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Gentrifiktionen

Zur Gentrifizierung in deutschsprachigen Berlin-Romanen nach 2000

von Hanna Henryson (Autor:in)
©2021 Dissertation 290 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Gentrifizierung ist ein global verbreiteter und kontrovers diskutierter urbaner Prozess, der auch seinen Niederschlag in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gefunden hat.
Diese Studie untersucht die literarische Verarbeitung der Gentrifizierung in Berlin nach 2000 anhand von ausgewählten Romanen von Aljoscha Brell, Ulrich Peltzer, Jan Peter Bremer und Annett Gröschner. Mithilfe eines interdisziplinären theoretischen Rahmens, der narratologische Aspekte mit soziologischen kombiniert, arbeitet die Untersuchung heraus, wie der Wettbewerb um den urbanen Raum aus der Figurenperspektive imaginiert und verhandelt wird. Die Analyse zeigt, wie Machtverhältnisse zwischen sozialen Gruppen sich in den zum Teil standardisierten Figurenkonstellationen der untersuchten ‹Gentrifiktionen› manifestieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Forschungsgegenstände
  • 2.1 Literatur
  • 2.1.1 Die Großstadt in der Literatur
  • 2.1.2 Berlin in der Literatur
  • 2.2 Gentrifizierung
  • 2.2.1 Zum Begriff
  • 2.2.2 Gentrifizierung in Berlin
  • 2.3 Gentrifizierung in der (Großstadt-)Literatur
  • 3 Grundlagen der Analyse
  • 3.1 Literaturtheoretischer Rahmen
  • 3.2 Soziologischer Rahmen
  • 3.2.1 Bourdieus Studien zu sozialen Unterschieden
  • 3.2.2 Bourdieu in der Gentrifizierungsforschung
  • 3.3 Vorgehensweise
  • 4 Der ‚Pionier‘: Kress von Aljoscha Brell
  • 4.1 Struktur und Figurenkonstellation
  • 4.2 Der unfreiwillige ‚Pionier‘
  • 4.3 Sozioökonomische Vielfalt und Aufwertung in Neukölln
  • 5 Die ambivalente Mittelklasse: Teil der Lösung von Ulrich Peltzer
  • 5.1 Struktur und Figurenkonstellation
  • 5.2 Wettbewerb um Raum: Aufwertung in Prenzlauer Berg, Mitte und Kreuzberg
  • 5.3 Überwachung und Widerstand in der gentrifizierten Stadt
  • 5.4 Prekäre Mittelklassenexistenzen
  • 6 Der ‚Finanzialisierer‘: Der amerikanische Investor von Jan Peter Bremer
  • 6.1 Struktur und Figurenkonstellation
  • 6.2 Auszugsdruck und Ortsverbundenheit: Nachbarschaft als mentale Kategorie
  • 6.3 Die ‚Entbettung‘ sozialer Prozesse
  • 7 Die Alteingesessenen und die Verdrängten: Walpurgistag von Annett Gröschner
  • 7.1 Struktur und Figurenkonstellation
  • 7.2 ‚Prenzelberg‘ als Schauplatz der Gentrifizierung
  • 7.3 Widerstand, Konflikt und soziale Unterschiede
  • 8 Fazit
  • 8.1 Figurenkonstellationen als soziale Beziehungen
  • 8.2 Gentrifizierung: Stratifizierung der Möglichkeiten
  • 8.3 Die gentrifizierte ‚Textstadt‘ Berlin
  • 8.4 Ausblick
  • 9 Bibliographie
  • 9.1 Primärliteratur
  • 9.1.1 Druckquellen
  • 9.1.2 Audiovisuelle Medien
  • 9.2 Sekundärliteratur
  • 9.2.2 Druckquellen
  • 9.2.2 Digitale Quellen

←12 | 13→

1 Einleitung

wohnungsbesichtigung: „da werden sie kein hackfleisch bei uns finden, was den blick betrifft. hier haben sie die besten aussichten auf den platz, um nicht zu sagen: auf den park, aber der kommt erst, bis jetzt hat sich nur dieses bäumchen eingefunden, das allein dreht die lautstärke des viertels schon beträchtlich herunter, und was es erst an luft produzieren wird, wenn es mal groß ist, sie werden schon sehen, kommt alles noch.“ denn alles sucht jetzt seinen reißverschluß zum aufkreuzen, alles steckt schon in den startlöchern. kleine modelle stehen hier an allen ecken und enden, veranschaulichungstümpel, damit die leute es endlich kapieren: das ist berlin 2010, 2020 usw., da sieht man es wieder: sie können nicht aufhören zu zählen, sie können es nicht lassen, das geht alles weiter.

