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Von «schöner Vielfalt» zu prekärer Heterogenität

Bildungsprozesse in pluraler Gesellschaft

von Bettina Brandstetter (Band-Herausgeber:in) Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in) Ulrike Greiner (Band-Herausgeber:in)
©2021 Sammelband 698 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Sammelband mit Beiträgen der interdisziplinären Tagung «Von ‹schöner Vielfalt› zu prekärer Heterogenität» (Universität Salzburg, 2017) fragt danach, wie Bildungsprozesse in einer pluralen Gesellschaft möglich sind. Die entscheidende Herausforderung ist nicht eine «schöne Vielfalt», sondern eine prekäre Heterogenität, die den Zusammenhalt und die Verständigung in der gegenwärtigen Gesellschaft in Frage stellt. Ein zentrales Ergebnis dieser interdisziplinären Auseinandersetzung besteht in der Erkenntnis, Heterogenität als Chance zu sehen und Bildungsprozesse im Kontext (inter-)kultureller und sozialer Spannungen zu ermöglichen. Bildung heißt, sich verschiedenen, ja widersprüchlichen Erfahrungen und Lebenskontexten zu stellen und von daher eine neue Qualität von Wissen, Kritikfähigkeit und Lernkompetenz zu entwickeln.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort (Bettina Brandstetter/Franz Gmainer-Pranzl/Ulrike Greiner)
  • Tagungsbeiträge
  • Vielfalt und Ungleichheit in Schule und Unterricht. Konzeptklärungen, empirische Befunde und Überlegungen zum konstruktiven Umgang mit Heterogenität (Alois Buholzer)
  • Fragmentierung und Differenzierung in der Rechtfertigung öffentlicher Herrschaft. Öffentliche Gewalt zwischen schöner Vielfalt und prekärer Heterogenität* (Stephan Kirste)
  • Wer hat hier die Definitionsmacht? Subjektivierungen und ihre Ordnungen in der interkulturellen Bildungspartnerschaft (Bettina Brandstetter)
  • Zum Umgang mit studentischer Diversität an der Paris Lodron Universität Salzburg: Empirische Studienergebnisse zu Erfahrungen von Inklusion und Exklusion (Wolfgang Aschauer/Manfred Oberlechner-Duval)
  • Strukturelle Heterogenität und fragmentierende Entwicklung: Zur Relevanz eines entwicklungspolitischen Konzepts für die Analyse neoliberaler Globalisierung (Stefanie Hürtgen)
  • Kategoriale Heterogenität und/oder relationale Differenz: Bildungsforschung und Lehrerhandeln im Dialog – Theoretische Zugänge praxeologisch verstehen (Ulrike Greiner)
  • Weitere Beiträge
  • Bildungstheorie – zwischen Empirie und Philosophie (Oskar Dangl)
  • Bildung und Kultur. Zur Beziehung zweier umkämpfter Begriffe und deren Bedeutung für die Herausforderungen gesellschaftlicher Pluralität (Barbara Schellhammer)
  • Lernen und Leistung sind verschieden: Was Lehrpersonen darüber wissen und wie man ihr Wissen hierzu erforscht (Fabio Nagele/Ulrike Greiner/Michaela Katstaller)
  • Vielfalt in Österreichs Klassenzimmern: Eine datenbasierte Anamnese und ein evidenzorientierter Ausblick (Claudia Schreiner/Christian Wiesner)
  • Bildungsungleichheiten aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive (Nancy Andrianne)
  • (Re-)Produktion von Prekarität durch exkludierende und diskriminierende Differenzsetzungen in und außerhalb von Klassenzimmern – ungenützte Wege zur Produktion von Bildungsgerechtigkeit (Renate Hofer-Truttenberger/Thomas Schlager-Weidinger)
  • Gesellschaftskonstruktionen von Pädagogik in der Migrationsgesellschaft als kritischer Aufklärungsdiskurs (Manfred Oberlechner-Duval)
  • Subjekt – Medium – Migration. Zum migrantischen Selbstentwurf im medialen Rahmen und seine Bedeutung im schulischen Handlungskontext (Doreen Cerny)
  • Archaisierende Männlichkeiten, Antiislamismus und der Körper der Frauen (Gabriele Sorgo)
  • Das Menschenrecht auf Bildung in tertiären Bildungseinrichtungen mit dem Fokus auf Studierenden mit Behinderungen – ein Bericht aus der Praxis (Christine Steger)
  • Global Citizenship Education – Bildung für eine pluriverse Welt? (Julia Schöneberg)
  • Religionsunterricht als Werkzeug der Integration im Kontext gesellschaftlicher Heterogenität (Andreas Graßmann)
  • Schulischer Religionsunterricht in der Schweiz zwischen konfessionellem Paradigma und öffentlicher Schule (Barbara Koller)
  • Islamische Religionspädagogik im pluralen Kontext (Mevlida Mešanović)
  • Verunsicherungskompetenz. Interreligiöse Spiritualität im hochschuldidaktischen Handeln1 (Ursula Rapp)
  • Die Wahrheit Gottes in den Zwischenräumen suchen. Über die Epistemologie interkultureller Theologie (Claudia Jahnel)
  • Gesellschaftliche und religiöse Heterogenität als Lernfeld interkultureller Theologie (Franz Gmainer-Pranzl)
  • Präsentationen von Nachwuchswissenschaftler*innen bei der Tagung
  • Fremdheitserfahrungen als Anlass für Bildungsprozesse? (Cornelia Brandstötter/Ricarda Gugg)
  • Den Religionsunterricht weiterdenken. Schulischer Religionsunterricht zwischen konfessioneller Verortung und gesellschaftlicher Vielfalt (Matteo Carmignola)
  • Rechtspopulismus als Gefahr für die Demokratie? Herausforderung und Bedeutung für die Politische Bildung (Christina-Marie Juen)
  • Rassismustheorien, Orientalismus und Postcolonial Theories und ihre Relevanz für die Interkulturelle Pädagogik (Amin Elfeshawi)
  • Anhang
  • Programm der Tagung
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

Bettina Brandstetter/Franz Gmainer-Pranzl/Ulrike Greiner

Vorwort

Die seit Jahren geführte bildungspolitische Diskussion über die Reform von Schultypen, über das Lehramtsstudium, über die Kompetenzorientierung der Curricula sowie über die Qualität von Lehr- und Lernprozessen ist nicht bloß als (hoch)schulorganisatorische Auseinandersetzung zu begreifen, sondern als Antwort auf tiefgreifende Transformationsprozesse der Gesellschaft, die vor allem durch Heterogenität gekennzeichnet sind. Die Pluralisierung von Lebensformen, Weltanschauungen, Erwartungen an Bildungsinstitutionen, politischen Einstellungen, kulturellen Traditionen und religiösen Orientierungen, die Herausforderungen und Folgen von Migration, neue Formen von Identitätskonstruktion, von Kultur- und Religionspolitik sowie der Einfluss neuer Medien auf das Verhalten und Denken vieler Menschen führen unweigerlich zur Frage, was „Bildung“ angesichts solch gesellschaftlicher Umbrüche bedeutet. An die Stelle traditionaler Lebensformen und moderner Selbstverständlichkeiten ist nicht nur eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) getreten, sondern eine Erfahrung von Heterogenität im Sinn einer radikalen Pluralisierung und Widersprüchlichkeit, die sich nicht mehr auf den gemeinsamen Nenner eines gesellschaftlichen oder kulturellen Konsenses bringen lässt. Bildungsprozesse sind heute auf allen Ebenen, in unterschiedlichen Schultypen sowie in universitären Lehr- und Forschungseinrichtungen dazu herausgefordert, sich verschiedenen, ja widersprüchlichen Erfahrungen, Lebensbedingungen und Wissenskulturen zu stellen und auf diese Weise eine neue Qualität von Wissen, Kritikfähigkeit und Lernkompetenz zu generieren, die einer Wissensgesellschaft im Zusammenhang unaufhebbarer Heterogenität angemessen ist.

In einer Tagung der Reihe „Salzburger interdisziplinäre Diskurse“ griffen die School of Education und das Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen am 30.11./01.12.2017 die genannten Herausforderungen gesellschaftlicher Heterogenität auf und setzten sich vor allem mit folgenden Fragen auseinander:

Die beiden Organisationseinheiten der Universität Salzburg, die gemeinsam diese Tagung durchführten, begegnen der Herausforderung „Heterogenität“ sowie der Aufgabe, Bildungsprozesse in einer pluralen Gesellschaft zu ermöglichen, auf ihre je eigene Weise.

