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Begehren, Angst – und nüchterne Vernunft: Epikureische Psychologie und Ethik nach griechisch-römischen Texten

von Christoff Neumeister (Autor:in)
©2021 Monographie 404 Seiten

Zusammenfassung

Ausgewählte Passagen aus Texten griechischer und römischer Autoren führen die Grundgedanken der epikureischen Psychologie und Ethik vor. Deren zentrale Themen waren zum einen die verschiedenen Formen menschlichen Begehrens einschließlich des Sexuellen, zum anderen rationale und irrationale Ängste sowie der vernünftige Umgang mit ihnen. In diesem Zusammenhang entstand auch eine eigene Theorie der Wahrnehmung und Begriffsbildung, des Erkennens und des Handelns. Außerdem entstand eine detaillierte Rekonstruktion der Entwicklung, die die Menschheit in sozialer und technischer Hinsicht durchlaufen haben könnte. Dabei wurde der Herausbildung der menschlichen Sprachfähigkeit eine besonders wichtige Rolle zugewiesen. Das Buch möchte den Systemcharakter dieser Philosophie deutlich machen, soll aber auch der nichtfachlichen Leserschaft durch Neuübersetzungen einen Eindruck von der hohen literarischen Qualität der zum großen Teil dichterischen Quellentexte vermitteln.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Abkürzungen und Sonderzeichen
  • Einführung. Preis der Stadt Athen und ihres Sohnes Epikur
  • Teil I: Personen, Orte, Ereignisse
  • 1. Gemeinsames Philosophieren im Athener Vorstadtgarten
  • 1.1: Das Leben Epikurs bis zur Gründung der Schule in Athen
  • 1.2: Die Lehre und ihre Vermittlung
  • 1.2.1: Esoterische Schriften
  • 1.2.2: Der Aneignung und Verinnerlichung der Lehre dienende Schriften
  • 1.2.3: Therapiegruppen
  • 1.2.4: Die Technik therapeutischen Gesprächs
  • 1.3: Die Zusammensetzung epikureischer Freundeskreise
  • 1.4: Die Persönlichkeit Epikurs. Tod und Nachwirkung
  • 2. Cicero und die Epikureër. Philodem
  • 2.1: Erste Kontakte
  • 2.2: Ciceros Schmährede gegen Piso Caesoninus
  • 2.3: Der epikureische Dichter-Philosoph Philodem
  • 2.4: Zwei Epigramme Philodems
  • 3. Philodems Arbeitsbibliothek. Zwei epikureische Freundeskreise am Golf von Neapel
  • 3.1: Die Villa dei Papiri
  • 3.2: Die Papyrus-Bibliothek im Abstellraum. Ihre Entzifferung
  • 3.3: Identifizierung als Arbeitsbibliothek Philodems
  • 3.4: Vergil schließt sich Siron an
  • 3.5: Philodems und Sirons epikureische Freundeskreise. Verhältnis von Horaz und Lukrez zu ihnen
  • Teil II: Die Lehre
  • Teil IIa: Begehren
  • 4. Begehren, Lust und Glück
  • 4.1: Epikurs Brief an Menoikeus
  • 4.1.1: Die Typen des Begehrens
  • 4.1.2: Das allgemeine Ziel (télos) allen Begehrens
  • 4.1.3: Ablauf einer Begehrensbefriedigung. Vorgangslust und Zustandslust
  • 4.1.4: Optimierung des Luststrebens mithilfe zeitübergreifender Lust-Schmerz-Bilanzierung („Hedonistischer Kalkül“)
  • 4.1.5: Vermeidung von Risiken für die eigene Unabhängigkeit (Autarkie-Vorbehalt)
  • 4.1.6: Besonnenheit (phronêsis) als nüchtern berechnende Kontrolle des eigenen Luststrebens
  • 4.2: Das Proömium des zweiten Buches von Lukrezens Lehrgedicht
  • 4.2.1: Das Glück, durch philosophische Aufklärung von allem nichtigen Begehren befreit worden zu sein
  • 4.2.2: Die geringen Bedürfnisse unserer Natur
  • 4.2.3: Überflüssigkeit von Luxus bei der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse
  • 4.2.4: Nutzlosigkeit von Luxus gegen körperliches Leid
  • 4.2.5: Nutzlosigkeit von Reichtum, sozialem Ansehen und Macht gegen irrationale seelische Ängste
  • 4.3: Die Otium-Ode (c. II 16) des Horaz
  • 5. Sexualität und Liebe
  • 5.1: Lukrez über die Liebe
  • 5.1.1: Sexuelles Begehren und Liebesleidenschaft (venus und amor)
  • 5.1.2: Die Verselbständigung der Liebesleidenschaft und ihre fatalen Auswirkungen
  • 5.1.2.1: Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Geliebten
