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Die Lenkung der Strafjustiz durch das Reichsjustizministerium im Nationalsozialismus

von Christian H. Blödorn (Autor:in)
©2021 Dissertation 264 Seiten

Zusammenfassung

Das Dritte Reich gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. Eine wesentliche Funktion bei der Umsetzung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen und der Durchdringung des Strafrechts mit der NS-Ideologie nahm das Reichsjustizministerium ein. Doch welche Aufgaben und Funktionen bei der Steuerung der Strafjustiz im Zeitraum von 1933−1945 übernahm das Ministerium konkret? Waren die Einflussnahmen von Erfolg gekrönt? Die Publikation analysiert die seitens des Reichsjustizministeriums vorgenommen Methoden zur Lenkung der Strafjustiz anhand von bisher weitgehend unbeachteten Quellen, um dadurch das Wirken des Reichsjustizministeriums in der Zeit von 1933−1945 zu ergründen. Sie leistet dadurch einen wichtigen Beitrag zu der nach wie vor unvollständigen juristischen Aufarbeitung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Fragestellung und Schwerpunkte der Untersuchung
  • II. Forschungsstand
  • III. Quellenmaterial
  • B. Einflussnahme auf die Justiz und Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit durch Staat und Partei
  • I. Eingriffe der Partei in die richterliche Unabhängigkeit
  • 1. Übertritt der Berufsverbände in den Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) 1933
  • a) Die Gleichschaltung des Deutschen Richterbundes35
  • b) Die Gleichschaltung des Republikanischen Richterbundes
  • 2. Folgen der Gleichschaltung
  • II. Staatliche Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit
  • 1. Die wichtigsten Gesetze
  • 2. Staatliche und parteiliche Einwirkungen auf die juristischen Zeitschriften
  • III. Die Aufgabenerweiterung des Reichsjustizministeriums
  • 1. Die „Verreichlichung“ der Justiz
  • 2. Organisation und Zuständigkeiten
  • 3. Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Reichsjustizministeriums
  • a) Gesetzgebung
  • aa) Reichstags- und Reichsregierungsgesetzgebung
  • bb) Rechtsetzung durch Verordnungen
  • b) Justizverwaltung
  • 4. Zwischenergebnis
  • C. Die Lenkung der Strafjustiz
  • I. Informationsbeschaffung
  • 1. Die Berichtspflichten
  • 2. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS
  • 3. Die Lageberichte
  • 4. Dienst-/ Gerichtsreisen
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Allgemeine Betriebsappelle, Weisungen und Strafmaßanweisungen
  • 1. Strafmaßanweisungen im Oberlandesgerichtsbezirk Braunschweig
  • 2. Die Auswirkungen der an die Staatsanwälte gerichteten Weisungen auf die richterliche Tätigkeit
  • III. Die Tagungen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte
  • 1. Die Durchführung von Tagungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung
  • 2. Äußere Rahmenbedingungen
  • 3. Auswertung der Besprechungsthemen
  • a) Informationsbeschaffung und Berichtspflichten379
  • b) Das Strafmaß und die Einheitlichkeit der Strafrechtsprechung381
  • c) Weisungen und Einführung neuer Lenkungsmaßnahmen395
  • aa) Die Erteilung von Weisungen
  • bb) Die Erörterung und Einführung der Vor- und Nachschauen und Richterbriefe
  • d) Die („gerichtliche“) Sicherungsverwahrung429
  • e) Hochverratssachen456
  • f) Das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen („Heimtückegesetz“)
  • g) Sonstige Themen mit Bezug zur Strafjustiz
  • aa) Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Justiz502
  • bb) Strafvollzug506
  • 4. Vor- und Nachbereitung sowie Ablauf der Behördenleitertagungen
  • a) Zuständigkeit und allgemeine Vorbereitung
  • b) Allgemeine Nachbereitung
  • c) Beispiele