[…] denn gentrification! lautet hier das stichwort, ist die bewegung, die durch mitte geht, und think-positive-hardliner geben sich darin die hand.1

Im Jahr 2000 erschien Kathrin Rögglas oben zitierter Roman Irres Wetter, der unter anderem die Verhältnisse auf dem Berliner Wohnungsmarkt thematisiert. Im Zitat taucht das Wort ‚Gentrification‘ auf, das um die Jahrtausendwende mit Sicherheit nicht allen Lesern2 bekannt war.3 Der Prozess der ‚Gentrifizierung‘,4 der die „Aufwertung eines Wohngebietes in sozialer und physischer Hinsicht“ mit sich bringt,5 war bis dahin von anderen Prozessen zumindest teilweise überschattet worden. Die sichtbare Stadtlandschaft im Berlin der 1990er Jahre war stark von der ←13 | 14→(Re-)Integration und (Re-)Konstruktion der beiden Stadthälften nach dem Mauerfall sowie von Deindustrialisierung und Bevölkerungsabnahme geprägt.6 Im Zuge dieser Prozesse entstanden geräumige Grünflächen und ein verbreiteter Leerstand in ehemaligen Gewerbegebäuden und Wohnhäusern, die als Kunstateliers, Technoclubs oder alternative Wohnprojekte genutzt werden konnten.7 Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schloss mit zwei symbolisch aufgeladenen Ereignissen: der Einweihung des neuen Potsdamer Platzes 1998 und der seit 1991 geplanten Verlegung des Bundestages und des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin 1999. Der Prozess der Um- und Neugestaltung der Hauptstadt scheint um diese Zeit in eine neue Phase übergegangen zu sein.8 Ab 1998 wurde die Stadt durch die aufwendige Werbe-Kampagne ‚Das neue Berlin‘ als eine weltoffene, zukunftsbezogene und kreative Stadt vermarktet, um das Interesse potenzieller Besucher und Investoren zu wecken.9 Die entstandenen Subkulturen wurden allmählich zu einem Merkmal und einem Teil der Attraktivität ←14 | 15→von Berlin, die auch für die Stadtmarketing instrumentalisiert wurden.10 Die Bevölkerung Berlins nimmt seit 2004 wieder zu und zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen auch einen beträchtlichen Bevölkerungsaustausch; Geringverdiener sind tendenziell aus zentral gelegenen Wohngebieten11 weggezogen oder verdrängt worden und Besserverdiener sind zugezogen.12 Im Inneren der Stadt sind die Mieten kräftig angestiegen und aus dem verbreiteten Leerstand ist inzwischen eine Wohnungsknappheit geworden.13

In Berlin – wie aktuell in sehr vielen anderen Städten der Welt14 – findet somit eine umfassende Aufwertung statt, die soziale Konstellationen umformt und die Stadtlandschaft sichtbar transformiert. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach innenstädtischem Wohnraum verschärft sich der Wettbewerb um Raum und Gruppen mit unterschiedlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen bilden sich heraus, was dem Gentrifizierungsprozess nach Ilse Helbrecht zwangsläufig eine politische Dimension verleihe.15 Wie das Zitat aus Irres Wetter demonstriert, reagierte die Literatur früh auf diese Tendenzen zur ←15 | 16→Gentrifizierung in Berlin. Im Unterschied zu Rögglas Roman wird der Prozess in vielen Berlin-Romanen eher implizit anhand von Motiven geschildert, die direkt oder indirekt mit Gentrifizierung verbunden sind. Exemplarisch kann auf Ralf Rothmanns Künstlerroman Feuer brennt nicht (2009) verwiesen werden, der die Anfänge der Gentrifizierung in Kreuzberg thematisiert. Der Protagonist Wolf und seine Frau Alina sind in den 1980er Jahren aus der BRD nach Kreuzberg gezogen und haben sich zwanzig Jahre später entschlossen, sich einen neuen Wohnort zu suchen. Das Zitat unten gibt einen Teil ihrer Diskussion über die Beweggründe und Bedenken des Umzugs wieder:

Nach dem Mauerfall hat sich die Statik der Stadtteile verschoben, kaum merklich erst, wie sich ein Gebiss nach neuen Kronen oder Brücken ändert, und was man früher für ein Lächeln halten konnte, ist jetzt ein unverhohlenes Zähneblecken. Die bunt- checkige Boheme, die das Kreuzberg längs der Kanalufer ausmachte, floh vor den neuen Mietpreisen nach Friedrichshain, Neuköllner Gangs durchstreifen die Hasenheide, und der U-Bahnhof Südstern ist zu einem Treffpunkt für Dealer und Süchtige geworden. […] Also nach Friedenau oder Charlottenburg, wo es große Wohnungen mit hohen Räumen und Parkettböden gibt? Oder gar nach Dahlem? Doch die vertrauten Westbezirke, besonders die bürgerlichen, wirken abgelegen und verblichen seit dem Beginn der neuen Zeit; Stapel von Kompottschälchen auf dem Trödelmarkt fallen einem ein, emaillierte Reklameschilder fürs Bad, dunkle Anrichten in Berliner Zimmern und glatzköpfige Pfeifenraucher in Lederwesten. Und in den neuen Kiezen, die in Betracht kommen, in Mitte, Friedrichshain und am Prenzlauer Berg, kennt man sich vor lauter Lifestile und Logos nicht mehr aus; dort hat man Jugend zu einem Beruf gemacht, Erfolg zu einer Religion, und lebt auf viel zu dünnem Eis; man hört es leise knacken, wenn sie die Deckel ihrer Laptops schließen. Also fort aus dieser Stadt? Doch auch das kommt nicht in Frage. Man kann sie zwar nicht lieben, gewiss nicht; trotzdem bleibt es die beste für jemanden, der eigentlich nirgendwo hingehört.16

Obwohl der Begriff Gentrifizierung im Roman nicht wörtlich genannt wird, zeichnet sich der Prozess im Zitat deutlich ab, ob durch damit verbundene Erscheinungen wie Mieterhöhungen in Kreuzberg oder durch die Transformation des Ostteils der Stadt nach der Wende. Mit einem Vorwissen über die realweltliche Entwicklung Berlins sowie über Gentrifizierung können auch weniger deutliche Motive in literarischen Texten als Elemente eines Aufwertungsprozesses gedeutet werden. Ein zweites Beispiel neben Irres Wetter für die explizite Verwendung des Gentrifizierungsbegriffs ist der Roman Gehwegschäden von Helmut Kuhn (2012), wo der Begriff auf die Entwicklung des Berliner Bezirks Mitte bezogen wird. Im Roman versucht der freiberufliche Journalist ←16 | 17→Thomas Frantz, sich mit immer schlechter bezahlten Schreibaufträgen in Berlin durchzuschlagen und beobachtet dabei sich selbst und andere prekäre oder gar gescheiterte Existenzen mit unbarmherzigem Detailreichtum.17 Kuhn lässt den Künstler Iepe Rubingh, dessen Kunstaktion Painting Reality im April 2010 am Rosenthaler Platz im Roman vorkommt,18 sich folgendermaßen zur Gentrifizierung in Mitte äußern:

„[…] Wenn der Hackesche Markt sehr schön geworden ist, es ist alles so hübsch, dann ist das Gentrifizierung. Großartig. König, das hast du toll gemacht. Die Aktionsgalerie ist weg, der Club KaDeWe ist weg, die ganze Subkultur futsch, die da entstanden war. Jetzt ist es touristisch.“19

Im Zitat werden sowohl eine Ästhetisierung der Stadtlandschaft als auch die Verdrängung der subkulturellen Vereine und Orte aufgegriffen, die den Hackeschen Markt zu einem beliebten Ort der Mittelklasse und der Touristen gemacht hatten.20 Literarische Texte heben die Auswirkungen der Gentrifizierung auf sowohl der subjektiven als auch der gesellschaftlichen Ebene hervor; mit Jacques Rancière kann von einer ‚Sichtbarmachung‘ des Prozesses gesprochen werden, ←17 | 18→die ein politisches Potenzial in sich birgt.21 Literatur, so Stefan Neuhaus und Immanuel Nover, hat nicht nur die Fähigkeit zur „mimetischen Abbildung von textexterner politischer ‚Wirklichkeit‘, sondern fungiert selbst als innovatives politisches Handeln, durch das die politische/soziale ‚Wirklichkeit‘ mitgestaltet wird“.22 Politische Literatur soll mitnichten nur als eine Dokumentation politischer Realitäten verstanden werden, „vielmehr ist gerade die Sichtbarmachung des Imaginären/Fiktionalen produktiv für das Politische“.23

