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Pädagogik angesichts von Vulnerabilität und Exklusion

Bummeln durch die Landschaft der Randständigkeit

von Louis Henri Seukwa (Band-Herausgeber:in) Uta Wagner (Band-Herausgeber:in)
©2021 Sammelband 344 Seiten

Zusammenfassung

Die Ränder der Gesellschaft sind diffus und bewohnt. Randständigkeit umschreibt dabei den Zustand des oft vulnerablen und exkludierten Lebens, abseits bürgerlicher Milieus, losgelöst von monetärer Sicherheit und weitgehend entkoppelt von gesellschaftlichen Institutionen. Die verschiedenen Areale der Ränder sind gekennzeichnet durch Deprivationen, gesellschaftliche Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung, die alle die Pädagogik herausfordern. Die in diesem Buch versammelten Beiträge explorieren und analysieren die Vielfalt der Lebenslagen der Bewohner*innen und der verschiedenen Areale. Sie behandeln Fragen zur Konstitution dieser Areale, zur Annäherung an diese und unterbreiten eine Vielzahl an Vorschlägen unterschiedlichen Ausmaßes, wie die Pädagogik damit umgehen kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Titelseite
  • Titel
  • Impressum
  • Über das Buch
  • Autorenangaben
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitendes zum „Pädagogischen Bummeln“
  • Neugierde als Forschungshaltung
  • ‚Fail better!‘ Professionsethische Reflexionen zur Sozialen Frage in Bildungsprozessen
  • Unaufgeregtheit als pädagogische Haltung und ihre ansteckende Wirkung
  • Forschung zu Lebenslagen von geflüchteten Personen mit Behinderungen
  • Perspektiven migrationspolitischer Bildungsforschung
  • Insha´allah… Ein (Hochschul-)Dialog zwischen Isfahan und Hamburg
  • Emotionen als politische Artikulationen. Anmerkungen zum Verhältnis von Kolonialismus und subjektiver Betroffenheit
  • Alltagsbegleitung
  • Lernziel Scheitern und Abbruch? Oder – Wie hilft man geflüchteten jungen Männern in Berufsausbildung durch die Berufsschulen?
  • Über Milieu-Grenzen hinweg begleiten – Biografische Motive ehrenamt­licher Pat*innen von Jugendlichen des sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Lernen
  • Der pädagogische Blick auf jugendliches Verhalten in der Berufsvorbereitung zwischen Normalisierungskritik und -legitimierung
  • Leben und Lernen an einem gefährlichen Ort: Der Hansaplatz in Hamburg-St. Georg
  • Lernen zwischen Bahnhof und Brettspiel – das Hamburger Bildungsangebot Hirntoaster für Jugendliche in der Straßenszene
  • Herausforderndes Lehren
  • Richtung postinklusive Schule
  • Migration und Geschlecht – Diskursive Wende im Zeichen postkolonialer und rassismuskritischer Perspektiven
  • Exklusion2≠ Teilhabe von Geflüchteten mit einer Behinderung an Bildung und Arbeitsmarkt
  • Inklusion und Grenzen
  • Kontinuität und Diskontinuität als begriffliche Werkzeuge für die Analyse von Bildungsverläufen
  • Wie theoretisiere ich meine soziale Herkunft? Skizzen zu Reflexionssettings im Lehramtsstudium Sonderpädagogik
  • I’m not different, I just walk differently: a sense of empowerment as experienced by Iranian students with disabilities
  • Förderung vielfältig denken, Lösungsansätze für Benachteiligte im Bildungsprozess?
  • Autorinnen und Autoren

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Louis Henri Seukwa & Uta Wagner

Einleitendes zum „Pädagogischen Bummeln“

„Die Ränder der Gesellschaft sind bewohnt“ (Schroeder 2002: 12). Sie sind (meist erzwungene) Lebensräume von Menschen – auch von jungen Menschen. Es sind Orte der Vulnerabilität und Exklusion. Diese beiden für das vorliegende Buch zentralen Begriffe, die zugleich theoretische Kategorien darstellen, sind Attribute für gesellschaftliche Phänomene, die erhebliche Folgen für das pädagogische Handeln haben. Aufgrund ihrer Polysemie möchten wir diese zunächst präzisieren, um zu verdeutlichen, wie sie zueinanderstehen und wie sie in diesem Buch Verwendung finden. Dies erfordert eine Konzeptualisierung, die im Folgenden aus einer soziologischen Perspektive skizziert wird.