  • aa) Die unbefriedigende Rechtsprechung zum Hochverrat als Ausgangspunkt für die Besprechung über die Behandlung von Hochverratssachen vom 11./12. November 1936
  • bb) Tagung betr. die Blutschutzrechtsprechung vom 13. November 1936
  • cc) Die (unbefriedigende) Rechtsprechung der Sondergerichte als Ausgangspunkt für die Tagung mit den Sondergerichtsvorsitzenden612 vom 24. Oktober 1939613
  • dd) Zwischenergebnis
  • ee) Tagungen zur Aufrechterhaltung des Justizbetriebes nach ungesetzlichen Aktionen der nationalsozialistischen Führung („Euthanasieprogramm“)
  • ff) Zwischenergebnis
  • gg) Korrespondenzen mit der Partei- und Reichskanzlei im Vorfeld von Tagungen
  • 5. Zusammenfassung
  • IV. Einflussnahme durch dezentrale Besprechungen: Anordnung, Entstehung und Wirkung der Vor- und Nachschauen
  • 1. Die Vor- und Nachschauen
  • a) Definition
  • b) Die Rundverfügung vom 13. Oktober 1942
  • c) Ein Beispiel praktischer Umsetzung732
  • 2. Die Entstehungsgeschichte der Vor- und Nachschauen
  • a) Ausgangspunkt: Die Entwicklungen im Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg
  • b) Die ersten Versuche zur Übertragung des Besprechungssystems auf Reichsebene
  • c) Die Tagung vom 31. März 1942
  • d) Die Ereignisse im April und Mai 1942
  • e) Das Bestätigungsrecht in Strafsachen als alternatives Steuerungsmittel
  • f) Rothenbergers Wechsel ins Reichsjustizministerium
  • g) Die Vorbesprechung vom 22. September 1942 und die Arbeitstagung des Reichsjustizministers mit den Chefpräsidenten und Generalstaatsanwälten vom 29. September 1942
  • h) Praktische Umsetzung
  • 3. Zusammenfassung
  • V. Initiativen aus den Oberlandesgerichtsbezirken zur Lenkung der Strafjustiz
  • 1. Reformvorschläge
  • a) Vorschläge des Oberlandesgerichtspräsidenten Sattelmacher (Naumburg)
  • b) Vorschläge des Ersten Staatsanwalts Brinkmann (Halle)
  • c) Vorstöße der Oberlandesgerichtspräsidenten Bergmann (Köln) und Schwister (Düsseldorf)
  • d) Der Umgang mit Strafverfahren nach dem Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre im Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg
  • e) Justizlenkung durch Generalstaatsanwalt Rahmel (Braunschweig)
  • 2. Zusammenfassung
  • D. Justizielle Aufarbeitung
  • I. Die Würdigung der Richterbriefe, Vor- und Nachschauen und Chefpräsidententagungen im Nürnberger Juristen-Urteil vom 3./4. Dezember 1947
  • 1. Der Prozess
  • 2. Das Urteil
  • a) Die Richterbriefe
  • b) Rothenberger und die Vor- und Nachschauen
  • c) Schlegelberger und die Chefpräsidententagungen
  • 3. Abschließende Bewertung
  • II. Die Würdigung der Chefpräsidententagungen im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 3. Dezember 1962
  • 1. Die Vorwürfe gegen Schlegelberger und seine Verteidigung
  • 2. Eigene Würdigung
  • III. Die Durchführung von Lenkungsbesprechungen durch den ehemaligen Kölner Landgerichtspräsidenten Walter Müller und die juristische Aufarbeitung
  • 1. Das Urteil des Landgerichts Bonn vom 4. November 1948
  • 2. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone (OGH-BZ) vom 10. Mai 1949
  • 3. Das Urteil des Landgerichts Bonn vom 13. März 1950
  • 4. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Dezember 1952
  • IV. Der Versuch der justiziellen Aufarbeitung der Euthanasietagung vom 23./24. April 1941 durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
  • 1. Die Nichteröffnung der Voruntersuchung
  • 2. Die Nichteröffnung der Voruntersuchung im Lichte der damaligen politischen Gegebenheiten
  • V. Zusammenfassung
  • E. Ergebnisse
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • I. Archivalische Quellen
  • II. Gesetz -, Verordnungs- und Amtsblätter
  • III.   Literatur
  • Sachregister
  • Personenregister