In Übereinstimmung damit betrachtet Randall Halle „the artistʼs alternative social imaginary“ als ein unentbehrliches Komplement zu den oft „static, defeatist, or frozen visions of reality“ der Politik, die sich in besonderem Maße nach Krisen wie der Rezession 2007–2009 ausbreiten. Nach seinem Befinden ist dabei die Stadt der Ort, der am ehesten alternative Denk- und Lebensweisen hervorbringt.24 Imaginationen – ob vermittelt durch die Literatur oder durch andere Diskurse – beeinflussen das städtische Leben auf konkrete Weise. So zeigt Barbara Lang in einer stadtethnographischen Studie über Gentrifizierung im Bezirk ←18 | 19→Kreuzberg am Anfang der 1990er Jahre, wie kulturelle und mediale Diskurse die Aufwertung bestimmter Gebiete „herbeigeschrieben“ und somit die tatsächliche Gentrifizierung vorweggenommen haben.25 Als ein literarisches Beispiel dafür nimmt Lang den Roman Letzte Vorstellung. Abschied von Kreuzberg von Kits Hilaire (1991), der „den Untergang des alten Kreuzberg“ durch den Einbruch der neuen Zeit beschreibt, bevor soziale und physische Veränderungen dort tatsächlich stattgefunden hatten.26 Auch Loretta Lees bezeichnete kurz nach der Jahrtausendwende die mehr oder weniger wohlbegründete Vorstellung der Einwohner von Brooklyn, dass ihre Nachbarschaften von ‚Superreichen‘ völlig überflutet werden, als „a real social fact with the power to change the neighbourhood, irrespective of the ‚softness‘ of the evidence for its ‚reality‘“27 und beklagte den Mangel an Studien, die sich mit der Dekonstruktion von Gentrifizierungsdiskursen und der Wissensproduktion über den Prozess beschäftigen.28 Bisher sind einige wenige Forschungspublikationen über Gentrifizierung in Literatur, Film und anderen Mediendiskursen erschienen, aber das von Lees vor 20 Jahren formulierte Forschungsdesiderat besteht weitgehend immer noch.29

In dieser Lücke verortet sich die vorliegende Untersuchung, deren Gegenstand diejenige Literatur ist, die die Gentrifizierungsprozesse in Berlin nach 2000 abbildet, dadurch sichtbar macht und – im Sinne der oben zitierten Arbeiten – auch mitgestaltet. Nach der Wende ist Berlin zu einer Projektionsfläche für allerlei soziale, stadtplanerische und kulturelle Visionen geworden,30 die von ←19 | 20→literarischen Werken mal bekräftigt, mal widerlegt werden. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht der Beitrag, den die Gegenwartsliteratur zur Darstellung und zum Verständnis der Gentrifizierungsprozesse in Berlin leistet.31 In dem Sinne kann diese Arbeit als ein Komplement zur Erforschung der Gentrifizierung in der Stadtsoziologie und der Humangeographie betrachtet werden.32 Das Jahr 2000 wurde als zeitliche Abgrenzung gewählt, weil es den Anfang einer neuen Phase der Entwicklung von Berlin nach der Wende markiert, aber auch den Anfang einer neuen Phase der Berlin-Literatur.33 Aktuell scheint diese Literatur von den Tendenzen der für die Gegenwartsliteratur im Allgemeinen diskutierten ‚neuen Ernsthaftigkeit‘ geprägt zu sein; zahlreiche ←20 | 21→Werke, die das gegenwärtige Berlin thematisieren oder zu ihrem Schauplatz machen, dokumentieren realitätsnah den urbanen Raum und soziale Verhältnisse in der Stadt.34 Es handelt sich jedoch immer noch um fiktionale Stadtdarstellungen – Gentrifiktionen – und daher wird das literarisierte Berlin im Kontext dieser Arbeit als eine fiktive ‚Textstadt‘ verstanden, die durch textuelle Mittel wie Toponyme und Stadtschilderungen einen deutlichen Realitätsbezug aufweist.35