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Disziplinär betrachtet hat sich vor allem die Arbeitssoziologie mit dem Zusammendenken von Vulnerabilität und Exklusion als Sozialphänomene beschäftigt. Dies ist nicht verwunderlich, denn die Arbeitsteilung in Gestalt von Erwerbstätigkeit fungiert als Strukturprinzip der aktuellen modernen Gesellschaften (Durkheim 1893; Habermas 1981; Castel 2000; Dörre 2006). Moderne Gesellschaften sind demnach Solidargemeinschaften, in denen Individualität erwünscht und gefördert wird. Diese Solidarität ist nicht mehr vom guten Willen bzw. von Gefälligkeiten eines einzelnen Individuums abhängig, sondern wird in den verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft (wie bspw. Bildung, Gesundheit, Politik, Ökonomie) strukturell organisiert. Sie wird also nur durch arbeitsteilige Erwerbstätigkeit ermöglicht. Deswegen ist Arbeit im Sinne von Erwerbstätigkeit konstitutiv für moderne Gesellschaften: Arbeit ist ihr Struktur-prinzip. Der gesamte Sozialisationsprozess zielt strictus sensus daraufhin, jedes gesellschaftliche Mitglied so vorzubereiten, dass es Zugang zu oder Integration in eines der Subsysteme erlangen kann, wo es durch seine Tätigkeit einen Beitrag für das gute Funktionieren der ganzen Gesellschaft als Solidargemeinschaft leisten soll. Auch die individuellen Biografien werden entsprechend dieses zentralen Ziels der Sozialisation, nämlich die systemische Integration zum Zweck der Beteiligung an der Solidargemeinschaft, in drei Phasen organisiert. Die erste Phase, im Sinne einer Vorbereitung auf ein Arbeitsleben, entspricht generell der Zeit der schulischen Bildung und Ausbildung. Die zweite Phase dient der beruflichen Eingliederung und Erwerbstätigkeit. Die dritte Phase wird durch den Eintritt in die Rente oder Pensionszeit eingeleitet.1 Diese strukturfunktionalistische Betrachtung der systemischen Integration jedes Individuums zum Zweck seiner Beteiligung an der Solidargemeinschaft durch Erwerbstätigkeit stellt den Rahmen, in welchem in der Soziologie die Kategorien der Vulnerabilität und der Exklusion konzeptualisiert wurden. Beide Begriffe sind in diesem Zusammenhang stellvertretend für zwei systemimmanente Phänomene der Arbeits- resp. Erwerbstätigkeitsgesellschaften, deren Hauptmerkmal die permanent gewordene Unberechenbarkeit des systemischen Integrationsprozesses bzw. des Ausschlusses davon für einen signifikanten Anteil der gesellschaftlichen Mitglieder ist. Vulnerabilität und Exklusion lassen sich in den jeweiligen schon erwähnten drei biografischen Phasen (schulische Bildung und Ausbildung, berufliche Eingliederung und Erwerbstätigkeit sowie Rente), die charakteristisch für eine systemische Integration sind, beobachten und analysieren. Mit dem Fokus auf die biografische Phase der Erwerbstätigkeit hat Robert Castel (2000) in seinem Buch über den Wandel der Lohnarbeit und der mit ihr verknüpften sozialen Frage eine Modellierung vorgenommen, die u. E. verdeutlicht, wie sich systemimmanente Mechanismen der Entstehung sozialer Vulnerabilität und Exklusion konzeptualisieren lassen. Dieses Modell unterscheidet systematisch drei Zonen: die Zone der Integration oder der Absicherung, die Zone der Vulnerabilität oder des Prekariats und die Zone der Exklusion oder der Entkoppelung.