  • 5.1.2.2: Auswirkung auf den Sexualakt selbst
  • 5.1.2.3: Auswirkung auf Leben und Lebensgefühl des Verliebten
  • 5.1.3: Vermeiden einer leidenschaftlichen Liebe
  • 5.1.4: Sich befreien aus einer leidenschaftlichen Liebe
  • 5.1.5: Die Motive der Frauen: meist Eigennutz, oft aber auch Gegenliebe, oder eigenes sexuelles Begehren. Tierverhalten als Vorbild
  • 5.1.6: Kinderzeugen, Empfängnisverhütung, Vererbung von Eigenschaften
  • 5.1.7: Einordnung der Sexualität in die Begehrenstypologie
  • 5.1.8: Liebesfreundschaft
  • 5.2: Horaz über die richtige Wahl des Sexualpartners (Satire I,2,28–134)
  • 5.3: Plutarch über die Vorteile rein tierischer Sexualbefriedigung
  • Teil II b: Wahrnehmen, Denken, Handeln
  • 6. Eindruck, Wahrnehmung, Erkenntnis
  • 6.1: Grundbegriffe
  • 6.2: Entstehen von Sinneseindrücken (sensations)
  • 6.3: Verarbeitung von Sinneseindrücken zu Wahrnehmungen (perceptions)
  • 6.3.1: Das Entstehen von Vor-Begriffen (prolêpseis) aufgrund interessegelenkter geistiger Hinwendung (epibolê tês dianoíâs)
  • 6.3.2: Arten von Vor-Begriffen
  • 6.4: Geistige Wahrnehmung: Phantasievorstellungen, Träume, Visionen
  • 6.5: Vor-Begriffe als Suchbegriffe eingesetzt, und ihre Überprüfung
  • 6.6: Irrtum und Täuschung im Bereich des Wahrnehmbaren
  • 7. Handlungsbestimmende Faktoren. Freier Wille
  • 7.1: Entwicklung einer Person, atomistisch beschrieben. Emergenzbegriff
  • 7.2: Die atomare Fallabweichung (Parénklisis) und der Freie Wille
  • 7.2.1: Die atomare Fallabweichung als kosmologische Hypothese
  • 7.2.2: Erweiterung dieser Hypothese durch Verweis auf den Freien Willen
  • 7.2.3: Unterscheidung von innerlich gewollter und bewusst gewählter Bewegung
  • 7.2.4: Versuch, den Freien Willen aus der atomaren Fallabweichung zu erklären
  • 7.3: Detailliertere Atomistische Auffassung von Seele, Geist und Freiem Willen
  • 7.3.1: Körper, Seele, Geist
  • 7.3.2: Der Geist als Mischung von drei Atomarten. Die ihnen zugeordneten Verhaltenstendenzen (diathéseis)
  • 7.3.3: Exkurs: Vergleich mit Ergebnissen heutiger Persönlichkeitspsychologie
  • 7.3.4: Versuch, den Freien Willens durch Annahme einer vierten, „namenlosen“ Art von Geistes-Atomen atomistisch einzuordnen
  • 7.4: Die Autonomie des Geistes, ein atomistisch nicht lösbares Problem
  • Teil IIc: Zeitlichkeit und Sterblichkeit
  • 8. Tod, Zeitlichkeit, Sterblichkeit
  • 8.1: Zeitlichkeit und Sterblichkeit
  • 8.2: Die Angst vor dem Tod
  • 8.2.1: Tod im Sinne von Totsein
  • 8.2.2: Tod im Sinne von Sterben
  • 8.2.3: Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit
  • 8.3: Epikur über die Zeitlichkeit von Lust und Schmerz
  • 8.4: Ratschläge für ein richtiges Zeitverhalten bei Horaz
  • 8.4.1: Zwei Leittexte (Oden I 11 und III 29)
  • 8.4.2: Die richtige Einstellung gegenüber dem in der Zukunft Möglichen
  • 8.4.3: Energisches Ergreifen der Gegenwart
  • 8.4.4: Die richtige Nutzung erinnerter Vergangenheit
  • 8.5: Lukrez über die rechte Haltung angesichts eines nahen Todes
  • Teil IId: Das Geschichtsbild der Epikureer
  • 9. Die frühe Welt und der Urmensch
  • 9.1: Dauernder Wechsel in der atomaren Welt
  • 9.2: Entstehen und Vergehen, Wachsen und Schwinden
  • 9.2.1: Exkurs: Parallele Darstellungen der Entwicklung der Welt bei antiken Autoren und bei Rousseau
  • 9.2.2: Die Entwicklung der Erde und das Entstehen tierischen Lebens
  • 9.2.3: Lukrez und Darwin
  • 9.2.4: Jugend der Erde. Ihr Altern
  • 9.3: Der Mensch in der frühen Welt
  • 9.3.1: Überlebenssichernde Eigenschaften des Menschen
  • 9.3.2: Befriedigung seiner elementaren individuellen Bedürfnisse
  • 9.3.3: Verhalten anderen Menschen gegenüber
  • 9.3.4: Verhältnis zu den anderen Tieren
  • 9.4: Vergleich dieser Verhältnisse mit den späteren und heutigen
  • 10. Die soziale Entwicklung der frühen Menschheit
  • 10.1: Das Zustandekommen von Neuerungen