Die vorliegende Untersuchung bezweckt eine thematisch-hermeneutische Analyse von Darstellungen der Gentrifizierung in Berlin; sie ist also weder eine Chronik der Gentrifizierung in Berlin noch der in Berlin angesiedelten Gentrifizierungsliteratur. Um eine nähere Analyse der mit Gentrifizierung verbundenen Themen zu ermöglichen, ist eine Textauswahl getroffen worden. Eine erste Einschränkung bestand darin, dass Romane als das am besten geeignete Genre für die Erfüllung des Anliegens dieser Untersuchung beurteilt wurden.36 Da das Prozesshafte konstitutiv für Gentrifizierung ist, durchdringt es ebenfalls diese Arbeit. Für die vier Analysekapitel wurde jeweils ein Roman ausgewählt, dessen (zentrale) Figuren verschiedenen sozialen Gruppen und Akteurgruppen des Prozesses zugeordnet werden können – ‚Pionieren‘,37 Mitgliedern der Mittelklasse38 ←21 | 22→und ‚Gentrifizierern‘, Investoren oder ‚Finanzialisierern‘ beziehungsweise Alteingesessenen und Verdrängten39 – und die somit verschiedene Phasen und Perspektiven der Gentrifizierung einleuchtend illustrieren können.40 Der Fokus der Untersuchung liegt somit auf den Romanfiguren, und zwar auf dem Zusammenspiel mehrerer Figuren in bedeutungstragenden Figurenkonstellationen.41 Die Mehrschichtigkeit des Gentrifizierungsprozesses ließe auch andere Herangehensweisen zu; ein thematischer oder narratologischer Fokus auf die Darstellung der physischen Stadtlandschaft oder die Konstruktion der Textstadt Berlin wäre zum Beispiel ebenfalls interessant und möglich gewesen. Diese Aspekte werden zwar als Elemente der Struktur der jeweiligen Romane in der Analyse berücksichtigt, aber der größte Teil der Aufmerksamkeit wird den Erfahrungen von Gentrifizierung und den Lebenssituationen der Romanfiguren gewidmet. Diese Entscheidung beruht einerseits auf der Beschaffenheit der Literatur als fiktionales Konstrukt, das dem subjektiven Erlebnis den Vorrang über die objektive Realität gibt, und andererseits auf dem Verhältnis zwischen fiktiven Figuren und realen Personen. Nach Fotis Jannidis basiert die Rezeption und Interpretation einer Figur auf dem Vorwissen – dem kognitiven ‚kulturellen Code‘ – des Rezipienten.42 Dieses Wissen spielt auch eine Rolle bei der Einschätzung von realen Personen:

This code is also resorted to in the perception of people in everyday life such that there is an interaction between the formation of (narrative) characters and the perception of people not only because the perception of people determines how plausible a character is, but also because the way characters are presented in narratives may change the way people are perceived.43

Die Darstellung der Figuren, die in den ausgewählten Texten zu Akteuren der Gentrifizierung werden, kann somit Konsequenzen für die Perzeption der ←22 | 23→realweltlichen Akteure des Prozesses haben. Anhand der subjektiven Figurenperspektive kann besonders gut gezeigt werden, wie die Auswirkungen von Gentrifizierungsprozessen auf individuelle Lebenssituationen und auf das Verhältnis zwischen sozialen Gruppen in der Gegenwartsliteratur imaginiert und verhandelt werden. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, mit denen Bewohner realer Städte im Zuge der Gentrifizierung konfrontiert werden, werden sowohl von kontextuellen Faktoren als auch von ihren disponiblen Ressourcen bestimmt. Es erscheint demnach als besonders relevant, die literarische Darstellung dieser Faktoren und Ressourcen näher zu untersuchen. Diesem Zweck können die Theorien über soziale Unterschiede von Pierre Bourdieu dienen, die von Kulturgeographen und Stadtsoziologen herangezogen werden, um die Entstehung und das Ergebnis der Gentrifizierung aus der Akteurenperspektive zu erklären.44 Vor allem der Besitz der verschiedenen Kapitalformen und die sich daraus ergebenden Positionen, die die jeweiligen Figuren im sozialen Raum einnehmen, sind zentrale Teile der Überlegungen zur ‚Figurensoziologie‘ der ausgewählten Romane.45 Folglich geht es hier darum, mithilfe von Bourdieus Terminologie die geschilderten Situationen der auf unterschiedliche Weise von Gentrifizierung betroffenen Figuren besser veranschaulichen und analysieren zu können.46 Aus diesem Anliegen kristallisieren sich die folgenden Fragestellungen heraus:

←23 | 24→

In welchen Figurenkonstellationen treten die verschiedenen Akteure der Gentrifizierung in den Romanen auf und welche Bedeutungen können diesen Konstellationen beigemessen werden?