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Die Zone der Integration umfasst stabile, finanziell und arbeitsrechtlich gesicherte Arbeitsverhältnisse und damit einhergehend die Eingliederung in soziale Netze. Dieser Zone steht die Zone der Exklusion oder Entkopplung gegenüber, dort befinden sich dauerhaft Erwerbslose oder Personen ohne reelle Chance auf eine Aufnahme oder Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt. Die Zone der Vulnerabilität oder des Prekariats befindet sich zwischen diesen beiden Zonen (Integration und Exklusion). Der Umfang und die Grenzen dieser Zonen bestimmen sich nach betrieblicher, beruflicher und rechtlicher Sicherheit der Erwerbsarbeit und Einbindung in soziale Netze. Die drei Zonen sind nicht strikt voneinander abgetrennt, vielmehr entstehen Diffusionseffekte zwischen ihnen (ebd.: 357). Diffusionseffekte zeigen, dass Vulnerabilität kein Phänomen an den Rändern der Erwerbsgesellschaft darstellt, sondern dass sich eine Expansion der Zone der Verwundbarkeit vollzieht, die mit Abstiegsbedrohungen und Deklassierungssorgen einhergeht. Die Begriffe der sozialen Vulnerabilität und des prekären Wohlstands beschreiben diesen Prozess: „Unser augenblickliches Problem besteht […] nicht ausschließlich in der Bildung einer ‚prekären Peripherie‘, sondern auch in der ‚Destabilisierung des Stabilen‘. Der Prekarisierungsprozess zieht sich durch manche früher stabilisierte Beschäftigungszonen hindurch, das ist die Wiederkunft der massenhaften Vulnerabilität. […] Eine Akzentverschiebung auf Prekarisierung der Arbeit verdeutlicht eher, welche Prozesse soziale Verwundbarkeit verstärken und letztlich Arbeitslosigkeit und Exklusion bewirken“ (ebd.).

Im Anschluss hieran umschreibt Randständigkeit den Zustand des vulnerablen und exkludierten Lebens an eben diesen diffusen gesellschaftlichen Rändern, zumeist abseits bürgerlicher Milieus, mitunter losgelöst von jeglicher monetären Sicherheit und oftmals weitgehend entkoppelt von gesellschaftlichen Institutionen wie der Schule oder Jugendhilfe. Randständigkeit verweist auf die soziale Frage, die in Deutschland sowie in den meisten europäischen Ländern weiterhin ungeklärt ist und in immer neuem Licht erscheint. Die verschiedenen Areale in der Landschaft der Randständigkeit sind gekennzeichnet durch Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Absicherung, gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung sowie Ausgrenzung.

Wie (junge) Menschen ihr Leben und Überleben in der Randständigkeit sichern und gestalten, mit welchen Problemen sie konfrontiert sind, welche Überlebens- und Widerstandsstrategien sie entwickeln, über all dies hat die Benachteiligten- und Armutsforschung in den vergangenen Jahrzehnten einiges berichtet (exemplarisch: Dangschat 1999; Neumann et al. 2003; Seukwa 2006; Güntner et al. 2018). Es ist auch hinlänglich bekannt, dass sich die mit dem Leben in der Randständigkeit einhergehenden Benachteiligungen und soziale Ungleichheit nicht zuletzt in Bildungsinstitutionen reproduzieren (Bourdieu/Passeron 1971). Die Gründe sind so vielfältig wie die prekären Lebenslagen der Bewohner*innen der gesellschaftlichen Ränder.