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A. Einleitung

I. Fragestellung und Schwerpunkte der Untersuchung

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 kam es binnen kürzester Zeit zu einem deutlichen Bruch mit den bis dahin in Deutschland vorherrschenden Rechtsvorstellungen: Das Führerprinzip ersetzte die Gewaltenteilung, Wahlen verkamen zu Akklamationen und Grundrechte verloren faktisch ihre Geltung. Auch die Strafjustiz fiel der nationalsozialistisch motivierten Neuausrichtung zum Opfer. Adolf Hitler hatte bereits in seiner Regierungserklärung formuliert, dass das Rechtswesen vorrangig der Erhaltung der Volkgemeinschaft dienen müsse.1 Liberalismus und Individualismus mussten demnach weichen. Das vorherrschende Prinzip lautete nunmehr: „Gemeinnutz vor Eigennutz“, eine ebenso in dem 25 Punkte umfassenden Parteiprogramm der NSDAP enthaltene nationalsozialistische Wertvorstellung. Was für das Volk nützlich war, wurde von Hitler, der Partei, aber auch von staatlichen Stellen und Einrichtungen bestimmt und bewertet. Dies führte zu einer Änderung der Funktion des Strafrechts. Auf dem Bestrafungswillen der nationalsozialistischen Führung basierend, wurde es zu einem „[…] Mittel eingriffsintensiver staatlicher Verbrechensbekämpfung.“2

Eine wesentliche Funktion bei der Umsetzung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen und der Durchdringung des Strafrechts mit der NS-Ideologie nahm das Reichsjustizministerium ein. Im Zentrum der folgenden Untersuchung steht infolgedessen die Frage nach seinen Aufgaben und Funktionen bei der Steuerung der Strafjustiz im Zeitraum von 1933–1945. Konkret geht es darum, die Einflussnahmen des Reichsjustizministeriums auf die Strafjustiz zu untersuchen. Wie hat das Reichsjustizministerium die Strafjustiz für NS-Zwecke umgeformt, d.h., welche Lenkungsmethoden wurden tatsächlich benutzt? Wie wurden neue Lenkungsmethoden implementiert und welche Akteure waren dabei beteiligt? Welche Wirkung hatten die unterschiedlichen Lenkungsmethoden? Dabei interessiert insbesondere auch, inwieweit aus den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken heraus diesbezügliche Initiativen festgestellt werden können. Der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nähert sich die Untersuchung in mehreren Schritten.

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Die Arbeit beginnt zunächst mit einem Überblick über die wichtigsten in der Anfangszeit der nationalsozialistischen Herrschaft vorgenommenen parteilichen und staatlichen Einwirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit. Dadurch können die im weiteren Verlauf zu untersuchenden strafrechtlichen Lenkungsmethoden vor dem Hintergrund der damaligen Gegebenheiten entsprechend eingeordnet werden.

Hieran schließt sich eine Untersuchung der Aufgabenerweiterung des Reichsjustizministeriums an. Durch die von Hans Frank erfolgreich vorangetriebene Gleichschaltung wurden dem Reichsjustizministerium die Gerichte und Justizverwaltungen der Länder durch mehrere Überleitungsgesetze unterstellt. Die Justizbehörden der einzelnen Länder wurden zu Reichsbehörden und die Justizbeamten, einschließlich der Richter und Staatsanwälte, zu Reichsbeamten.3 „Neben die Verwaltung der Reichspost, der Reichswehr, der Reichsfinanz und der Reichsbahn [trat] die Reichsjustiz als die neue fünfte Säule des deutschen Einheitsstaates.“4 Insoweit wird untersucht, welche Entwicklungen vor der endgültigen Gleichschaltung stattgefunden haben. Wie konnte der gesamte Justizsektor binnen zwei Jahren gänzlich neu ausgerichtet werden? Sodann gilt es die infolge der Gleichschaltung geschaffenen Möglichkeiten des Reichsjustizministeriums herauszustellen. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert zunächst die detaillierte Untersuchung des Gleichschaltungsprozesses, damit anschließend die infolge der Gleichschaltung entstandenen Aufgaben und Funktionen des Reichsjustizministeriums untersucht werden können. Dabei soll deutlich werden, welche Einflussmöglichkeiten das Reichsjustizministerium bei der Rechtsetzung, seiner ureigenen Aufgabe, besaß und welche Veränderungen die Übertragung der Landesjustizverwaltungen nach sich zog.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Untersuchung der Möglichkeiten zur Beeinflussung und Lenkung der Strafjustiz durch das Reichsjustizministerium. Eingeleitet wird dieser Teil durch eine Analyse des Informationsapparates; denn „Steuerung ist nicht nur eine Sache, die ‚von oben‘ geschieht; effektive Steuerung setzt rasche und zuverlässige Meldungen ‚von unten‘ voraus.“5 Durch die Darstellung der zentralen Ausformungen des Informationssystems wird deutlich, welche Möglichkeiten das Reichsjustizministerium zur Überwachung ←20 | 21→der lokalen Strafrechtsprechung hatte und inwieweit sie sich bei der Lenkung der Strafjustiz als vorteilhaft erwiesen.