Aus welchen (sozialen) Perspektiven wird über den Gentrifizierungsprozess erzählt?

Welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten ergeben sich für die (zentralen) Figuren aus der Schnittstelle zwischen Gentrifizierung und ihren Positionen im sozialen Raum? D. h.:

Wie beeinflusst die Gentrifizierung ihre Wahlmöglichkeiten, Lebenssituationen und Gefühlslagen?

– Wie (re-)agieren sie, wenn sie von Verdrängung bedroht oder betroffen werden?

Welche baulichen, sozialen, funktionalen und symbolischen Aufwertungserscheinungen können in den dargestellten Berliner (Text-)Stadtlandschaften verzeichnet werden?47

Welche Ergebnisse der Analyse von Gentrifizierung in der Literatur können von Bedeutung für andere wissenschaftliche Disziplinen sein?

Vorliegende Arbeit hat drei wichtige Gegenstände – Literatur, Berlin und Gentrifizierung –, denen die Verbindung zum Phänomen der Großstadt gemeinsam ist. Kapitel 2, in dem eine Übersicht über die Forschung zu diesen Gegenständen enthalten ist, geht deswegen auf die Großstadt als literarischen Ort (Kapitel 2.1.1) beziehungsweise als Sozialraum ein, in dem Gentrifizierung stattfindet (Kapitel 2.2.1). Der Forschung zu Berlin in der Literatur beziehungsweise zur Gentrifizierung in Berlin ist jeweils ein Unterkapitel (2.1.2 beziehungsweise 2.2.2) gewidmet. Im letzten Unterkapitel (2.3) werden die wenigen bereits vorliegenden Forschungsergebnisse zu den drei zentralen Forschungsgegenständen synthetisiert.

←24 | 25→

Dem Kapitel 2 folgt eine Darlegung der Grundlage der Analyse im Kapitel 3, die den literaturtheoretischen (Kapitel 3.1) wie soziologischen Rahmen (Kapitel 3.2) der Arbeit präsentiert. Der soziologische Teil erläutert die Theorien von Pierre Bourdieu (Kapitel 3.2.1) und die Relevanz dieser Theorien für die Gentrifizierungsforschung (Kapitel 3.2.2). Ausgehend davon werden die Begründung der Textauswahl und die Vorgehensweise der Untersuchung dargelegt und vier leitende Thesen formuliert (Kapitel 3.3).

Die vier Analysekapitel haben jeweils unterschiedliche Schwerpunkte im Hinblick auf den komplexen Gentrifizierungsprozess. Die Reihenfolge der Analysekapitel soll nicht als chronologisch verstanden werden, weder im realweltlichen Sinne im Hinblick auf die Entwicklung Berlins noch im Sinne eines Gentrifizierungsprozesses im Allgemeinen; wie die Forschung zur Gentrifizierung zeigt, beruht der Verlauf der jeweiligen Prozesse auf nationalen wie sehr lokalen Faktoren und kann nicht zu einem eindeutigen Schema reduziert werden.48 Jedes Analysekapitel wird mit einer Übersicht über die Struktur des Romans eingeleitet.

Im ersten Analysekapitel (Kapitel 4) wird die Rolle des Pioniers in Gentrifizierungsprozessen anhand des in Neukölln spielenden Romans Kress von Aljoscha Brell (2015) diskutiert, dessen gleichnamiger Protagonist mit dem Wandel sowohl seines Selbstbildes als auch seiner Nachbarschaft in Neukölln konfrontiert wird. Als Einzelgänger ohne finanzielles Kapital befindet sich Kress in einer empfindlichen Lage, als er von der Räumung seiner Wohnung bedroht wird. Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung Neuköllns bis vor Kurzem einen hohen Anteil an Geringverdienern und Migranten hatte, wirft der Roman auch Fragen zu sozioökonomischer und kultureller Vielfalt in Gentrifizierungsprozessen auf.49