  • 10.2: Phasen der Sozialen Entwicklung. Neuerungen als deren Ursachen oder Folgen
  • 10.2.1: Phase I: Elementare Erfindungen, Sesshaftigkeit, Familienbildung, Nachbarschaftsvertrag
  • 10.2.2: Exkurs: Entstehung der menschlichen Sprachfähigkeit
  • 10.2.3: Phase II: Auftreten einer natürlichen Elite, ihr Wirken durch Autorität. Urkönigtum. Zuteilung der Nutzung von Land und Vieh
  • 10.2.4: Phase III: Einführung von Eigentum und Geldwirtschaft. Konkurrenzgesellschaft. Rückfälle in vorsoziale Verhältnisse
  • 10.2.5: Phase IV: Die prekäre Notlösung des Rechtsstaates
  • 10.3: Die soziale Entwicklung als schrittweiser Übergang von der Selbstbestimmung zur Fremdbestimmtheit
  • 10.4: Hermarchos über die historischen Ursachen der Gesetzgebung
  • 10.5: Der epikureische Begriff von Recht und Gerechtigkeit
  • 10.6: Freundschaft
  • 10.7: Die epikureische Sozial-Utopie des Diogenes von Oinoanda
  • 11. Die technische Entwicklung
  • 11.1: Weiterführende Technische Erfindungen
  • 11.2: Spielerische, auf Genuß zielende Erfindungen (z. B. Musik und Tanz)
  • 11.3: Eigendynamik der technischen Entwicklung. Sinnlosigkeit oder sogar Schädlichkeit vieler Neuerungen
  • 11.4: Abschließende Zusammenfassung der prähistorischen Menschheitsentwicklung insgesamt
  • Teil IIe: Aberglaube, Naturwissenschaft und Gottesvorstellung
  • 12. Religiöser Aberglaube
  • 12.1: Entstehen der üblichen Gottesvorstellungen
  • 12.2: Entstehen religiösen Aberglaubens
  • 12.3: Vom Aberglauben angestiftetes Unheil: Die Opferung der Iphigenie
  • 13. Epikureische Naturwissenschaft
  • 13.1: Wissenschaftliche Methoden der Phänomen-Erklärung
  • 13.1.1: Die Ursachen des Phänomens liegen im wahrnehmbaren Bereich
  • 13.1.2: Die Ursachen liegen in einem grundsätzlich nicht wahrnehmbaren Bereich
  • 13.2: Exkurs: Vergleich mit der Methodologie moderner Naturwissenschaft (Pierce, Popper)
  • 13.3: Fünf Beispiele aus Lukrez
  • 13.3.1: „Alles Naturgeschehen ist letztlich auf die Bewegung unsichtbar kleiner Korpuskeln, der Atome, zurückzuführen“ (I 267–328)
  • 13.3.2: „Die Sprachfähigkeit der Menschheit ist Ergebnis nicht göttlicher Belehrung, sondern eines naturimmanenten Prozesses“ (V 1028–1090)
  • 13.3.3: „Gewitter sind keine Äußerungen göttlichen Zorns“ (VI 96–422)
  • 13.3.4: „Es sind natürliche Ausdünstungen der Erde, welche über ein Avernum dahinfliegende Vögel betäuben und töten“ (VI 738–338)
  • 13.3.5: „Das Auftreten von Seuchen erklärt sich ganz natürlich durch Übertragung von Krankheitskeimen über die Atmosphäre“ (VI 1090–1137)
  • 13.4: Der Abschluss des Lehrgedichts: Drastische Schilderung eines grauenvollen epidemischen Sterbens
  • 13.4.1: Die Schilderung bei Thukydides und Lukrezens Übertragung
  • 13.4.2: Vergegenwärtigung statt naturwissenschaftlicher Erklärung
  • 13.4.3: Warum Abschluss des Gesamtgedichts?
  • 14. Die Götter Epikurs
  • 14.1: Zwei Epikurtexte zur Gottesvorstellung
  • 14.2: Sechs einschlägige Zeugnisse anderer Autoren
  • 14.3: Die Frage nach dem „Sein“ der Götter: „Realistisches“ und „idealistisches“ Verständnis?
  • 14.3.1: Die „realistische“ Auffassung: Götter reale, unabhängig vom Menschen existierende Wesen
  • 14.3.2: Die „idealistische“ Auffassung: Gott eine in der Natur des Menschen selbst schon vorbereitete Vorstellung
  • 14.4: Abwehr des Vorwurfs der Gottlosigkeit durch Umdeutung traditioneller Gottesvorstellungen
  • 14.5: Gott als zielführende Idealvorstellung der epikureischen Ethik: Richtiges Leben als Streben nach einem Leben wie ein Gott
  • Epikurs Abschied
  • Anhänge
  • I. Probleme der Übersetzung lateinischer Dichtersprache
  • II. Epikur, Lukrez und Abraham Maslows „Hierarchie der Bedürfnisse“
  • Literatur zu den Themen der Kapitel und Anmerkungen
  • Allgemeines Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Abkürzungen und Sonderzeichen