Im Anschluss werden dann die einzelnen Lenkungsmethoden des Reichsjustizministeriums definiert und auf ihre tatsächliche Wirkung hin untersucht. Der Schwerpunkt wird hierbei auf die vom Reichsjustizministerium durchgeführten Zusammenkünfte der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte gelegt, die überwiegend im Reichsjustizministerium in Berlin stattfanden. Mit der Reichsburg Kochem kam 1943 zudem ein eigens zur Schulung der Juristen erworbener weiterer Standort hinzu.6 Auch die NS-Schulungsstätte auf der Reichsburg ist Gegenstand der Untersuchung. Neben der Anzahl der durchgeführten Besprechungen, den Teilnehmern und den Tagungsorten, interessiert vor allem, welche inhaltlichen Schwerpunkte in den Besprechungen gesetzt wurden. Hier gilt es die folgende Frage näher zu beleuchten: Waren die Tagungen ein Mittel des Reichsjustizministeriums zur Lenkung der Strafjustiz und fügten sich nahtlos in das staatliche Unrechtssystem ein oder handelte es sich um rein sachliche Besprechungen, die jeglichen Lenkungscharakter vermissen ließen? Denkbar ist selbstverständlich auch eine Kombination aus beidem.

Neben der inhaltlichen Auswertung der Besprechungsthemen wird ebenfalls auf die Vor- und Nachbereitung der Besprechungen im Reichsjustizministerium eingegangen. Welche Entwicklungen haben im Vorfeld einer Arbeitstagung stattgefunden? Gab es Korrespondenzen mit anderen Behörden? Wie wurden die Tagungen im Reichsjustizministerium nachbereitet? Haben die Besprechungen zu einer Veränderung in der Praxis geführt?

Die einzelnen Untersuchungsgegenstände lassen am Ende ein umfassendes Bild der vom Reichsjustizministerium ausgerichteten Behördenleitertagungen entstehen.

Des Weiteren wird die Arbeit mit den Vor- und Nachschauen im Unterschied zu den auf Reichsebene durchgeführten Behördenleitertagungen eine Form dezentral durchgeführter Lenkungsbesprechungen untersuchen. Sie geht dabei der Frage nach den praktischen Auswirkungen der Vor- und Nachschauen ebenso nach, wie den Ursprüngen und Entwicklungen bis zu ihrer endgültigen Einführung. Dabei ist für die Untersuchung von besonderer Relevanz, wie der ←21 | 22→Prozess bis zur praktischen Umsetzung ablief und welche Personen maßgeblich beteiligt waren. Zudem wird auf die regionale Umsetzung in einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken eingegangen.

Hieran schließt sich ein Kapital an, das der Frage nachgeht, inwieweit es aus den Reihen der Praktiker und den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken Vorstöße und Initiativen im Bereich der Lenkung der Strafjustiz gab.

Das abschließende Kapitel widmet sich schließlich der justiziellen Aufarbeitung. Sie ist auch gegenwärtig noch nicht abgeschlossen, wie die jüngsten Verfahren gegen mittlerweile ins hohe Alter gekommene Angeklagte zeigen.7 Auch deswegen wird die justizielle Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Öffentlichkeit im Wesentlichen als gescheitert angesehen.8 Das Kapitel geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, ob und wie die zuvor untersuchten strafrechtlichen Lenkungsmethoden justiziell aufgearbeitet wurden und zum Gegenstand von Nachkriegsprozessen geworden sind.