Die School of Education, eine zentrale Plattform für die Lehrer*innenbildung an der Universität Salzburg, setzt sich neben der Organisation des Lehramtsstudiums auch wissenschaftlich mit den Fragen des Lehrens und Lernens – schulisch und universitär – und der Gestalt von Lehrer*innenbildung auseinander. Die Vielfalt der gesellschaftlichen und schulischen Anforderungen an künftige Lehrpersonen korrespondiert mit der Vielfalt der Erwartungen, Kompetenzen und Lebensformen von Menschen, die sich für den Lehrer*innenberuf entscheiden und ins Studium eintreten. Eine große Aufgabe ist das Finden der Balance zwischen Standards des Studiums und individuellen Bedürfnissen, zwischen den unverzichtbaren Wissens- und Könnensbereichen und den persönlichen Talenten und Interessen der Studierenden, welche im besten Fall im Studium zusammenkommen und ein neues „Ganzes“ ergeben. Auch inhaltlich-curricular sind Pluralität, Heterogenität und Differenz große Themen: Der Umgang mit der Heterogenität der Schüler*innenschaft hinsichtlich ihrer Lebenslagen, Motivationen und Leistungen erfordert dabei Fähigkeiten, die über „Unterricht halten“ weit hinausgehen. Es bleibt das zentrale Ziel, die künftigen Lehrpersonen in ihrer Entwicklung zu Differenz- und Urteilsfähigkeit umfassend zu unterstützen, damit sie in komplexen Schul- und Klassensituationen gelungene Bildungsverläufe von Schüler*innen positiv und nachhaltig mitgestalten können.←10 | 11→

Das Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen beleuchtet – auf dem Hintergrund der Forschungsplattform „Kulturen, Religionen und Identitäten: Spannungsfelder und Wechselwirkungen“ der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg – die reziproken Beziehungen und Einflüssen zwischen Religion(en) und Gesellschaft und nimmt dabei besonders die kulturelle Heterogenität sowohl der Gesellschaft als auch des globalen Christentums sowie die Inkongruenz unterschiedlicher religiöser Heils- und Wahrheitsansprüche in den Blick. Wie bereits Texte und Positionen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) zeigen, die für viele theologische Ansätze nach wie vor eine wichtige und inspirierende Vorgabe bilden, kann die theologische Reflexion in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Vielfalt, Komplexität und auch Widersprüchlichkeit Entscheidendes lernen und dadurch zu einer differenzierten und (selbst-)kritischen Bearbeitung aktueller Problemstellungen beitragen – eine Lernerfahrung sowie ein Auftrag, der insbesondere für „Theologie Interkulturell und Studium der Religionen“ von Bedeutung ist.

Dass die interdisziplinäre Tagung sowie die Publikation dieses Sammelbandes möglich wurden, verdanken wir Kolleg*innen, die uns organisatorisch unterstützt haben, vor allem Till Mayrhofer von der School of Education, den Vortragenden bei der Tagung, allen Autorinnen und Autoren unseres Sammelbandes sowie den Studierenden, die bei der Tagung ein Paper präsentierten. Ein großer Dank gilt Marina Teixeira und Elisabeth Höftberger für ihre Hilfe bei der Bearbeitung des Manuskripts. Ganz besonders danken wir schließlich allen Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und Arbeitsbereichen, die durch ihre Vorträge, Texte und Anregungen, aber auch durch ihre Kritik und alternative Perspektiven einen wichtigen Beitrag zum Gelingen dieses interdisziplinären Tagungs- und Publikationsprojekts geleistet haben.

Salzburg, im Oktober 2020

Bettina Brandstetter/Franz Gmainer-Pranzl/Ulrike Greiner

Alois Buholzer

Vielfalt und Ungleichheit in Schule und Unterricht. Konzeptklärungen, empirische Befunde und Überlegungen zum konstruktiven Umgang mit Heterogenität

Abstract: Diversity and social inequality challenge the education system. This contribution clarifies the concepts underlying the key terms pertinent to this subject matter. The focal point is a concept of heterogeneity on the basis of which the opportunities and risks afforded by the interplay of dimensions of heterogeneity relevant to education are analysed. It raises issues, including that of social inequality, from a critical perspective and with reference to the findings of education research. Theoretical clarifications and empirical findings lead on to the question of how schools, or indeed the education system, ought to be structured, and what qualifications should be expected of education professionals so that they are able to use diversity as a resource for education processes and to reduce the inequalities which can disadvantage students.

Keywords: heterogeneity, diversity, social inequality, characteristic orientation, empirical education research

1 Einleitung

Die Heterogenität in schulischen Lerngruppen, die Vielfalt von Lernprozessen und die Ungleichheit der sozialen Herkünfte von Schülerinnen und Schülern fordern das Bildungssystem und seine Akteurinnen und Akteure in erheblichem Maße heraus. Die interdisziplinäre Tagung „Von ‚schöner Vielfalt‘ zu ‚prekärer Heterogenität‘ – Bildungsprozesse in pluraler Gesellschaft“ setzte sich mit dieser Herausforderung auseinander und stellte die Frage, was „Bildung“ angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Transformationsprozesse bedeute. Der vorliegende Beitrag, der auf dem Vortrag an dieser Tagung beruht, nähert sich den Begriffen von Heterogenität, Diversität und sozialer Ungleichheit im schulischen Kontext an. Im Zentrum steht ein Heterogenitätsbegriff, auf dessen Grundlage die Chancen und Risiken des Zusammenspiels von bildungsrelevanten Heterogenitätsdimensionen einem intersektionalen Verständnis folgend analysiert werden. Aus einer kritischen Perspektive werden mit Bezug auf Ergebnisse der Bildungsforschung Fragen zur sozialen Ungleichheit aufgeworfen. Des Weiteren werden ausgewählte Studien der vorwiegend ←15 | 16→quantitativ orientierten Bildungsforschung referiert, die sich im Hinblick auf einen angemessenen Umgang mit Heterogenität mit den Werthaltungen und beruflichen Einstellungen von Lehrpersonen befasst haben. Die theoretischen Klärungen und empirischen Befunde münden in die Frage, wie die Schule bzw. das Bildungssystem ausgestaltet sein sollte und über welche Voraussetzungen (angehende) Lehrpersonen verfügen sollten, um Vielfalt als Ressource für Bildungsprozesse nutzen zu können und Ungleichheiten, die bei den Schülerinnen und Schülern zu schulischem Misserfolg führen, zu reduzieren.

2 Heterogenität und Diversität in Schule und Unterricht

Der Begriff „Heterogenität“ ist in der Allgemeinen Pädagogik, in der Bildungstheorie und in der Didaktik des Schulunterrichts seit längerer Zeit und in verschiedenen Zusammenhängen präsent. Hinsichtlich der Allgemeinen Pädagogik wird häufig auf Johann F. Herbart verwiesen, der den rechten Umgang mit der „Verschiedenheit der Köpfe“ als die Herausforderung in Schule und Bildung bezeichnet hatte.1 In bildungstheoretischen Zusammenhängen wiederum werden die Entfaltung der individuellen Bildungspotenziale sowie die Entwicklung von Individualität und der je eigenen Persönlichkeit als bedeutungsvolle Erziehungs- und Bildungsziele genannt.2 Angesichts dieser Ziele kann die Schule als Institution verstanden werden, die den Auftrag hat, Individualität zu fördern und Heterogenität dadurch indirekt gleichsam herzustellen. Spätestens seit den 1980er- und 1990er-Jahren ist der Heterogenitätsbegriff auch aus pädagogischen und didaktischen Konzeptionen nicht mehr wegzudenken. Prägnante Formeln wie „Homogene Lerngruppe als Fiktion“3, „Heterogenität – es ist normal verschieden zu sein“4, „Alle gleich – alle unterschiedlich“5 oder „Schule für alle Kinder“6 prägen die einschlägige Diskussion und eine Vielzahl von Modellen und Konzepten für Schule und Unterricht. Im Bildungskontext wird der Begriff „Heterogenität“ zunehmend mit dem in den englischsprachigen Ländern häufig anzutreffenden Begriff „Diversität“ erweitert.7 Entsprechend ←16 | 17→liegen Konzepte einer „Pädagogik der Diversität“8, einer „Diversity Education“9 oder einer „Antidiskriminierungspädagogik“10 vor.

Heterogenität bildet den Gegenpol zu Homogenität und ist das Ergebnis eines Vergleichs eines bestimmten Merkmals mit einem bestimmten Maßstab.11 Der Begriff „Heterogenität“ wird auch mit „Vielfalt“ oder „Ungleichheit“ gleichgesetzt, wobei sich soziale Ungleichheit primär auf Unterschiede in der sozioökonomischen Herkunft bezieht und Vielfalt als Ressource, zum Beispiel für Lernprozesse, eingestuft wird.12 Aktuelle Auffassungen gehen davon aus, dass Eigenschaften, die im Zusammenhang mit Heterogenität diskutiert werden, keine im essentialistischen Sinne wesentliche Eigenschaften sind, sondern sozial und kulturell konstruiert sind, weshalb sie als relativ und wandelbar charakterisiert werden können.13 Prengel verdeutlicht dieses Verständnis von Heterogenität in ihrer historischen Übersicht, indem sie aufzeigt, dass Heterogenität immer abhängig vom Zeitgeist gedeutet worden ist.14 So wurden je nach Epoche unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität diskutiert, und es wurde unterschiedlich bewertet, wie darauf – exklusiv, integrativ oder inklusiv – zu reagieren sei.