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In der Landschaft der Randständigkeit bewegen sich aber nicht nur die Bewohner*innen dieser Orte. Dort tummeln sich Vertreter*innen verschiedenster gesellschaftlicher Institutionen (Schule, Jugend- und Sozialhilfe, Polizei, Ordnungsamt). Allerdings bewegen sie sich dort als „professionelle Besucher*innen“ lediglich temporär und zumeist ausschließlich im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit und mit einem definierten (nämlich repressiven bis unterstützenden jedenfalls normalisierenden bzw. integrierenden) Auftrag. Eine ausschließliche Fokussierung bzw. ein Festhalten an diesen reglementierten Zuständigkeiten, Aufgaben und Zielen in zumeist engen institutionellen Grenzen fördert – wie bspw. von Freyberg/Wolff (2005) für den schulischen Kontext aufzeigen – strukturelle Verantwortungslosigkeit. Man erklärt sich für nicht, noch nicht oder nicht mehr zuständig und verweist auf andere. Diese Haltung ist im Besonderen für die (Sozial-)Pädagogik problematisch, schreiben sich doch damit auch die „alltäglichen Erfahrungen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen, dass nämlich ihre Pädagoginnen und Pädagogen kommen und gehen – ihre Lebenslagen aber nun mal bleiben“ (Schroeder 2016: 9), weiter fort. Diese Haltung wird gefördert durch institutionelle Interessen, resultiert vielleicht aber auch aus einem Mangel an pädagogischer Freiheit: gedanklich und strukturell. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die (sozial-)pädagogische Förderung der randständigen jungen Frauen und Männer als Anlass zur Kolonialisierung ihrer Lebenswelten genommen wird und ihnen somit symbolische Gewalt von Pädagog*innen, denen ein Minimum an Sensibilität für den milieuspezifischen Habitus der Zielgruppe fehlt, widerfährt.

Wir haben diesem Buch den Untertitel „Bummeln durch die Landschaft der Randständigkeit“ gegeben. Damit verbinden wir ein Mehr an pädagogischer Freiheit: Bummeln ist der Gegenentwurf zu hektischer Betriebsamkeit, zum zeitlich beschränkten Agieren in institutionellen Grenzen, zum nicht genau hinsehen können oder wollen, zu fehlender Verbindlich- und Verlässlichkeit. Bummeln in diesem Kontext meint sich Zeit nehmen, sich verantwortlich fühlen, tief in die Landschaft der Randständigkeit einzutauchen, nicht mit voyeuristischem Blick, sondern mit pädagogischem Interesse, mit einer Haltung des Sehen Wollens, des Verstehen Wollens, des solidarisch mit Exkludierten Seins und letztlich auch mit dem Ziel der nachhaltigen Veränderung des Vulnerablen und der stabilen Wiedereingliederung.

Zur Struktur des Buches und zu den Beiträgen

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Dieses Buch ist eine Einladung zum pädagogischen Bummeln. Analog zu der Vielfalt der Lebenslagen der Bewohner*innen und der verschiedenen Areale der Landschaft der Randständigkeit stellen sich auch die hier versammelten Beiträge höchst unterschiedlich dar und behandeln Fragen zur Konstitution dieser Areale, zur Annäherung an diese und unterbreiten aus unserer Sicht eine Vielzahl an Vorschlägen unterschiedlichen Ausmaßes, wie dieses pädagogische Bummeln gelingen kann. Uns als Herausgeber*in fiel die schwierige Aufgabe zu, diese Beiträge thematischen Schwerpunkten zuzuordnen. Wir haben uns dabei von aus unserer Sicht zentralen Aspekten innerhalb der Beiträge leiten lassen. Die Zuordnung der Beiträge zu den drei Abschnitten ist folglich eine Setzung, die trotz aller Sorgfalt nicht vollumfänglich den vielfältigen Inhalten gerecht werden kann.

Bummeln als Ausdruck und Zeichen der pädagogischen Freiheit ist aus unserer Sicht eine Frage der Haltung. Sven Sauter analysiert, wie im Bildungsprozess bei Lehrkräften eine Haltung entsteht, die Indifferenz überwinden und den Lernenden eine andere Zukunft ermöglichen kann. Harald Ansen und Louis Henri Seukwa fokussieren eine pädagogische Haltung der Unaufgeregtheit als Grundlage einer solidarischen und emanzipierenden pädagogischen Beziehung mit Zielgruppen in erschwerten Lebenslagen. Angela Grotheer legt eine Forschungshaltung mit ethnografischem Blick dar, die geeignet ist, tief und respektvoll in die Landschaft der Randständigkeit einzutauchen. Wassilios Baros skizziert drei forschungsleitende Aufmerksamkeitsrichtungen und verweist auf methodologische und theoretische Ansätze zur Begründung eines transsubjektiv argumentativen Umgangs mit Migration und deren Ursachen sowie eines auf Ideologiekritik zielenden kritisch-reflexiven Bewusstseins. Frauke Meyer und Negin Shah Hosseini illustrieren die Bedeutung einer Differenz erkennenden und anerkennenden dialogischen Haltung, um sich auf Neues einlassen zu können. Awista Gardi und Louis Henri Seukwa gehen der Frage nach, wie globale Solidarität im Spiegel politischer Emotionen aussehen kann.