II. Forschungsstand

Mit der Justiz im „Dritten Reich“ haben sich schon mehrere Autoren beschäftigt. Eines der bedeutendsten Standardwerke ist nach wie vor die Arbeit von Lothar Gruchmann mit dem Titel „Justiz im Dritten Reich.“ Das in dritter Auflage im Jahr 2001 erschienene Werk ist allerdings auf die Zeit von 1933–1940 beschränkt. Später eingeführte Lenkungsinstrumente werden daher allenfalls am Rande thematisiert.9 Auf die in der vorliegenden Arbeit schwerpunktmäßig untersuchten Arbeitstagungen der Behördenleiter geht Gruchmann zwar vereinzelt ein.10 Nach 1940 durchgeführte Besprechungen werden aufgrund der zeitlichen Konzentration allerdings nicht miteinbezogen.

Sarah Schädler hat in ihrer 2009 veröffentlichten Dissertation „Justizkrise und Justizreform im Nationalsozialismus“ einige der Lenkungsmaßnahmen ←22 | 23→untersucht. Allerdings beschäftigt sich Schädler überwiegend mit den Jahren von 1942–1945 und dem Wirken Otto Georg Thieracks, sodass in ihrer Arbeit die vorherigen Jahre nicht oder nur am Rande mit einbezogen werden.11

Mit der nationalsozialistischen Strafrechtspraxis setzt sich auch die 1989 veröffentlichte Habilitationsschrift „Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich“ von Gerhard Werle auseinander. Unter umfangreicher Einbeziehung der Rechtsprechung wird die gesamte strafrechtliche Regelsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft dargestellt und interpretiert. Die vorliegende Arbeit greift an einigen Stellen auf die umfassende Darstellung der gesetzgeberischen Akte zurück. Genauere Informationen zur Lenkung der Strafjustiz durch das Reichsjustizministerium liefert das Werk allerdings nicht.12

Detaillierter mit den Lenkungsmaßnahmen befassen sich dagegen die auf einzelne Oberlandesgerichtsbezirke oder auf die Tätigkeit eines einzelnen Gerichts begrenzte Arbeiten.13 Zwar verdeutlichen diese Arbeiten örtliche Besonderheiten bei der Lenkung der Strafjustiz. Sie verlieren dabei aber häufig die zentrale und übergeordnete Funktion und Rolle des Reichsjustizministeriums und den Gesamtzusammenhang aus den Augen.

Insgesamt fehlt somit eine eingehendere Untersuchung der vom Reichsjustizministerium ausgerichteten Besprechungen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte. Dies vermag auch das während der Erstellung dieser Arbeit erschienene Werk von Werner Schubert mit dem Titel „Das Reichsjustizministerium und die höheren Justizbehörden in der NS-Zeit (1933–1945)“ nicht zu ändern. Hierbei handelt es sich um eine reine Edition von Mit- und Niederschriften der Arbeitstagungen, in der eine kritische Auseinandersetzung mit den Beratungsthemen sowie eine Würdigung der Arbeitstagungen fehlen. Weder die Gründe für die Durchführung der Besprechungen noch ihre Auswirkungen sind bislang untersucht, sodass Schuberts Edition lediglich eine Grundlage für eine weitergehende Untersuchungen sein kann.14

←23 | 24→

Stephan Weichbrodt beschäftigt sich in seinem 2010 erschienenen Werk zur Geschichte des Berliner Kammergerichts mit dem Titel „Die Geschichte des Kammergerichts von 1919–1945“ zwar eingehender mit den Arbeitstagungen, beschränkt sich dabei jedoch auf eine kleine Auswahl.15 Zudem ist für Weichbrodt vor allem die Rolle und Funktion der Berliner Behördenleiter von Bedeutung. Dies ist seinem Untersuchungsgegenstand geschuldet, ändert aber nichts an der Notwendigkeit, die Untersuchung in diesem Bereich noch auszuweiten.

Auch bekannte Tagungen wie z.B. die Zusammenkunft der Behördenleiter vom 23./24. April 1941 im Haus der Flieger in Berlin, auf der die Teilnehmer über das NS- Euthanasie Programm in Kenntnis gesetzt wurden16, oder die Besprechung anlässlich der Handhabung des Blutschutzgesetzes17 waren schon Gegenstand einiger Arbeiten. Die Tagungen wurden jedoch nicht schwerpunktmäßig untersucht, sondern lediglich kursorisch erwähnt.