Während der Heterogenitätsbegriff Verschiedenheit auf der Basis eines Vergleichs fokussiert und eine Beobachterin oder einen Beobachter annimmt, die bzw. der quasi extern den Vergleichshorizont festlegt, verweist der in der quantitativ orientierten Bildungsforschung seltener verwendete Begriff der Alterität auf eine Wahrnehmung von singulärer Andersheit, die sich nicht oder kaum vergleichen lässt und die Beobachterinnen und Beobachter nicht neutral zurücklässt, sondern diese in ihrer Selbstdefinition affiziert. Während Heterogenität somit auf der Basis eines kategorialen Vergleichs kodiert wird, beruht Alterität auf einer rekonstruktiven (qualitativen) Analyse, da das singulär Andere als solches rekonstruiert werden muss.

Die unterschiedlichen Deutungen des Heterogenitätsbegriffs – auch in Abgrenzung zur Alterität – sind Ausdruck davon, dass nach wie vor nicht von einer einheitlichen und konsistenten Auffassung dessen, was Heterogenität ←17 | 18→beinhaltet, ausgegangen werden kann.15 Sowohl auf konzeptioneller Ebene als auch in der institutionellen Umsetzung sind zum Heterogenitätsbegriff immer noch verschiedene Fragen offen. Wie wird zum Beispiel die Basis für den kategorialen Vergleich im Bildungskontext definiert, und welches sind die für die Bildung relevanten Kategorien? Beziehen sich die konstatierten Unterschiede auf ein und dasselbe Individuum, oder geht es um Unterschiede, die untrennbar mit situationsbezogenen Merkmalen bzw. mit anderen Individuen verknüpft sind? Werden „Unterschiede“ essentialisierend als „gegeben“ (und daher als nicht oder kaum veränderbar) oder im Gegenteil als sozial konstruiert (und daher als wandelbar) angesehen? Welche Unterschiede wären für Bildungsprozesse relevant, um auf dieser Grundlage Bildungskonzepte zu entwickeln?

Bei den institutionellen Praktiken im Umgang mit Heterogenität kommt hinzu, dass die Schulorganisation in ihrer Grundstruktur traditionellerweise am Spannungsfeld zwischen Selektion und Homogenisierung von Bildungsprozessen einerseits und Förderung von Vielfalt und so jeder Einzelnen und jedes Einzelnen andererseits ausgerichtet ist.16 Homogenisierende Tendenzen liegen dann vor, wenn Kinder und Jugendliche generell auf ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler reduziert und somit „vergleichbar gemacht“ werden. Homogenisierung soll erreicht werden, indem Schülerinnen und Schüler mit ähnlichem Leistungspotenzial in Gruppen mit ähnlichen Anforderungen zusammengefasst oder indem Schülerinnen und Schüler in Jahrgangsklassen gruppiert werden. Homogenisierende Tendenzen sind feststellbar, wenn Kinder und Jugendliche kategorisiert und gelabelt werden, in paradoxen Konstellationen mitunter auch deshalb, damit zusätzliche Ressourcen, beispielsweise für Lektionen in Deutsch als Zweitsprache oder für spezifische Förderangebote, beantragt werden können. Und wenn Normvorstellungen nicht eingehalten werden, reagieren Schulen bzw. Lehrpersonen häufig mit kompensatorischen Maßnahmen, um Schülerinnen und Schüler mit dem Schulsystem „kompatibel“ zu machen, oder sie lagern die „Fälle“, die der Logik der Homogenität nicht entsprechen, an spezialisierte Fachpersonen und Institutionen aus.

Durch gängige institutionelle Praktiken werden aber auch bewusst Unterschiede hergestellt, indem Schülerinnen und Schüler Bildungsabschlüssen mit mehr oder weniger hohem Status zugeführt werden, die dann zu unterschiedlichen Berechtigungen führen, was zum Beispiel den Besuch von weiterführenden (Hoch-)Schulen betrifft. Die Schule produziert – so gesehen – selbst ←18 | 19→Differenz. Homogenisierende und heterogenisierende Tendenzen kommen in Schule und Unterricht somit gleichermaßen vor, was komplexe Anforderungen an das Lehrhandeln stellt.17 Dieser widersprüchliche Umgang mit Heterogenität ist Ausdruck von Antinomien, die sich auch in den Spannungsfeldern zwischen Selektion und Förderung, individuellen Lernausgangslagen und einheitlichen Lernzielvorgaben oder prozessorientierter und ergebnisorientierter Leistungsbeurteilung konkretisieren.18 Ein weiteres grundlegendes Spannungsfeld im Umgang mit Heterogenität zeigt sich zwischen Merkmalsorientierung und Individuumsorientierung.

Heterogenität: Merkmalsorientierung und Individuumsorientierung

Bei der Merkmalsorientierung werden Unterschiede wahrgenommen und konstruiert, die zu dichotom abgrenzbaren Gruppen führen: Mädchen und Jungen, Kinder mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund, Kinder mit und ohne speziellen Förderbedarf, Kinder mit besonderen Begabungen und ohne besondere Begabungen. Die pädagogischen Schlussfolgerungen, die aus solchen Dichotomien abgeleitet werden, laufen in der Regel darauf hinaus, das jeweilige Unterscheidungsmerkmal hinsichtlich von Erziehungs- und Bildungsprozessen als relevant einzustufen. In der Folge werden spezifische, auf das jeweilige Merkmal hin abgestimmte Reaktionen konzipiert.19

Diese erste Grundposition führt zur Ausdifferenzierung einer Institution, indem zum Beispiel Förderstunden für Kinder mit besonderem Förderbedarf eingeplant, Kurse in Deutsch als Zweitsprache bereitgestellt oder Werkstätten und Ateliers für besonders begabte Kinder angeboten werden. Charakteristisch für diese Grundposition ist zudem, dass Lehrpersonen für diese spezifischen Angebote speziell ausgebildet werden, so beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer für Deutsch als Zweitsprache oder Begabungsförderung, Heilpädagoginnen und Heilpädagogen etc.

Als Konsequenz für das einzelne Kind führt die Dichotomisierung zu einer Reduktion auf ein bestimmtes Merkmal. So wird das Kind auf die Rolle der „hochbegabten Schülerin“, des „Kindes mit Migrationshintergrund“ oder des „Schülers mit Förderbedarf“ reduziert. Aufgrund dieser Zuschreibung wird das Kind sodann einem bestimmten Förderangebot zugewiesen. Aus pädagogischer Sicht ergibt es oftmals keinen Sinn, sich auf solche schematisierenden ←19 | 20→Einteilungen zu verlassen. Lehrpersonen ist diese Problematik häufig bewusst, und es ist ihnen klar, dass bei solchen Zuschreibungen in vielen Fällen ein unreflektiertes Normalitätsprinzip zur Anwendung gelangt: Die Abweichung vom gesetzten Normalzustand wird als Störung oder Auffälligkeit wahrgenommen, welche es durch besondere pädagogische oder organisatorische Maßnahmen zu beheben gilt. Zudem wird außer Acht gelassen, dass bei jedem Kind verschiedene Merkmale gleichzeitig vorhanden sind und dass diese zu bestimmten Konfigurationen führen. So weist beispielsweise ein Kind mit Migrationshintergrund nicht nur dieses Merkmal auf, sondern es hat auch eine soziale Herkunft, ein bestimmtes Alter, ein Geschlecht, ist unter Umständen hochbegabt etc. Die Berücksichtigung solcher Konfigurationen führt zur zweiten Grundposition.

Die Individuumsorientierung geht bei der Wahrnehmung von Unterschieden von mannigfaltigen Ausprägungen eines bestimmten Merkmals aus. Diese Ausprägungen liegen irgendwo auf einem Kontinuum mit zwei Endpunkten und lassen sich nicht dichotom entweder der einen Kategorie oder der anderen Kategorie zuordnen. Vielmehr steht der Grad der Ausprägung im Vordergrund, was bedeutet, dass ein Kind mehr oder weniger begabt sein kann oder mehr oder weniger durch den Migrationshintergrund (seiner Herkunftsfamilie) beeinflusst wird. Folglich kann auch das Ziel von Erziehung und Bildung nicht allgemein verbindlich und für alle vorgedacht und definiert werden. Vielmehr soll jede Person so gut allgemeingebildet werden, wie dies möglich ist,20 wobei ein bestimmtes Mindestmaß von Bildung in sogenannten „Schwellenkonzeptionen“ von gerechter Bildung für alle abgesichert werden soll.21 An die Stelle der Betrachtung eines Merkmals tritt somit die Wahrnehmung der individuellen Ausprägung verschiedener Merkmale. Im Begriff der Intersektion werden das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener Merkmale sowie deren gegenseitige Beeinflussung zusammengefasst: „Damit werden die zu erziehenden und zu bildenden Personen in ihrer jeweiligen Verschiedenheit gesehen: Mädchen und individuelle Begabungsstrukturen und spezielle Bedürfnisse und ein spezifischer ethnischer, sprachlicher, kultureller, religiöser, sozialer usw. Hintergrund“22.