Abkürzungen häufig zitierter Werke:

Us.

Usener, Hermann: Epicurea, Leizig 1886, Neudruck 1966 (eine Sammlung der erhaltenen Texte Epikurs sowie der Zitate und Erwähnungen bei anderen Schriftstellern)

Arr.

Arrighetti, Graziano: Epicuro, Torino 21971 (Ausgabe aller erhaltenen Texte Epikurs einschließlich der Papyrusfragmente, mit italienischer Übersetzung und Kommentar)

Bailey

Bailey, Cyril: Titi Lucreti Cari De Rerum Natura, Oxford 1966 (Ausgabe des Werkes in drei Bänden mit englischer Übersetzung und ausführlichem Kommentar)

Long-Sedley

A. A. Long, D. N. Sedley: The Hellenistic philosophers, Cambridge 1987 (Auswahl von Textpassagen mit englischer Übersetzung samt kurz zusammenfassenden Interpretationen, in zwei Bänden)

Erben 1994

Erben, Michael: Epikur; Die Schule Epikurs, in: Flashar, Helmut (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, Band 4: Die hellenistische Philosophie (ausführliche Darstellung des Forschungsstandes)

Abkürzung der antiken Autoren nach dem Greek-English Lexicon (Liddell and Scott), Cambridge 1958, und nach dem Oxford Latin Dictionary, Oxford 1992. Abkürzungen von Zeitschriftentiteln nach dem bibliographischen Jahrbuch L’année philologique. Die Angabe Diog.Laert. bezieht sich, falls nicht anders angegeben, immer auf das zehnte Buch von Diogenes Laertius, Vitae philosophorum.