Verlässliche Aussagen über die Bedeutung und Tragweite der Zusammenkünfte lassen sich nur nach einer umfassenden Auswertung der Bestände des Bundesarchivs treffen. Die Auswahl einiger eindrucksvoller Zusammenkünfte reicht dagegen nicht aus, um der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Indoktrination hinsichtlich der Strafjustiz tatsächlich einnahm. Anwesenheitslisten, Tagesordnungen und zeitliche Einordnungen sollen dabei helfen, dieses Desiderat der rechtshistorischen Forschung zu beseitigen. Auch die einschlägige Bedeutung der Reichsburg Kochem ist bislang wenig erforscht. Die Arbeit wird auch an dieser Stelle einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten.

Des Weiteren bieten die Vor- und Nachschauen Potenzial für eine eingehendere Betrachtung. Zwar wird das Besprechungssystem in einigen Werken, die sich eingehender mit dem Justizalltag im Dritten Reich beschäftigen, erwähnt.18 Entstehungsgeschichte und Ablauf werden dabei jedoch nur oberflächlich untersucht, weil die Autoren einen Gesamtüberblick vom damaligen Gerichtsalltag geben.

Einzig für den Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg liegen bereits detailliertere Untersuchungen vor. So wertet Gunter Schmitz in seinem 1995 veröffentlichten Beitrag mit dem Titel „Die Vor- und Nachschaubesprechungen in Hamburg 1942–1945. Zur Justizlenkung im totalen Krieg“ die überlieferten Protokolle der im Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg durchgeführten ←24 | 25→Vor- und Nachschauen systematisch aus und liefert durch seine Untersuchung wertvolle Erkenntnisse zum inhaltlichen Ablauf und Erfolg der Besprechungen in Hamburg.19 Auch Sabine Schott geht in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2001 mit dem Titel „Curt Rothenberger – eine politische Biographie“ auf die Vor- und Nachschauen ein.20 Ihre Erkenntnisse zur Entstehungsgeschichte der Besprechungen finden in der vorliegenden Arbeit verschiedentlich Berücksichtigung. Da es sich bei der Arbeit von Schott allerdings um eine Biografie von Curt Rothenberger handelt, die vorliegende Untersuchung jedoch die Funktion des Reichsjustizministeriums behandelt und zudem die lokale Umsetzung in anderen Oberlandesgerichtsbezirken mit einbezieht, steht ihre Arbeit einer weiteren Untersuchung nicht entgegen.

III. Quellenmaterial

Zuverlässige Aussagen zu den eingangs aufgeworfenen Fragen lassen sich nur bei Hinzuziehung der Primärquellen treffen. Der vorliegenden Arbeit liegen daher zahlreiche Quellen aus dem Reichsjustizministerium und anderer oberster Reichsbehörden zugrunde, die im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde zugänglich sind.

Der Großteil der verwendeten Akten stammt aus dem Bestand des Reichsjustizministeriums.21 Der insgesamt 146.057 Akteneinheiten umfassende Bestand untergliedert sich in die „Generalakten Teil I (1877–1934)“ und die „Generalakten Teil II (1934–1943)“. Bei den Generalakten Teil I handelt es sich um Akten des Reichsjustizministeriums für den Zeitraum von 1877 bis zum 22. Oktober 1934, dem Zeitpunkt der Vereinigung des Reichsjustizministeriums mit dem Preußischen Justizministerium. Alle Akten bis zu einer Ordnungsnummer von 20.000 sind Teil dieses Bestandes, der nach unterschiedlichen Rechtskategorien angelegt ist.22 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands ist der Bestand zunächst im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam eingelagert worden und erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands zwischen 1993–1994 in das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde gelangt.

Die „Generalakten Teil II“23 für den Zeitraum von 1934–1943 enthalten alle Akten des Reichsjustizministeriums nach der Verschmelzung mit dem ←25 | 26→Preußischen Justizministerium. Diese Akten haben Ordnungsnummern von 20.001 bis 49.999. Der Bestand ist nach Aktenplänen gegliedert und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst im Bundesarchiv in Koblenz eingelagert worden, ehe auch dieser Bestand zwischen 1993–1994 in das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde gelangt ist.