Das gleichzeitige Auftreten von Merkmals- und Individuumsorientierung ist Ausdruck der Strukturprobleme des Bildungssystems. Sie bilden zusammen ←20 | 21→mit den anderen oben genannten Antinomien den Rahmen für die Ausgestaltung und die Reflexion des pädagogischen Lehrhandelns. Diese Spannung konkretisiert sich beispielsweise in der diagnostischen Reduktion auf einzelne Merkmale wie die Schulleistung oder die Motivation einer Schülerin oder eines Schülers, die im Gegensatz zum Versuch steht, eine „ganzheitliche“ Sicht auf die Schülerin bzw. den Schüler einzunehmen. In ihren beruflichen Tätigkeiten erleben Lehrpersonen dieses Spannungsfeld als zwei Welten, zwischen denen ein oftmals unüberwindlich scheinender Graben liegt. Bevor wir auf konkrete Handlungsmöglichkeiten zu sprechen kommen, die sich diesbezüglich ergeben (Abschnitt 3), werden zunächst noch weitere Konzepte im Umfeld des Heterogenitätsbegriffs geklärt und sich darauf beziehende empirische Befunde ausgeführt.

Diversität

Wie in Abschnitt 2 bereits erwähnt, stellt der Begriff „Diversität“ eine Erweiterung des Heterogenitätsbegriffs dar. So fasst die Studie von Fischer, Rott und Veber Heterogenität in Anlehnung an Sliwka als „Zwischenschritt“ im Kontinuum zwischen den beiden Polen der Homogenität und der Diversität auf.23 Die Bestimmung von Heterogenität beruht mithin auf kategorialen Unterscheidungen, die sich daraus ergeben, dass zwischen mehr oder weniger, zugehörig oder nicht zugehörig differenziert wird. Genau genommen müsste man im schulischen Kontext im Plural von „Heterogenitäten“ sprechen, denn Verschiedenheit lässt sich entlang verschiedener Dimensionen (z. B. Geschlecht, schulische Leistung, Motivation, sozioökonomische Herkunft) bestimmen. Zentral ist dabei nicht nur das eingeschätzte Ausmaß von Heterogenität entlang jeder einzelnen relevanten Dimension – wie dies die Merkmalsorientierung nahelegt –, sondern auch und insbesondere das am Individuum orientierte Zusammenspiel dieser Heterogenitäten.

Mit dem Konzept der Diversität wird dieses individuumsorientierte Heterogenitätsverständnis konsequent weitergeführt, indem „die Persönlichkeit als eine individuelle, lebensweltlich entstandene Kombination von Zugehörigkeiten“24 verstanden wird. Aufgrund dieser spezifischen Kombinationen sind Individuen als in hohem Maße divers anzusehen. Eindimensionale (kategoriale) Vergleiche sind unter dieser Perspektive sinnlos, da es um eine andere ←21 | 22→Form von „Zusammensehen“ geht – nicht mehr im Modus des Vergleichs, sondern entweder im Modus des Nebeneinanders oder im Modus der Zugehörigkeit hinsichtlich grundlegender Gemeinsamkeiten (die nicht mehr von individuellen Merkmalen abhängen, sondern von der „Gattung“ Mensch an sich). Folglich geht es sowohl darum, in der gesellschaftlichen Pluralität die „tiefgreifenden Differenzen“ zu sehen und aus den Erfahrungen mit dem „Fremden“ zu lernen, als auch darum, die bedeutungsvollen Gemeinsamkeiten zu erkennen und aus den Erfahrungen der Vertrautheit zu lernen.

Kappus und Kummer Wyss greifen dieses Verständnis von Diversität in Anlehnung an das Diversitätsmodell von Gardenswartz und Rowe auf und adaptieren es an den Bildungskontext.25 Sie situieren Diversität in der Dialektik von Gleichheit und Differenz, veränderlichen und unveränderlichen Merkmalen, wünschenswerter Vielfalt und zu überwindender Ungleichheit, bildungsrelevanten und bildungsirrelevanten Aspekten sowie zwischen Individuum und Gruppe. Dieses Modell ist hilfreich, um die Diversitätssensibilität im Umgang mit den genannten Spannungsfeldern zu untersuchen und vor allem um Konstellationen zu identifizieren, die zu unterschiedlich verteilten Privilegien oder zu Benachteiligungen führen. Soziale Identitäten und Zugehörigkeiten werden deshalb nicht nur als „Diversitätskategorien“ aufgefasst, sondern auch als Produkte von Herrschaftsverhältnissen.26 Rassismus und weitere Diskriminierungen werden dementsprechend aus der Perspektive von Machtverhältnissen analysiert und kritisch diskutiert. Im Zusammenhang mit dieser kritischen Diversitätsperspektive werden insbesondere soziale Ungleichheiten thematisiert, die durch Vorurteile und Stereotype reproduziert und durch institutionelle Mechanismen zusätzlich verstärkt werden können.27

Soziale Ungleichheit

Soziale Ungleichheiten ergeben sich aus Unterschieden in der sozioökonomischen Herkunft und hängen häufig mit Mechanismen der Diskriminierung und der Verletzung von Chancengerechtigkeit zusammen.28 Solche „Ungleichheiten“ sollen möglichst überwunden werden, da sie oftmals zu Schulversagen und damit zu schulischem Misserfolg führen.29 Die Entstehung von sozialer ←22 | 23→Ungleichheit kann zum einen mit Verweis auf die Handlungslogik der Betroffenen erklärt werden, beispielsweise wenn Eltern und ihre Kinder sich bewusst gegen eine höhere Schulbildung entscheiden und dabei auch rationale Gründe für ihre Entscheide benennen können. Es kann zum anderen aber auch sein, dass Ungleichheiten durch eine mangelhafte Adaptation der Bildungsangebote an die Bedingungen von Kindern aus Familien in weniger privilegierten Situationen entstehen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die schulischen Erwartungen von der Annahme ausgehen, dass alle Eltern ihre Kinder nach der Schule betreuen können und sie in ihrem Lernen zu unterstützen vermögen.

Zur Erklärung sozialer Ungleichheiten führte Boudon vor über 40 Jahren die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft ein.30 Diese theoretische Unterscheidung prägt bis heute die empirischen Analysen zur Erforschung herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten. Die primären Effekte beruhen auf Einflüssen der sozialen Herkunft, die auf das Lernen der Kinder wirken. So werden Unterschiede in den Lernfortschritten aus dieser Perspektive mit den Bedingungen in den Familien erklärt, die sich bezüglich der jeweils verfügbaren lernrelevanten Ressourcen (z. B. Anregung durch Eltern, Lernumgebung, Spiel- und Lernmaterial) unterscheiden. Im Gegensatz dazu gehen die sekundären Effekte nach Boudon auf Einflüsse der sozialen Herkunft zurück, die sich auf die Bildungsentscheidungen, insbesondere an den Schnittstellen in der Bildungslaufbahn, auswirken.31 Von Bedeutung sind hier somit insbesondere ökonomische Bedingungen in den Familien, welche soziale Ungleichheit reproduzieren. Bourdieu und Passeron weisen demgegenüber auch den Verantwortlichen im Bildungssystem eine aktive Rolle bei der Erhaltung oder gar Verstärkung von Ungleichheit zu.32 Ihnen zufolge ist es das Bildungssystem selbst, das die Ungleichheit aufrechterhält, beispielsweise indem es die „Illusion der Chancengleichheit“ und die Fiktion einer ausschließlich an transparenten und klar festgelegten Leistungskriterien orientierten Selektion aufrechterhält. Dies sei jedoch nicht der Fall, da sich die Verantwortlichen des Bildungssystems, die mehrheitlich den dominierenden Gesellschaftsschichten angehören würden, eher für die Erhaltung herkunftsbedingter Privilegien einsetzen und dadurch auch den Fortbestand von Ungleichheit unterstützen würden. Nach Bourdieu ist es der klassenspezifische Habitus, der entscheidend ist im Hinblick darauf, wie in Selektionsprozessen entschieden ←23 | 24→wird.33 Der klassenspezifische Habitus legt fest, was sich ein Mensch zutraut, welches Verhalten für ihn selbstverständlich ist, über welche Wahrnehmungskriterien er verfügt und wie er zu sich und anderen steht.