In lateinische Zitate aus Lukrez, Horaz und anderen Dichtern eingetragene Symbole:

||| || |

Strophengrenze, Versgrenze, Versteilgrenze (Zäsur).

|[

Die Versgrenze trennt das letzte Wort eines Satzes oder Teilsatzes vom Rest ab (sog. Rejet). Beispiel: vidit… divitiis homines et honore et laude potentis |[adfluere.

Zäsur teilt attributive Wortgruppe. Beispiel: illiusvitio.←19 | 20→

} {

Sperrung (Hyperbaton): Trennung zweier in attributiver Beziehung zueinander stehender Wörter durch Zwischenwörter. Dasjenige Wort, das dadurch hervorgehoben werden soll, ist durch Unterstreichung gekennzeichnet. Beispiel: veridicis}… purgavit pectora {dictis.

Inversion = Umkehrung der gewöhnlichen Abfolge zweier Wörter. Beispiel: tramiteparvo.

∫∫

Syntagma-Inversion, d.h.Vorziehen einer Wortgruppe vor die Konjunktion oder das Pronomen, welche den bereffenden Teilsatz normalerweise einleiten. Beispiel: viam monstravit, tramite parvo∫∫|| qua possemus ad id| recto} contendere {cursu.

(Ausführlichere Erläuterungen im Anhang I)

Vor einem vokalischen Anlaut elidierte („hinausgedrängte“) auslautende Vokale sind durch Hochstellung und Kleindruck gekennzeichnet. Beispiel: homines| et honore et laude potentis.

In den Umschriften griechischer Wörter bleibt das Jota subscriptum unberücksichtigt, η wird durch ê, ω durch ô wiedergegeben, das υ durch y, aber wenn es Bestandteil eines Diphthongs ist, durch u. Beispiele: ἡδονή = hêdonê, ἄνθρωπος = ánthrôpos, ϕύσις = physis, εὐδαιμονία = eudaimonía.

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Abb. 1:Büste Epikurs (New York, Metropolitan Museum)

Einführung

Preis der Stadt Athen und ihres Sohnes Epikur (Lukrez, De rerum natura VI 1–41)

Im Folgenden wird als erster Abschnitt aus dem großen Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus das Proömium von dessen letztem, sechstem Buch vorgeführt. Von Lukrez wissen wir außer dem Namen nur noch, dass er in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus gelebt haben muss, und sein Gedicht ist nur durch einige glückliche Zufälle über das Mittelalter hinweg auf uns gekommen.1 Dieses Proömium ist ein Preis Epikurs. Epikur wurde zwar auf der Insel Samos geboren, wuchs dort auch auf und hat danach 37 Jahre lang an verschiedenen Orten des westlichen Kleinasien gelebt. Aber als Sohn athenischer Militärsiedler (Kleruchen), welche von 365 bis 321 die Herrschaft Athens über Samos sicherten, war er dennoch athenischer Bürger, und ab 307 oder 305 bis zu seinem Tod hat ←21 | 22→er dann auch in der Metropole verbracht und gewirkt. Infolgedessen beginnt der folgende Preis seiner philosophischen Leistung mit einem Preis der Stadt Athen:

Sie war’s, welche als erste die fruchtbringenden Halme <des Korns>

den armen Sterblichen

dereinst ausgeteilt hat: Athen, Stadt berühmten Namens,

und die ihnen auch eine neue Lebensart ermöglicht hat, und die die <ersten>

Gesetze erlassen hat –

und sie hat ihnen als erste dann auch süßen Lebenstrost gespendet,

5 indem sie nämlich einen Mann von solchem Mut und solcher Klugheit2

hervorbrachte,

welcher all das aus seinem wahrheitskündenden Munde einst hat hervorströmen

lassen, <was wir fürs rechte Leben wissen müssen>,

und dessen Ruhm, seiner göttlichen Entdeckungen wegen schon längst

weithin verbreitet, nach seinem Tode nunmehr hinaufreicht bis zum Himmel.

