b, 37c WpHG Rn. 13.

2 § 3 Abs. 1 WpPG und Art. 4 tKMG und Art. 5 des Prospekterlasses.

3 § 3 Abs. 3 WpPG und Art. 4 tKMG und Art. 5 des Prospekterlasses.

4 § 57 AktG und Art. 480 tHGB.

5 § 71 AktG und Art. 379 tHGB.

6 Die Verteilung des Bilanzgewinns i.S.d. § 57 AktG und Art. 509 Abs. 2 tHGB.

7 § 21 WpPG (auch i.V.m. § 22 WpPG), § 23 WpPG und Art. 10 und Art. 32 tKMG.

8 § 826 BGB und Art. 49 ff. tOG.

9 § 823 Abs. 2 BGB.

10 §§ 97, 98 WpHG (§§ 37b, 37c WpHG a.F.) und Art. 10 und 32 tKMG.

11 Mülbert/Steup in: Habersack/Mülbert/Schlitt, HdB Unternehmensfinanzierung, 2019, § 41 Rn. 5.

Details

Seiten
356
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631840740
ISBN (ePUB)
9783631840757
ISBN (MOBI)
9783631840764
ISBN (Paperback)
9783631833452
DOI
10.3726/b17815
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Prospekt Ad-Hoc-Publizität Kapitalerhaltungsgrundsatz Erwerbsverbot Insiderinformation Rechtsvergleichung Aktienrecht Kapitalmarktrecht Emittentenhaftung Organhaftung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 356 S.

Biographische Angaben

Elif Kösedağı (Autor:in)

Elif Kösedağı studierte Rechtswissenschaft von 2000 bis 2004 an der Marmara Universität in Istanbul. An der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen absolvierte sie ihr Masterstudium und ihre Promotion. Im Jahr 2006 wurde sie zur Anwaltschaft zugelassen. Sie ist als Mitglied der Rechtsanwaltskammern Istanbul und Tübingen tätig.

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