In Rückkehr nach Reims beschreibt Eribon, wie Veränderungen im Habitus (im konkreten Fall in demjenigen des Gymnasiasten) Irritationen bei ihm selbst und Abwehr bei der Mutter auslösen konnten. In einer Szene seines autobiografischen Romans führt er aus, wie er als junger Gymnasiast nach Hause gekommen sei und seiner Mutter ein neu gelerntes Gedicht in englischer Sprache vorgetragen habe:

Meiner Mutter habe ich es aber auch zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen und dann studieren konnte. Sie hat es nie ausdrücklich gesagt, aber ich denke, sie sah in mir jemanden, der mit ihrer Hilfe eine Chance wahrnehmen konnte, die ihr selbst verwehrt geblieben war. Ihre enttäuschten Träume konnten sich durch mich verwirklichen. Diese Art der Kompensation rührte aber auch an kaum verheilte Wunden und brachte in ihre eine alte, aufgestaute Bitterkeit hervor. Kurz nach meiner Einschulung im Gymnasium (ich war elf) lernten wir im Englischunterricht einen Weihnachtsreim. Zu Hause angekommen, sagte ich zu meiner Mutter, „Ich hab ein Gedicht gelernt“, und begann es für sie aufzusagen. Ich kann es immer noch: „I wish you a merry Christmas, a horse and a gig, and a good fat pig, to kill next year.“ Der Ärger, ja Zorn stieg so schnell in ihr auf, dass sie mich nicht einmal ausreden ließ. „Du weißt doch ganz genau, dass ich kein Englisch kann“, schrie sie, „sofort übersetzt du mir das!“ Dachte sie, ich wollte mich über sie lustig machen? Sie erniedrigen? Eine Überlegenheit demonstrieren, die schon aus ein paar Monaten Gymnasium resultierte? Ich übersetzte das Gedicht. Sie beruhigte sich schnell. Mir war aber schlagartig klar geworden, dass sich zwischen jenem Außen, welches das Gymnasium und das Lernen darstellten, und dem Innenraum der Familie ein Riss aufgetan hatte, der mit der Zeit nur größer werden konnte.34

In dieser Passage wird deutlich, wie eine „neue“ Welt auf eine „alte“ Welt trifft. Die neue Welt des Gymnasiasten erzeugt bei der Mutter ein starkes Gefühl des Ausgegrenztseins („Ich kann kein Englisch“). Und mehr noch: Sie evoziert auch ein Bedauern hinsichtlich verpasster Bildungschancen. Die Situation löst umgekehrt aber auch beim Gymnasiasten selbst ein Gefühl des Ausgegrenztseins aus, weil ihm die Reaktion seiner Mutter klar zeigt, dass sich ein „Riss“ zwischen den beiden „Welten“ aufgetan hat. Nur durch die „Übersetzungsarbeit“ gelingt es, die Irritationen und die Abwehr (für den Moment) zu reduzieren und eine Brücke zwischen den beiden Welten zu schlagen.

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3 Ausgewählte Ergebnisse der Bildungsforschung

Studien der Bildungsforschung setzen sich mit verschiedenen Aspekten von Heterogenität im schulischen Kontext auseinander und untersuchen ihre Fragestellungen mithilfe von quantitativen und qualitativen Instrumenten. Angesichts der Breite der Forschungsthemen und methodischen Vorgehensweisen werden wir uns mit einer Auswahl primär quantitativ ausgerichteter Untersuchungen befassen. Diese mit quantitativen Methoden arbeitenden Studien stützen sich in der Regel auf große Stichproben und ermöglichen so robuste Analysen, die sich verallgemeinern lassen. Aufgrund der kategorialen Analyseverfahren werden der Merkmalsorientierung entsprechend häufig dichotom abgrenzbare Gruppen (z. B. Kinder mit Migrationshintergrund versus Kinder ohne Migrationshintergrund) gebildet und miteinander verglichen.

In Bezug auf die Reproduktion von sozialer Ungleichheit werfen wir zuerst einen Blick auf die Entwicklung von Fachleistungen von Schülerinnen und Schülern und fragen uns, wie die Schule insbesondere an den Übergängen damit umgeht. Gemäß dem sogenannten „Zürcher Längsschnitt“ lässt sich im Laufe der Schuljahre nicht nur eine Leistungszunahme, sondern auch ein zunehmendes Auseinanderdriften von schulischen Leistungen feststellen.35 Die Lernstände wurden in einer Kohorte von anfänglich 2000 Schülerinnen und Schülern bei Schuleintritt, in der dritten, der sechsten und der neunten Klasse gemessen. Somit können mit diesem Längsschnitt Veränderungen von Schulleistungen während insgesamt neun Schuljahren nachgezeichnet werden. Aufschlussreich ist für unseren Zusammenhang, dass sich die zu Beginn der Studie feststellbare (Leistungs-)Heterogenität trotz „Homogenisierungsversuchen“ (Klassenrepetition, Förderangebote und teilweise Aussonderung) im Laufe des Untersuchungszeitraums vergrößert hat. Dies ist ein Ergebnis, das auch durch die PISA-Ergebnisse bestätigt wurde: Es gelingt mit Selektionsverfahren kaum, die Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarschule passgenau den unterschiedlichen Leistungsniveaus (Schultypen) der Sekundarstufe I zuzuordnen. Die Bandbreite der Leistungen der Schülerinnen und Schüler ist so groß, dass es in den Schultypen zu erheblichen Überschneidungen zwischen den Schülerpopulationen bzw. deren Leistungsvermögen kommt.36 Vereinfacht gesagt können viele der jeweils besseren Schülerinnen und Schüler eines Schultyps mit Grundanforderungen mit den Leistungen schwächerer und mittlerer ←25 | 26→Schülerinnen und Schüler in Schultypen mit höheren Anforderungen mithalten. So unterscheiden sich gemäß der Analyse der Schweizer PISA-Daten 39 % der Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer Leseleistung nicht darin, ob sie die Realschule (d. h. den Schultyp mit Grundanforderungen) oder die Sekundarschule (d. h. den Schultyp mit höheren Anforderungen) besuchen.37 Ähnliches kann auch für Österreich aufgezeigt werden.38

Bezüglich der Hintergründe, die zu solchen ungenauen Zuordnungen und Verzerrungen führen, verfügen wir über verschiedene Hinweise. Bildungsstatistische Analysen und empirische Untersuchungen machen deutlich, dass die Chance, im Vergleich zu anderen auf faire Weise lernen zu können, nicht für alle Kinder und Jugendlichen überall in gleichem Maße garantiert ist. Dies lässt sich daran ablesen, dass Schülerinnen und Schüler aus einem sozioökonomisch ungünstigen Umfeld vermehrt Schultypen mit Grundanforderungen oder separierende Schulangebote besuchen, was in den betreffenden Schulen und Schulklassen zu Anspannungen und Problemlagen führen kann. Selbst bei eher durchschnittlichen Schulleistungen entscheiden sich besser gebildete Eltern aus höheren Sozialschichten wann immer möglich häufiger für höhere Schullaufbahnen als Familien in wenig privilegierten Situationen.39 Die Folge davon ist, dass Schülerinnen und Schüler aus wenig privilegierten Verhältnissen ihre Fähigkeiten bei gleichen Leistungen in vielen Fällen nicht in adäquate Bildungslaufbahnen umsetzen können und tendenziell eine Bildungslaufbahn mit weniger hohen Anforderungen einschlagen.

In einer ethnografisch ausgerichteten Studie erforschte Hofstetter, wie diese Entscheide an der Schnittstelle zwischen Primar- und Sekundarschule zustande kommen, indem er Selektionsprozesse und Praktiken von Lehrpersonen hinsichtlich der Zuweisung zu einem der vier Niveaus der Sekundarschule analysierte.40 Dabei stellte er fest, dass Entscheide, die von den Lehrpersonen bereits vor dem Beginn des Übertrittverfahrens getroffen worden waren, kaum mehr verändert wurden. Nur wenn die Schülerinnen und Schüler „viel bessere“ Noten erzielten als erwartet, wurde eine Korrektur des Übertrittentscheids zugunsten eines anspruchsvolleren Anforderungsniveaus vorgenommen.41 Wenn gewisse Bedingungen vorlagen, zum Beispiel eine Divergenz zwischen ←26 | 27→den askriptiven Statusmerkmalen der Eltern und den schulischen Merkmalen des Kindes, wurde den Eltern ein gewisses Mitspracherecht eingeräumt. Der Ermessensspielraum zugunsten des Kindes wurde dann ausgeschöpft, „wenn sie [die Lehrpersonen] mit den Eltern gemeinsame Wertvorstellungen teilen und ein hohes Maß an gegenseitiger Sympathie vorhanden ist.“42 Daraus kann gefolgert werden, dass sich „Bildungsnähe“ der Familie vorteilhaft auswirkt, weil dann eher ein positiver Selektionsentscheid erwartet werden kann. Wer über Bildung verfügt, akkumuliert Bildung (für die nachfolgende Generation); wer hingegen über wenig Bildung verfügt, tradiert Bildungsarmut an seine Kinder weiter.