Denn als er sah, dass, was die Notdurft zum Unterhalt des Lebens fordert,

10 fast alles schon den Sterblichen zur Hand war,

und auch das Leben selbst, soweit nur möglich, gesichert,

<und> dass die durch Reichtum, Ehre und Anseh’n Mächtigen

im Überflusse <sogar> lebten und auch durch ihrer Söhne guten Ruf <vor andren>

ausgezeichnet waren,

dass aber trotzdem einem jeden von ihnen bei sich zu Haus nicht weniger

das Herz voll Angst war

15 und wider Willen das Leben ihm zur Qual machte, ohne

Unterlaß, und ihn nötigte, mit bitt’ren Klagen dagegen anzuwüten,

da erkannte er, dass hier den Fehler das <Seelen->Gefäß selbst bewirke

und dass alles durch seinen Fehler verdorben werde, drinnen!,

was, draußen eingesammelt, auch Schönes, in es Eingang findet:

20 teils weil, so sah er, es undicht und durchlöchert war,

so dass es auf keinerlei Weise je sich würde füllen lassen;

teils auch, weil er wahrnahm, wie’s mit einem fauligen Geschmack

alles verunreinigte, was immer es aufgenommen, drinnen!

Also reinigte er die Brust der Menschen mit wahrheitskündenden Worten,

25 setzte dem Begehren und der Furcht eine Grenze,

legte dar, was als das höchste Gut, nach dem wir alle streben,

zu gelten habe, und wies den Weg, auf dem wir es auf kurzem Pfade

gradwegs und rasch erstreben könnten.

Er zeigte aber auch auf, was es da Übles im Menschen-Dasein gibt, allenthalben,

30 von Natur aus, und was da in vielfältiger Gestalt herumschwirrt,

sei’s zufällig wirkend, oder mit <übermächt’ger>, von der Natur

so vorgesehener Gewalt;

und aus welchen Toren man dem jeweils entgegentreten könne.

Doch wies er auch nach, dass das Menschengeschlecht meist grundlos

←22 | 23→

35 der Sorgen traur’ge Fluten in seiner Seele wälzt.

Denn wie Kinder vor Angst zittern und in undurchsicht’gem

Dunkel alles fürchten, so haben wir zuweilen <sogar> bei hellem Licht schon Angst

vor etwas, was um nichts mehr zu fürchten ist als das,

was Kinder im Dunkeln fürchten und sich einbilden, <gleich>

werd’s gescheh’n.

Doch diese Angst der Seele und diese Dunkelheit können sicherlich nicht

40 die Strahlen der Sonne zerstreun, nicht die Lichtgeschosse des Tages,

sondern <allein> Beobachtung der Natur und Einsicht in ihre Gesetze.3

Lukrez beginnt also mit einem Preis der Stadt Athen. Er schreibt ihr kurzerhand drei fundamentale Kulturleistungen zu: die Einführung des Getreideanbaus,4 eine allgemeine, hier nicht näher charakterisierte Erneuerung der Lebensweise, und die Regelung zwischenmenschlichen Verkehrs durch Gesetze.5 Doch dem fügt er nun noch eine vierte „Leistung“ dieser Stadt hinzu, nämlich: dass sie diesen Mann hervorgebracht hat, dessen „göttliche“ Erkenntnisse den Menschen „süßen Lebenstrost“ gespendet habe. Getreideanbau, Erneuerung der Lebensweise und Gesetzgebung stehen offenbar exemplarisch für die kulturellen Neuerungen, welche die Menschheit insgesamt in einem langen Entwicklungsgang, den der Dichter im vorangegangenen fünften Buch (925–1457) übrigens ausführlich dargestellt hatte, aus einem noch halbtierischen Urzustand auf ihr gegenwärtiges Lebensniveau gebracht haben. Dass er Epikurs Erkenntnisse damit auf eine Stufe stellt, ist deshalb ein wahrhaft gewaltiger Preis. Wichtig aber auch, dass er sie als eine trostbringende Reaktion auf diese Entwicklung und deren Folgen darstellt.