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Pädagogisches Bummeln ist auch eine Frage des zivilgesellschaftlichen Engagements, der Parteilichkeit und der Perspektive. Gotthilf Gerhard Hiller legt dar, wie es als ehrenamtlicher Unterstützer gelingen kann, junge Geflüchtete erfolgreich durch Prüfungen in der Berufsschule zu begleiten. Sven Basendowski analysiert, was ehrenamtliche Erwachsenen aus bürgerlichen Milieus antreibt, sich für sozial benachteiligte Jugendliche in schulischen und – ausdrücklich auch – außerschulischen Aktivitäten zu engagieren, um mit diesem Wissen zukünftig neue Personen als Pat*innen zu gewinnen. Karolina Siegert und Marc Thielen gehen der Frage nach, wie Professionelle in der Berufsvorbereitung das Verhalten der geförderten Jugendlichen wahrnehmen und diskutieren empirisch basiert den strukturellen Widerspruch zwischen subjekt- und ressourcenorientierten Programmatiken und normalisierenden Defizitzuschreibungen. Nele Schell und Uta Wagner plädieren für einen pädagogisch-motivierten Perspektivwechsel auf den Hansaplatz in Hamburg-St. Georg, der statt als ein vermeintlich gefährlicher Ort vielmehr als interkultureller Lern- und Lebensraum begriffen werden sollte. Katrina Carstens, Charlotte Heykena, Lena Rathsack und Pauline Runge stellen mit dem Hamburger Projekt Hirntoaster ein niedrigschwelliges, sozialräumlich und lebenslagenorientiertes Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche aus der Straßenszene vor.

Pädagogisches Bummeln kann man lernen. Dabei ist die Kenntnis von und die Auseinandersetzung mit historischen Zusammenhängen der disziplinären Theorien, des Gegenstandes und der Funktion unerlässlich. So zeigt Erol Yildiz, wie sich „othering“ in Gestalt eines Differenzdenkens zwischen „Uns“ und „Denen“ formiert und sich damit ein ethnisches Rezeptwissen etabliert hat und wie es darauf aufbauend zu einer Normalisierung kultureller Hegemonie im Bildungskontext gekommen ist. Patricia Baquero Torres rekonstruiert die Diskussion um Migration und Geschlecht mit Blick auf die aktuelle kritische Migrationsforschung. Pädagogisches Bummeln ist auch eine Frage der Kenntnis über die vielfältigen Formen gesellschaftlicher Exklusion. Maren Gag thematisiert in ihrem Beitrag asylrechtliche und inklusionspolitische Ausschlüsse von Geflüchteten mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen und richtet den Fokus auf Probleme im Kontext der Beratung und beruflichen Eingliederung. Cornelia Sylla plädiert in ihrem Beitrag dafür, die bisherige interdisziplinäre Grenzpolitik im Bildungssystem zu einer transdisziplinären Grenzpolitik mit advokatorischem Mandat für die Klientel weiterzuentwickeln. Tobias Hensel schlägt vor, die theoretische Perspektive des Kontinuitäts- und Diskontinuitätsbegriffs stärker in die Analyse von Unterbrechungen, Wiedereinstiegen und Abbrüchen innerhalb von Bildungsverläufen einzubeziehen, um damit u. a. strukturelle und institutionelle Bedingungen aufdecken zu können. Pädagogisches Bummeln als Mittel zur Dekonstruktion von Hegemonie und Heteronomie fördernden Perspektiven sollte man auch in der erziehungswissenschaftlichen Hochschulbildung lehren und lernen. Maximilian Thinnes zeigt auf, mit welchen methodisch-didaktischen Finessen es gelingen könnte, dass sich Studierende reflexiv mit ihrer eigenen Herkunft auseinandersetzen. Azam Naghavi setzt sich mit der Erfahrung von Behinderung und Empowerment aus der Perspektive von iranischen Universitätsstudierenden mit einer Behinderung auseinander. Dabei verfolgt sie das Ziel, hochschulische Angebote zur Selbstermächtigung von Personen in dieser Lebenslage qualitativ zu verbessern. Robert Bernhard und Stefanie Rinck-Muhler diskutieren das universitäre Lehr-Lernformat der Pädagogischen Praxisprojekte mit der konzeptionellen Triade „Beobachten, Fördern, Reflektieren“.