Das Auffinden der Tagungsprotokolle innerhalb der vorgenannten Bestände war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, weil diese nicht systematisch eingepflegt wurden und die Bezeichnungen der Tagungen zudem variierten, was die Suche zusätzlich erschwerte. Die Akten mit den Protokollen der Tagungen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte sind zudem unvollständig vorhanden, da die Generalakten24 des Reichsjustizministeriums mit Tagungsniederschriften bis Mitte 1939 fehlen. Dies hat für Tagungen in diesem Zeitraum die Heranziehung von Sachakten25 mit Einzelteilen der Protokolle erforderlich gemacht.26 Ergänzend wurde zudem auf Tagungsmitschriften aus den Oberlandesgerichtsbezirken Hamburg, Jena und München sowie der Münchner Generalstaatsanwaltschaft zurückgegriffen, die allesamt bei Schubert abgedruckt sind.27

Mitunter waren hilfreiche Informationen zu den Tagungsinhalten auch in den weiteren Beständen des Bundesarchivs aufzufinden. So konnten in dem Bestand BArch R 3016 mit den Akten des Volksgerichtshofs die Referate der Sachbearbeiter einer Tagung ausfindig gemacht werden. Der Bestand umfasst insgesamt 918 Akteneinheiten und gliedert sich in zwei Teile. Während der erste Teil allgemeine Sachthemen beinhaltet, sind im zweiten Teil vornehmlich Urteile von insgesamt ca. 1.600 Verurteilten des Volksgerichtshofs enthalten.

Die verschiedentlich einbezogenen Personalakten finden sich ebenfalls im Bestand BArch R 3001 (alt 22). Sie haben die Ordnungsnummern von 50.000–80.000.28 Die Personalakten sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst im hessischen Fürstenhagen bei Kassel zusammengestellt und anschließend in den amerikanischen Sektor in Berlin gelangt29, ehe sie über das ←26 | 27→Bundesministerium der Justiz und das Bundesarchiv Koblenz nach der Wiedervereinigung zwischen 1993–1994 schließlich das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde erreicht haben.

Für Korrespondenzen mit der Reichskanzlei war zudem der Bestand R-43 aufschlussreich. Der Bestand teilt sich in die Bestände R-43 I („Alte Reichskanzlei“), der die Akten bis zum 30. Januar 1933 enthält, und den Bestand R-43 II („Neue Reichskanzlei“), der die Akten nach dem 30. Januar 1933 enthält. Der gesamte Bestand enthält ca. 11.000 Akteneinheiten. Die Mehrheit der Reichskanzleiakten aus den Jahren 1919–1945 hat sich nur bis in die letzte Kriegsphase in Berlin befunden. Als die Lage in und um Berlin mit dem Heranrücken der Roten Armee auswegloser wurde, wurden die Akten nach Süddeutschland ausgelagert und dort 1945 von amerikanischen Truppen beschlagnahmt. Über das Ministerial Collecting Center in Hessisch-Lichtenau und Fürstenhagen bei Kassel, die zentrale Sammelstelle für alles von den Amerikanern in ihrer Besatzungszone festgestellte Material, gelangten die Akten Anfang 1946 in die Berliner Documents Unit.

Details

Seiten
264
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631841006
ISBN (ePUB)
9783631841013
ISBN (MOBI)
9783631841020
ISBN (Hardcover)
9783631833056
DOI
10.3726/b17808
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Lenkung der Strafjustiz Gleichschaltung Justizielle Aufarbeitung Vor- und Nachschauen Chefpräsidententagungen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 264 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Christian H. Blödorn (Autor:in)

Christian H. Blödorn absolvierte das Erste Staatsexamen an der Georg-August-Universität Göttingen. Anschließend arbeitete er promotionsbegleitend am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte bei Professorin Dr. Inge Kroppenberg in Göttingen sowie für zwei internationale Wirtschaftskanzleien in Berlin und Hamburg im Bereich Banking und Finance. Nach dem Referendariat im Oberlandesgerichtsbezirk Celle mit Station in Singapur, begann er eine Tätigkeit als Rechtsanwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Berlin im Bereich Commercial.

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