Worin bestanden die Erkenntnisse dieses Mannes? Dies wird in den folgenden Versen nun in drei Schritten dargelegt, die den bekannten drei Stufen einer medizinischen Behandlung verglichen werden können: Feststellung eines anomalen Befunds (Anamnese); Ermittlung seiner Ursachen (Diagnose); heilende Behandlung (Therapie). Dieser Vergleich liegt auch deshalb nahe, weil die Philosophie der damaligen Zeit sich in der Tat öfters als eine Disziplin verstand, welche im seelischen Bereich das leistet, was im körperlichen die Medizin zu leisten versucht.

Der anomale Befund: das ist die Lebenssituation jener Zeit, in welcher Epikur lehrte: Ackerbau, Viehzucht und die verschiedensten technischen Erfindungen hatten dafür gesorgt, dass alle Grundbedürfnisse des Lebens (lat.: der victus) im Großen und Ganzen befriedigt werden konnten, dass auch eine gewisse Kultivierung der Lebensweise (lat.: vita) stattgefunden hatte, und dass Gesetze (leges) ein halbwegs sicheres Zusammenleben der Menschen ermöglicht hatten. Und nachdem nach anfänglichem Urkommunismus das Privateigentum eingeführt worden ←23 | 24→war, lebten diejenigen, welche es dabei zu Reichtum, Ansehen und Macht gebracht hatten, sogar im Überfluss, ja sie konnten darauf vertrauen, dass dies auch für ihre Nachkommen gelten würde. Eigentlich also hätten doch alle mit ihren Lebensumständen zufrieden sein können. Doch das war seltsamerweise nicht der Fall. Im Gegenteil: Wenn man hinter die Fassade von befriedigten Grundbedürfnissen, sozialer Sicherheit und, im Falle der Reichen und Mächtigen, verfügbarem Überflusses schaute, stellte man fest, dass sie „bei sich daheim“, d.h.im privaten und persönlichen Bereich, dennoch allesamt voller Angst waren und bitter unzufrieden mit ihrem Leben und sich darob unablässig in heftigen Klagen ergingen.

So der Befund. Epikurs Diagnose, d.h. was seiner Meinung nach die Ursachen dieses paradoxen Befundes waren: Da es an den äußeren Umständen nicht liegen konnte, musste es innere, seelische Ursachen haben. Die Angabe „im Innern“ (intus||) ist in Lukrezens Text deshalb zweimal durch Endstellung im Vers ganz stark hervorgehoben. Und diese Ursachen werden nun mithilfe einer Metapher umschrieben. Danach gleicht die Seele der Menschen einem Gefäß, in das alles ihm von außen her Zugetragene eingefüllt wird, insbesondere auch all die Annehmlichkeiten (commoda), welche besagte technische und soziale Entwicklung der Menschheit ja durchaus auch mit sich gebracht hatte. Aber bei den meisten Menschen ist dieses Seelengefäß fehlerhaft: Entweder ist es undicht, so dass alles Eingefüllte sogleich wieder hinaus fließt, und es deshalb nie gefüllt werden kann: Ständig muss Neues nachgefüllt werden. Oder aber es ist verschmutzt und teilt deshalb allem Eingefüllten, auch dem eigentlich Angenehmen und Schönen, einen eklen Beigeschmack mit. Ein Blick auf andere Stellen im Gedicht (III 935–938 und III 39) macht klar, was damit gemeint ist: Entweder fehlt den betreffenden Menschen die Fähigkeit, das Angenehme, was das Leben ihnen doch auch immer wieder gewährt, in einer dankbaren Erinnerung festzuhalten und so mit der Zeit trotz all der Übel, die es auch mit sich gebracht hat, zu einer gewissen Zufriedenheit mit dem, was ihnen geboten worden war, zu gelangen. Vielmehr begehren sie stets und ständig immer mehr und noch mehr, sind in ihren Bedürfnissen also unersättlich. Oder es sind gewisse irrationale, d.h. auf bloßer Einbildung beruhende Ängste, von denen sie besessen sind. Gemeint sind vor allem die Angst vor dem Tod und die Angst vor den Göttern. Sie infizieren alle ihnen von außen her zugetragenen Eindrücke und teilen ihnen diesen eklen Beigeschmack mit – oder, wie es an der anderen Stelle mit einem etwas anderem Bilde heißt: sie färben sie mit einer schwarzen Farbe ein und verhindern so, dass das Angenehme, das trotz allem doch immer auch dabei ist, ihnen nie zu einer reinen, ungetrübten Lust und Freude werden kann.