Wertvorstellungen und Einstellungen von Lehrpersonen und insbesondere ihre Passung zu denjenigen der Eltern scheinen gemäß den referierten Forschungsergebnissen bei der Reproduktion von Ungleichheit eine hohe Relevanz aufzuweisen. Berufsbezogene Einstellungen bilden eine wichtige Facette der Handlungskompetenz von Lehrpersonen und gehen über das „deklarative und prozedurale pädagogisch-psychologische und disziplinär-fachliche Wissen“43 hinaus. Berufsbezogene Einstellungen üben als „Glaubensbestände“ einer Person „einen kräftigen Einfluss auf die Steuerung des beruflichen Handelns“44 aus und nehmen somit eine „bedeutsame Rolle für die Qualität ihres Berufshandelns“45 ein. Aus diesem Grund dürfte ihnen auch beim Umgang mit Heterogenität eine handlungsleitende Funktion zukommen.

Berufsbezogene Einstellungen basieren auf Lernerfahrungen, wobei insbesondere die berufsbezogenen Einstellungen von angehenden Lehrerinnen und Lehrern meist stark durch eigene Schulerfahrungen geprägt sind. Unter anderem deshalb erstaunt zum Beispiel die große Spannweite der Sensitivität für Gleichheit und Differenz oder für Norm und Normabweichungen nicht. Diese Einschätzung lässt sich etwa mit dem Befund von Schönknecht und de Boer belegen, die mithilfe von problemzentrierten Interviews zu Schul- und Praktikumserfahrungen sowie mit Beobachtungsprotokollen bei Lehramtsstudierenden eine wenig differenzierte Sicht auf die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler nachweisen konnten.46 Oftmals kamen in den Aussagen der an der Studie teilnehmenden Lehramtsstudierenden Polarisierungen und Dichotomisierungen ←27 | 28→zum Ausdruck, beispielsweise in Bezeichnungen wie „normale Kinder“ und „Migrantenkinder“ oder „leistungsschwache und -starke Kinder“.47 In die gleiche Richtung weisen auch die Ergebnisse von Hallitzky und Schliessleder, die feststellten, dass sich angehende Lehrpersonen der migrationsbedingten Heterogenität nicht gewachsen fühlen und daran zweifeln, ob sie zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler angemessen fördern können.48

Eine spezifische Form von berufsbezogenen Einstellungen sind die Einstellungen zur Akkulturation.49 Darunter verstehen wir Orientierungen und Verhaltensweisen einer Person, die sich in ihren alltäglichen interkulturellen Begegnungen zeigen und unter anderem von Machtbeziehungen zwischen privilegierten und benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen beeinflusst werden.50 In der Studie von Andrea Haenni Hoti u. a. wurde der Einfluss von Einstellungen zur Akkulturation von Primarschulkindern und ihren Klassenlehrpersonen auf die Beziehungsqualität, das schulische Wohlbefinden und den Bildungserfolg untersucht. Zu diesem Zweck wurden bei den Einstellungen zur Akkulturation auf Grundlage der Untersuchung von John W. Berry u. a. vier Typen von Einstellungen unterschieden:51 (1) Die Einstellung, sich an der Minderheit zu orientieren (Separation), manifestiert sich in einer Ausrichtung an der Kultur des eigenen Herkunftslands. Im Fragebogen wurden die Kinder zum Beispiel aufgefordert, die folgende Aussage auf einer Skala einzuschätzen: „In der Pause bin ich mit Kindern aus meinem anderen Land zusammen.“ (2) Bei der Einstellung, sich an der Mehrheit auszurichten (Assimilation) bezieht sich die Orientierung auf die dominante Bevölkerungsgruppe (z. B.: „In der Schule gehöre ich zu den Schweizerinnen/Schweizern“). (3) In der multikulturellen Einstellung wiederum kommt ein Interesse an kultureller Vielfalt zum Ausdruck (z. B.: „Ich finde es gut, wenn alle Kinder im Unterricht die verschiedenen Sprachen der Klasse kennenlernen“). (4) Bei der Einstellung der kulturellen Indifferenz ist der kulturelle Hintergrund nicht relevant (z. B.: „In der Schule spielt es keine Rolle, aus welchem Land ich komme“). Bei insgesamt 1112 Schülerinnen und Schülern der 5. Primarklasse von 60 Klassenlehrpersonen wurde geprüft, wie stark sie den Überzeugungen zur Akkulturation zustimmen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Zustimmung der Primarschülerinnen ←28 | 29→und Primarschüler bei der kulturellen Indifferenz und bei der multikulturellen Einstellung am höchsten ausfiel, während sie bei der Mehrheitsorientierung und bei der Minderheitenorientierung weniger stark ausgeprägt war. Die Kinder gaben bei ihren Einstellungen zur Akkulturation somit mehrheitlich an, dass sie sich an der kulturellen Vielfalt orientieren würden oder dass ihnen der kulturelle Hintergrund in der Schule nicht wichtig sei.

In einem weiteren Analyseschritt wurde der Passung bzw. der Differenz zwischen der von den Schülerinnen und Schülern selbst gefühlten (bi)nationalen Identität und der von der Lehrperson zugeschriebenen (bi)nationalen Identität nachgegangen. Wenn Lehrpersonen die bi(nationale) Identität anders wahrnehmen als die Schülerinnen und Schüler selbst, dann äußert sich dies unter anderem in einer Verschlechterung der wahrgenommenen Beziehungsqualität zwischen der Lehrperson und den betreffenden Schülerinnen und Schülern. Ebenfalls untersucht wurden die Passung bzw. die Differenz zwischen den Schülerinnen und Schülern und der Lehrpersonen in Fragen des Sprachgebrauchs. Erhoben wurde dieser Aspekt zum Beispiel mit dem Item „Die Lehrperson findet es gut, wenn ihre Schülerinnen und Schüler in der Pause auch andere Sprachen als Deutsch sprechen“. Die Datenauswertungen gelangten zum folgenden Ergebnis: Wenn der Sprachgebrauch der Schülerinnen und Schüler mit den Erwartungen der Lehrperson übereinstimmt, dann ist die Beziehungsqualität besser.

Neben (1) der Passung zwischen der von Schülerinnen und Schülern gefühlten und der ihnen von Lehrpersonen zugeschriebenen (bi)nationalen Identität und (2) der Passung in der Einschätzung zum Sprachgebrauch in Schule und Freizeit konnte das Forschungsteam weitere Faktoren für eine hohe Beziehungsqualität zwischen Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern bestimmen. Dazu gehören (3) die Anerkennung von Schülerinnen und Schülern durch die Lehrpersonen im Rahmen des multikulturellen Unterrichts, (4) ein gewisses Maß an Mehrheitsorientierung von Schülerinnen und Schülern sowie (5) eine gering ausgeprägte Minderheitenorientierung von Schülerinnen und Schülern, außer bei einer Lehrperson, die kulturelle Vielfalt befürwortet.52

Eine für den Bildungskontext nicht unwesentliche Frage dürfte zudem darin bestehen, wie die Schülerinnen und Schüler selbst mit der Heterogenität ihrer Peers in der eigenen Schulklasse umgehen. Anhand einer in integrativen und nicht integrativen Schulklassen durchgeführten Studie, die sich mit Einstellungen nicht behinderter Kinder gegenüber Kindern mit einer körperlichen ←29 | 30→oder einer geistigen Behinderung befasste, konnten wir zeigen, wie Kinder im Klassenkontext auf ausgewählte behinderungsspezifische Diversitätsdimensionen reagieren.53 An der Studie nahmen insgesamt 463 Kindergartenkinder (Durchschnittsalter 6,07 Jahre), 160 Kinder der 2./3. Primarschulklasse (Durchschnittsalter 8,75 Jahre) und 149 Kinder der 5./6. Primarschulklasse (Durchschnittsalter 11,79 Jahre) teil. Die Einstellungen der Kinder wurden mithilfe von Interviews erhoben, in deren Mittelpunkt das Denken über Ausschlusssituationen stand. Zunächst wurden die Kinder nach ihrer generellen, d. h. situationsunabhängigen Beurteilung des Ausschlusses aufgrund von behinderungsbedingter Differenz gefragt („Was meinst du, ist es richtig oder falsch, behinderte Kinder auszuschließen?“, „Warum?“). Danach wurden ihnen sechs verschiedene Ausschlusssituationen vorgelegt. Die Situationen waren so konstruiert, dass sich ein nicht behindertes Kind entscheiden musste, ob es ein nicht behindertes oder ein behindertes Kind in seine Gruppe aufnehmen wolle („Was meinst du, wen wird x [nicht behindertes Kind] nehmen?“, „Warum?“). Die Situationen wurden nach Behinderungsform (geistige Behinderung versus Körperbehinderung) und nach Ausschlusskontext (schulische, außerschulische und sportliche Gruppenaktivität) variiert. Eine potenzielle Ausschlusssituation wurde zum Beispiel wie folgt beschrieben: „Rahel und ein anderes Mädchen gehen in den Zirkus. Zwei Mädchen aus ihrer Klasse möchten mitkommen: Sandra, ein Mädchen mit einer geistigen Behinderung, und Vanessa, ein Mädchen ohne geistige Behinderung. Es bleibt aber nur eine Eintrittskarte, sodass nur jemand mitkommen kann. Was meinst du, wem wird Rahel die Eintrittskarte geben? Warum? Wie fühlt sich Rahel, falls sie Sandra die Eintrittskarte gibt?“