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Gerahmt werden die drei Abschnitte dieses Buches durch Auszüge aus Schriften von Joachim Schroeder, denn er beweist in seinen jahrzehntelangen Alltagsbegleitungen junger Menschen in schwierigen Lebenslagen immer wieder, dass er die Kunst des pädagogischen Bummelns, des Flanierens durch die Landschaft der Randständigkeit beherrscht. Dies sowie seine vielfältigen Forschungen belegen, dass er sich für die Bewohner*innen verantwortlich fühlt und sich mit ihren Begehren nach einem menschenwürdigen Leben stets solidarisiert. Ebenso führt er angehende Pädagog*innen sensibel, unaufgeregt, aber schonungslos in die Kunst des pädagogischen Bummelns durch die vielfältigen Areale der Landschaft der Randständigkeit ein. Anlässlich seines 60. Geburtstages möchten wir mit dieser Festschrift seine Arbeit würdigen und ihm danken. Wir alle haben von ihm und in Auseinandersetzung mit ihm viel gelernt!

Worte des Dankes sollen unsere Einleitung abschließen, denn dieses Buch wurde nur möglich durch den großen Einsatz vieler Menschen. Dies ist – insbesondere bei einem Sammelband – auch nicht weiter ungewöhnlich. Ungewöhnlich waren allerdings die Umstände: Ein Großteil der gemeinsamen Arbeit für das vorliegende Buch fand unter den gesamtgesellschaftlich sehr herausfordernden Bedingungen der COVID-19-Pandemie statt. Wir sind froh und dankbar, dass die Arbeit trotzdem erfolgreich beendet werden konnte. Wir danken all unseren Autorinnen und Autoren, deren Beiträge aus unserer Sicht wunderbare und vielfältige Einblicke in das geben, was wir als pädagogisches Bummeln bezeichnen. Kai Peters danken wir für die engagierte Begleitung und die vielen Anregungen auf dem Weg von der Idee bis zum Buch. Auch danken wir für wertvolle Korrekturarbeiten Daniel Englund, Alexander Kienzle, Mona Massumi und Michael Wagner. Bei der Fertigstellung des Manuskriptes waren uns Ulrike Niesytto-Cailliet und Carla Strübing eine große Hilfe. Auch ihnen möchten wir an dieser Stelle danken.

Hamburg, im Juni 2020

Louis Henri Seukwa & Uta Wagner

Literatur

Bourdieu, P./Passeron, J. C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.

Castel, R. (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Dangschat, J. (Hrsg.) (1999): Modernisierte Stadt – gespaltene Gesellschaft. Ursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung. Opladen: Leske + Budrich.

Dörre, K. (2006): Prekäre Arbeit und soziale Desintegration. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40–41, 7–14.

Details

Seiten
344
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631835906
ISBN (ePUB)
9783631835913
ISBN (MOBI)
9783631835920
ISBN (Hardcover)
9783631832899
DOI
10.3726/b17793
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Vulnerabilität Exklusion Inklusion Migration Kolonialismus Lebenslage Didaktik Pädagogische Interaktion Ressourcenorientierung Alltagsbegleitung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 344 S., 10 farb. Abb., 19 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Louis Henri Seukwa (Band-Herausgeber:in) Uta Wagner (Band-Herausgeber:in)

Louis Henri Seukwa ist Professor für Erziehungswissenschaften am Depart-ment Soziale Arbeit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Uta Wagner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungs-wissenschaft der Universität Hamburg.

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