Der Befund hat also vornehmlich seelische Gründe. Daraus ergab sich, dass Epikurs Therapie eine Psychotherapie sein musste: Es ist die Brust der Menschen, die er durch seine aufklärenden Worte reinigte. Und er schuf dabei Abhilfe in ←24 | 25→beiden Bereichen, welche den Menschen diese psychischen Leiden verursachen, nämlich dem des Begehrens und dem der Angst, und zwar, indem er die Grenze festlegte, innerhalb derer sie gehalten werden müssten (… finem}6 statuit| {cuppedinis7 atque timoris||).

Begehren ist ein Streben nach etwas, was man für ein Gut (bonum) hält. Hier bestand die Hilfe Epikurs darin, dass er darlegte, was das höchste Gut ist, nach dem wir letztlich alle streben, d. h. was von Natur aus das höchste Ziel all unseres Handelns ist8 – das Idealziel wohlgemerkt, dem wir uns, Menschen, die wir nun einmal sind, aber immer nur annähern können, das wir aber nie ganz erreichen können. Es wird von den antiken Ethiken gewöhnlich mit dem Begriff „Glück“ (εὐδαιμονίa / eudaimonía, auch μακαριότης / makariótês; lat. beatitudo) bezeichnet. Was darunter jedoch genauer zu verstehen sei, darüber gab es damals wie heute sehr unterschiedliche Meinungen. Epikur erklärte, es sei ganz schlicht und einfach nichts anderes als „Freiheit von körperlichem Leid und seelischer Beunruhigung“ (ἀπονία καὶ ἀταραξία / aponía kai ataraxía). Das also sei es, wonach wir letztlich alle immer zielen, selbst dann, wenn wir andere, nähere, konkretere Güter anstreben. Er wies nun nach, dass dafür eigentlich schon ganz bescheidene und in der Regel leicht erreichbare Güter ausreichen. Das wird hier mit der Metapher des schmalen, unscheinbaren, aber schnell zum Ziel hin führenden Abkürzungsweges umschrieben.9 Alle anderen Güter seien nur überflüssige oder sogar bloß scheinbare Güter, auf die man auch verzichten könne beziehungsweise nach denen zu streben eigentlich sinnlos sei.

Details

Seiten
404
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631847237
ISBN (ePUB)
9783631847244
ISBN (MOBI)
9783631847251
ISBN (Hardcover)
9783631840771
DOI
10.3726/b18035
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Glück Natürliche Bedürfnisse Liebe und Sexualität Äußerer Zwang Zeitlichkeit und Sterblichkeit Familie, Bürgergemeinschaft, Freundschaft Aberglaube und Gottesvorstellung Innerer Zwang Freier Wille Eingebildete Bedürfnisse
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 404 S., 8 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christoff Neumeister (Autor:in)

Christoff Neumeister ist Professor emeritus der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er studierte Klassische Philologie und Philosophie an der Universität Heidelberg und an der Yale University (USA).

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Titel: Begehren, Angst – und nüchterne Vernunft: Epikureische Psychologie und Ethik nach griechisch-römischen Texten
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