Situationsunabhängig beurteilten 89 % der Kinder den Ausschluss behinderter Kinder als falsch. 76 % der Kinder begründeten ihre generellen Urteile moralisch, nur 8 % nannten gruppen- oder leistungsorientierte Gründe. Diese Einschätzung änderte sich allerdings, sobald die Kinder bei der Konfrontation mit den sechs Ausschlusssituationen konkret vor die Entscheidung gestellt wurden, entweder das behinderte oder das nicht behinderte Kind zu wählen. In diesen konkreten Situationen erwarteten nur noch 53 % der Kinder, dass die Protagonistin („Rahel“) das behinderte Kind wählen werde. Die Entscheidungen wurden entsprechend weniger moralisch (35 %) und stärker gruppen- oder leistungsorientiert (42 %) begründet. Die weiteren Analysen ergaben klare und ←30 | 31→konsistente Alterseffekte. Die jüngeren Kinder, insbesondere die Kindergartenkinder, verurteilten den Ausschluss behinderter Kinder situationsunabhängig weniger stark als die älteren Kinder (5./6. Primarklasse). Analog dazu zeigte sich bei den Entscheidungen zu den Ausschlusssituationen, dass Kindergartenkinder häufiger einen Ausschluss erwarteten als Primarschulkinder, wobei jedoch nicht in allen sechs Situationen die gleichen Entscheidungen erwartet wurden. In der außerschulischen Situation wurde weniger häufig ein Ausschluss erwartet als in der schulischen und in der sportlichen Situation. Zudem erwarteten die befragten Kinder in der schulischen Situation häufiger den Ausschluss des geistig behinderten Kindes als den Ausschluss des körperbehinderten Kindes, während sich für die sportliche Situation das umgekehrte Muster zeigte. Die Fähigkeit, die Situationen voneinander zu unterscheiden und differenzierte Beurteilungen zum Ausschluss vorzunehmen, nahm mit dem Alter zu. Dies zeigt, dass insbesondere die älteren Kinder (behinderungsspezifische) Differenz und Kontextbedingungen miteinander koordinieren können.

Die im Vorhergehenden referierten Forschungsbefunde zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle Folgendes festhalten: Die Datenanalysen legen erstens den Schluss nahe, dass sich Lehrpersonen vom ersten Schultag an mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler einerseits und mit der selektiven Logik des Schulsystems andererseits konfrontiert sehen. In den vorliegenden Ergebnissen wird deutlich, dass es insbesondere an den Schnittstellen zwischen den Bildungsstufen zu Verzerrungen kommt und die Gefahr besteht, soziale Ungleichheiten durch institutionelle Mechanismen zu reproduzieren. Die Ergebnisse zeigen zweitens, dass sich die heterogenitätsbezogenen Einstellungen der Schülerinnen und Schülern primär an der kulturellen Indifferenz und an der Multikulturalität orientieren. Mangelnde Passung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der Zuschreibung bzw. Selbstwahrnehmung von (bi)nationaler Identität und hinsichtlich des Sprachgebrauchs in Schule und Freizeit führt zu einer Beeinträchtigung der wahrgenommenen Beziehungsqualität. Drittens schließlich liegen Hinweise dazu vor, dass auch die Reaktionsweisen von Schülerinnen und Schülern auf Heterogenität unterschiedlich ausfallen und Einschluss und Ausschluss je nach Situation gleichermaßen in Betracht gezogen werden. Die Beurteilung der (behinderungsspezifischen) Differenz wird von den Kindern mit zunehmendem Alter insofern detaillierter vorgenommen, als die Art der Differenz mit den Kontextbedingungen verbunden wird.←31 | 32→

4 „Heterogenitätsverträgliche“ Strukturen und qualitätsvoller Unterricht

Theoretische Überlegungen wie auch die Ergebnisse der Bildungsforschung lassen darauf schließen, wie ein produktiverer und fairer Umgang mit Heterogenität möglich gemacht werden könnte. Bevor wir uns diesen Überlegungen zuwenden, muss vorausgeschickt werden, dass Schulen Einrichtungen der Gesellschaft sind und deshalb mehrere, zum Teil sich widersprechende Funktionen zu erfüllen haben.54 Infolgedessen gestaltet sich auch der Umgang mit Heterogenität äußerst ambivalent.55

Eine Frage des Systems …

Wenn Schulen das Ziel verfolgen, Vielfalt als Ressource für Lernprozesse zu nutzen und die durch Ungleichheiten in der sozioökonomischen Herkunft erzeugten Benachteiligungen zu reduzieren, sind auch die schulischen Strukturen zu fokussieren und (gegebenenfalls) zu verändern.56 Entsprechend weist von Saldern darauf hin, dass analysiert werden müsse, wo die systemimmanenten Grenzen lägen, bevor man sich über die adäquate Berücksichtigung von Heterogenität im Lehrhandeln Gedanken machen könne.57 Ein angemessener Umgang mit Heterogenität setzt deshalb eine stetige Reflexion der Restriktionen und Selbstrestriktionen auf Schulsystemebene, Schulebene und Klassenebene voraus. Auf der Systemebene werden zum Abbau von prekären Bildungsungleichheiten unter anderem die im Folgenden aufgeführten Maßnahmen diskutiert.

Die frühkindliche Bildung wird als wirksame Strategie zum Abbau von Bildungsungleichheit empfohlen.58 Diese Form der Betreuung ist facettenreich, und entsprechend vielfältig nehmen die Vorschuleinrichtungen ihre Aufgaben auf institutioneller Ebene wahr. Darunter fallen die Integrationsförderung (z. B. von Kindern mit Migrationshintergrund, aus bildungsfernen Familien oder mit Beeinträchtigungen und Behinderung), die gezielte Förderung einzelner Bildungsaspekte (z. B. Sprachförderung), Anregungen für soziales, emotionales und kognitives Lernen, Interventionen bei Problemlagen, Einbezug der ←32 | 33→Eltern und der Lebensumfelder, Verbesserung der kontextuellen Bedingungen beim Aufwachsen etc.59 Studien zeigen, dass sich die Nachteile, die sich durch nicht „bildungssystemkonforme“ Sozialisationskontexte und deren Folgen für das Selbstkonzept, die Leistungsmotivation und das Sozialverhalten ergeben, mithilfe von frühkindlicher Betreuung erfolgreich kompensieren lassen, und dass die Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Herkünften dadurch verbessert werden können. Becker hält diesbezüglich fest: „Je frühzeitiger und je länger sozial benachteiligte Kinder solche Einrichtungen besuchen, und je besser die Qualität der institutionellen Kinderbetreuung ist, desto eher findet ein Chancenausgleich statt.“60

Zur Reduktion von Bildungsungleichheit wird des Weiteren der Ganztagsschule eine hohe Relevanz zugeschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass ergänzende Angebote wie Hausaufgabenbetreuung oder Freizeitaktivitäten hinsichtlich der heterogenen Ausgangsbedingungen eine kompensierende Wirkung entfalten können. Allerdings kann aufgrund der noch weitgehend fehlenden Forschungsbefunde nicht abschließend beurteilt werden, ob und wie Ganztagsschulen wirksam werden. Eine aktuelle Studie aus der Schweiz vermochte mittlerweile zu zeigen, dass eine dauerhafte Nutzung von Tagesschulangeboten in den ersten zwei Schuljahren bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status in Bezug auf die Mathematikleistung einen kompensatorischen Effekt hat.61 Beim Lesen hingegen konnten bei sogenannten „Risikokindern“ aus Familien mit Migrationshintergrund und mit niedrigem sozioökonomischem Status keine besseren Leistungen nachgewiesen werden als bei der Vergleichsgruppe, die kein Tagesschulangebot besuchte.

Handlungsbedarf besteht darüber hinaus vor allem auch im Bereich der Selektion.62 Hinsichtlich der Selektionsfunktion von Schule wird vorgeschlagen, die Zuweisung zu verschiedenen Schullaufbahnen möglichst lange aufzuschieben und Kinder mindestens bis zur 8. oder 9. Klasse gemeinsam lernen zu lassen, weil insbesondere eine frühe Mehrgliedrigkeit der Schulsysteme soziale Bildungsungleichheiten verstärkt.63 Eine spätere Verzweigung von Bildungswegen würde Lehrpersonen die Chance bieten, die Bildungspotenziale von Kindern aus benachteiligten Herkünften zu erkennen und diese stärker zu fördern, ←33 | 34→bevor eine Selektion nach „Leistung“ stattfindet. Um einseitige Festlegungen oder fixe Zuteilungen von Schülerinnen und Schülern zu vermeiden, sind des Weiteren Entwicklungen anzustoßen, welche die Flexibilität und die Durchlässigkeit innerhalb und zwischen den Bildungsstufen erhöhen.64 Außerdem ist in Bezug auf die Ebene der Schulorganisation kritisch zu reflektieren, durch welche strukturellen Vorgaben (z. B. Lehrpläne, Stundentafeln, Bildungswege und Prüfungsordnungen) der konstruktive Umgang mit Heterogenität beeinträchtigt wird.