Das zweite Analysekapitel (Kapitel 5) geht der Darstellung von Gentrifizierung im Roman Teil der Lösung von Ulrich Peltzer (2007) nach. Die zentralen Figuren des Romans gehören der Mittelklasse an und sind durch ihren größeren Kapitalbesitz auch potenzielle Gentrifizierer. Die Aufwertungsprozesse in Berlin ←25 | 26→destabilisieren jedoch ihre Positionen im sozialen Raum und lassen die Bezeichnung ‚Mittelklasse‘ als ambivalent erscheinen.50 Als freiberuflicher Journalist, Dozent in Romanistik beziehungsweise Studentin der Literaturwissenschaft gehen die drei Hauptfiguren unterschiedlich mit dem Wandel Berlins um: der eine schlägt sich mit kurzfristigen Schreibaufträgen und einem Kredit durch, der andere muss Karriere machen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten und die dritte protestiert mit Gewalt gegen die Aufwertung der Stadt. Kritik am Kapitalismus, an der Globalisierung und an der zunehmenden Überwachung im städtischen Raum durchzieht diesen Roman.

Der Gegenstand des dritten Analysekapitels (Kapitel 6) ist der Roman Der amerikanische Investor von Jan Peter Bremer (2011), der sowohl die sehr persönliche als auch die finanzielle Seite der Gentrifizierung thematisiert. Der namenlose Protagonist lebt mit seiner Familie in einem Wohngebiet, das durch paratextuelle Informationen als Kreuzberg erkennbar ist. Sein altes Wohngebäude ist kürzlich von einem vermögenden amerikanischen Investor erworben worden und soll umfassend saniert werden. Während der Protagonist eine starke Ortsverbundenheit und einen erschütternden ‚Auszugsdruck‘ verspürt,51 steht der amerikanische Investor für die ‚Entbettung‘ sozialer Prozesse aus ihren lokalen Kontexten im Zuge der transnationalen ‚Finanzialisierung‘ der Wohnmärkte.52 In den inneren Monologen des Protagonisten nimmt diese Juxtaposition surrealistische und groteske Züge an.

←26 | 27→

Das letzte Analysekapitel (Kapitel 7) ist dem Roman Walpurgistag von Annett Gröschner (2011) gewidmet, der die Perspektive der Alteingesessenen und der Verdrängten auf die Gentrifizierung in vor allem Prenzlauer Berg einnimmt. Die Erlebnisse der über 60 Romanfiguren an einem einzigen Tag – dem 30. April 2002 – sind von der Autorin zu einem literarischen Panorama des Berlins der Gegenwart zusammengefügt geworden. Die Verdrängung betrifft vor allem drei alte Damen, die in Prenzlauer Berg geboren sind und widerwillig in ein Seniorenheim ziehen müssen. Dargestellt wird aber auch, wie sie und andere Figuren Widerstand gegen Gentrifizierungserscheinungen leisten und wie Kollisionen der Interessen und Konflikte zwischen Individuen und sozialen Gruppen im Zuge der Gentrifizierung entstehen können.

Eine Diskussion über die Ergebnisse der Analyse ausgehend von den formulierten Fragestellungen und leitenden Thesen wird im Fazit (Kapitel 8) in drei Schritten geführt. Es wird hier gezeigt, dass die Ergebnisse nicht nur für die vier näher analysierten Romane Gültigkeit haben, sondern auch für andere literarische Texte, die sich mit der Gentrifizierung in Berlin beschäftigen. In einem abschließenden Ausblick (Kapitel 8.4) werden die Ergebnisse der Analyse, die von Bedeutung für andere wissenschaftliche Disziplinen sein können, hervorgehoben und weiterführende Forschungsthemen vorgeschlagen.

Details

Seiten
290
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631854853
ISBN (ePUB)
9783631854860
ISBN (MOBI)
9783631854877
ISBN (Hardcover)
9783631842218
DOI
10.3726/b18423
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Literarische Figuren Figurenkonstellation Pierre Bourdieu Kapital Verdrängung Prekarität Aljoscha Brell Ulrich Peltzer Jan Peter Bremer Annett Gröschner
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 290 S., 4 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Hanna Henryson (Autor:in)

Hanna Henryson studierte Germanistik und Romanistik in Uppsala, Freiburg im Breisgau und Berlin. Sie promovierte am Institut für moderne Sprachen der Universität Uppsala. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im transdisziplinären Bereich der Literary Urban Studies, in der Narratologie sowie in der Sprach- und Literaturdidaktik.

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