… und des Lehrhandelns

Damit Lehrpersonen einen angemessenen Umgang mit der Komplexität des Zusammenspiels verschiedenster Heterogenitätsdimensionen finden, sind drei Voraussetzungen zu erfüllen:65 (1) Eine Grundorientierung, aus deren Perspektive Heterogenität nicht nur als „normal“ anzusehen ist, sondern vielmehr die Grundlage von Lernen und Entwicklung darstellt; (2) Fachwissen zu unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Heterogenität und Wissen darüber, was es bedeutet, „anders“ zu sein und nicht genau der „gesellschaftlichen Norm“ zu entsprechen, sowie (3) die Fähigkeit, lern- und schulrelevante Heterogenität differenziert wahrzunehmen, diese zu analysieren und mit Unterrichtshandeln adäquat darauf zu reagieren.66

Wie in Abschnitt 2 ausgeführt, sind Werthaltungen und Einstellungen gegenüber Heterogenität gemäß der vorliegenden empirischen Evidenz für Unterrichtshandeln relevant.67 (Angehende) Lehrpersonen sind deshalb gefordert, sich eingehend mit ihren Einstellungen zu Heterogenität, Differenz und Gleichheit zu befassen. Dazu gehört auch, dass sie sich mit ihren mentalen Modellen auseinandersetzen und diese kritisch auf ihre impliziten und expliziten Annahmen hin befragen, zum Beispiel hinsichtlich kategorialer Verständnisse oder der Vorstellungen über Norm und Normabweichung. Diese Reflexion dient der Entwicklung einer Orientierung für einen angemessenen Umgang mit Heterogenität. Dazu bedarf es „einer Bereitschaft, sich auf die Lernprozesse und Schwierigkeiten der Lernenden einzulassen, des Vertrauens in die Fähigkeit der Lernenden, eigene Lösungswege zu entwickeln, und des ←34 | 35→Rollenverständnisses der Lehrperson als Begleiterin und Unterstützerin der Lernenden auf dem Weg zum zunehmend selbstgesteuerten Problemlösen und selbständigen verantwortungsvollen Handeln“68.

Des Weiteren benötigen Lehrpersonen Fachwissen zu den unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Heterogenität. Sie sollen über fundierte Kenntnisse dazu verfügen, wie individuell Lernen und Entwicklung verlaufen und welche Gefahren mit Normierungsprozessen, Beurteilungsvorgängen und Selektionsaufgaben der Schule verbunden sind.69 Dabei sind zwar stets die widersprüchlichen Aufgaben von Lehrpersonen und die systemimmanenten Einschränkungen zu berücksichtigen, zugleich gilt es aber auch, die Handlungsspielräume, die in der pädagogischen Arbeit liegen, auszuloten und miteinzubeziehen. Problematisiert werden soll das Spannungsfeld zwischen Kategorisierungen und „Ganzheitlichkeit“ wie auch zwischen Merkmalsorientierung und Individuumsorientierung. (Angehende) Lehrpersonen sollen sich zudem mit Ursachen der Benachteiligung und der Entstehung von sozialen Ungleichheiten auseinandersetzen und sich mit Ursachen und Wirkungsweisen von diskriminierenden Formen des Umgangs mit Heterogenität bzw. von Rassismus, Stereotypen und Vorurteilen befassen.

Schließlich sollen (angehende) Lehrpersonen auch in der Lage sein, ihr Unterrichtsangebot so zu gestalten, dass es den individuellen Nutzungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler entspricht und diese bei der Nutzung der Angebote individuell unterstützt werden können. Ein Unterricht, der sich systematisch „an die individuellen Gegebenheiten des Schülers anpasst und die Lernumwelt entsprechend anpasst“, wird als „adaptiver Unterricht“ bezeichnet.70 Diesbezüglich stellt sich den Lehrpersonen die anspruchsvolle Aufgabe, „unter bestmöglicher Berücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Unterrichts (Sachkompetenz), der Wissens- und Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und der situativen Aspekte des Lernens (diagnostische Kompetenz) [und] der optimalen Orchestrierung der Lernsituation (Klassenmanagement) den Unterricht so zu gestalten, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler optimal lernen und verstehen“71.

Beim adaptiven Unterricht geht es nicht darum, die Oberflächenstruktur zu verändern. Dies lässt sich aus Forschungsbefunden schließen, die darauf ←35 | 36→hinweisen, dass individualisierter, differenzierter oder offener Unterricht keinesfalls per se wirksam ist, sondern im Gegenteil mit Blick auf alle Schülerinnen und Schüler intelligent organisiert sein muss.72 Um Lernprozesse bei allen Schülerinnen und Schülern auszulösen und diese wirksam zu begleiten, sind insbesondere die Tiefenstrukturen des Unterrichts umzugestalten. Dabei handelt es sich um empirisch belegte „Basisdimensionen“ der Unterrichtsqualität wie den Grad der kognitiven Aktivierung, die effiziente Klassenführung sowie ein unterstützendes Klassenklima, das vielfältige Bildungsprozesse fördert und Differenzen als Bereicherung wertschätzt.73

Um die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen evidenzbasiert gestalten zu können, sind Forschungsprojekte erforderlich, welche die Wirkungsmechanismen, die beim Umgang mit Heterogenität zum Tragen kommen, gründlich untersuchen. Dabei soll der Fokus möglichst intersektional ausgerichtet sein, damit die bildungsbezogenen Handlungsweisen ökologisch valide abgebildet werden können. Es sind somit Studiendesigns auf der Grundlage der Individuumsorientierung erforderlich, die das Ziel verfolgen, kategoriale Dichotomisierungen zu überwinden und das komplexe Zusammenspiel der Heterogenitätsdimensionen schul- und unterrichtsnah zu erfassen.

Die vorhergehenden Ausführungen zeigen, dass der professionelle Umgang mit Heterogenität keine Frage der einen „richtigen“ Methode oder einer bestimmten Lehrhandlung ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine anforderungsreiche und komplexe Aufgabe, die auf dem Zusammenspiel von heterogenitätsspezifischen Überzeugungen, Fachwissen und konkretem, adaptivem Unterrichtshandeln beruht. Um Lehrpersonen zur erfolgreichen Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgabe zu befähigen und zu ihrer weiteren Professionalisierung beizutragen, bedarf es nach unserem Dafürhalten der Reflexion der systemimmanenten Antinomien und des Auslotens von Handlungsmöglichkeiten, die es ermöglichen, produktiv damit umzugehen. Des Weiteren ist ein systematischer Kompetenzaufbau erforderlich, der Lehrpersonen dazu befähigt, heterogene Lernprozesse differenziert und sensibel wahrzunehmen und reichhaltige Lernangebote bereitzustellen, die sich an den höchst individuellen Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler orientieren. (Angehende) Lehrpersonen sind im Rahmen der Aus- und Weiterbildung fundiert auf diese Aufgaben vorzubereiten. Dadurch können Bedingungen dafür geschaffen ←36 | 37→werden, dass alle Schülerinnen und Schüler ihren Möglichkeiten entsprechend und in fairer Weise lernen und Leistungen erbringen können. Heterogenität bleibt dann nicht einfach ein Schlagwort, sondern wird zum Anstoß, der dazu beiträgt, die Lehr- und Lernkultur an unseren Schulen nachhaltig zu verändern.

Literatur


1Vgl. Herbart, Kleine philosophische Schriften und Abhandlungen.

Details

Seiten
698
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631852927
ISBN (ePUB)
9783631852934
ISBN (MOBI)
9783631852941
ISBN (Hardcover)
9783631847886
DOI
10.3726/b18330
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Erziehungswissenschaft LehrerInnenbildung Bildungstheorie Migrationsgesellschaft Religionsunterricht Interkulturalität Bildungsungleichheit Pädagogik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 698 S., 15 s/w Abb., 18 Tab.

Biographische Angaben

Bettina Brandstetter (Band-Herausgeber:in) Franz Gmainer-Pranzl (Band-Herausgeber:in) Ulrike Greiner (Band-Herausgeber:in)

Bettina Brandstetter studierte Katholische Theologie und Religionspädagogik an der KTU Linz und an der Universität Salzburg. Sie ist Universitätsassistentin post doc am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Franz Gmainer-Pranzl studierte Katholische Theologie und Philosophie in Linz, Innsbruck und Wien. Er ist Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen. Ulrike Greiner studierte Germanistik, Pädagogik und Religionspädagogik an den Universitäten Salzburg und Innsbruck. Sie arbeitet als Bildungswissenschaftlerin in der LehrerInnenbildung und ist Professorin für Professionsforschung an der Universität Salzburg sowie Leiterin der School of Education.

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Titel: Von «schöner Vielfalt» zu prekärer Heterogenität
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