Lade Inhalt...

Polonica non leguntur – Polnisches liest man nicht? Zur Geschichte des schwierigen deutsch-polnischen Verhältnisses

Ein Essay

von Erhard Brödner (Autor:in)
©2021 Monographie 224 Seiten

Zusammenfassung

Ausgangspunkt ist die zur Literatur anderer europäischer Länder besonders ab dem 19. Jahrhundert auffällige Zurückhaltung des deutschen Lesepublikums in der Rezeption polnischer Literatur. Dargestellt werden die allgemein bekannten, aber auch weniger bis kaum bekannten, vor allem geschichtlichen Gründe hierfür und die dann nach dem totalen Stillstand 1945 langsam einsetzenden gemeinsamen Bemühungen, in jeder, besonders auch kultureller Hinsicht, aus dem absoluten Tiefpunkt im deutsch-polnischen Verhältnis herauszukommen; wofür ein besseres gegenseitiges Verständnis durch einen vertieften kulturellen Austausch, das Kennenlernen der gemeinsamen Geschichte mit Empathie und Eingehen auf die jeweils andere Mentalität zu den wichtigsten Voraussetzungen zählen und anzustreben sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • I. Der geschichtliche Hintergrund der geringen Rezeption polnischer Literatur in Deutschland
  • 1. Die ersten Jahrzehnte nach den Teilungen; beginnende Germanisierungsversuche
  • 2. Die Germanisierungsmaßnahmen im preußisch/deutschen Teilungsgebiet
  • 3. Der eigentliche „Kulturkampf“ und seine Auswirkungen auf die Polenfrage
  • 4. Die polnischen Reaktionen auf den Kulturkampf
  • 5. Der deutsche Einfluss auf die Sache Polens im Ersten Weltkrieg
  • 6. Das Verhältnis zu Polen in der Zwischenkriegszeit
  • 7. Scham und Schande: Der deutsche Überfall und die Besetzung Polens im II. Weltkrieg
  • II. Ein Neubeginn
  • 1. Die unmittelbare Nachkriegszeit
  • 2. Verzicht und Verzeihen – der christliche Weg zur Versöhnung
  • 3. Die Paketaktion: „Paczki solidarności“ – „Pakete der Solidarität“
  • 4. Auf dem Wege zum „Runden Tisch“ und zur „Wende“
  • III. Die Dritte Republik und das wiedervereinigte Deutschland
  • 1. Das Wahlergebnis und die Umgestaltung Polens
  • 2. In der Gemeinschaft der freien Völker der Europäischen Union
  • EPILOG
  • NACHWORT: „Polonica non leguntur“ aus polnischer Sichtvon Tomasz G. Pszczółkowski
  • Danksagungen
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Bearbeitungsvermerke
  • Literaturverzeichnis
  • Personenverzeichnis
  • Über den Autor
  • Reihenübersicht

Einführung

Die bekannte amerikanische Journalistin Anne Applebaum, Ehefrau des damaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski, sagte u.a. in einem 2014 veröffentlichten Interview auf eine das amerikanisch-polnische Verhältnis betreffende Frage:

„Es gibt keine besonderen Beziehungen, welche die USA zu anderen Ländern unterhalten. Und Polen steht Deutschland wesentlich näher als irgendeinem anderen Land der Welt.“1

Eine Feststellung, der schwerlich widersprochen werden kann. Von allen Nachbarländern Deutschlands, Österreich ausgenommen, das aber nach Sprache, Kultur und Geschichte von uns wohl weniger als „Ausland“, denn als ein durch die politischen Umstände der vergangenen zwei Jahrhunderte getrenntes deutsches Bruderland empfunden wird, stehen sich Deutschland und Polen eigentlich am nächsten. Das ist auch eigentlich nichts Neues – so beruft sich der Dichter Heinz-Winfried Sabais in seinem an den polnischen Dichterkollegen Tadeusz Różewicz gerichteten Gedicht Brief von Breslau nach Wrocław darauf, dass im mittelalterlichen „Codex [Diplomaticus] Maioris Poloniae Deutsche und Polen als Nächstverwandte beschworen“ würden.2 Auch in nicht gerade polenfreundlichen Veröffentlichungen wird darauf hingewiesen, dass keine zwei anderen europäischen Völker so ineinander verzahnt waren in ihrer Geschichte wie das deutsche und das polnische, und der polnische Literatur-Historiker Aleksander Brückner (1856–1939) soll den Vergleich mit den siamesischen Zwillingen – untrennbar und doch verfeindet – gebraucht haben.3 Diese – wenn auch im eigentlichen Sinne nicht verwandtschaftliche – Nähe ist eine Tatsache, die leider deutscher- wie auch polnischerseits zu wenig Beachtung findet, wenn nicht gar völlig verkannt oder verdrängt wurde und auch leider noch immer wird. Das hat historische Gründe.

Gewiss, da war und ist die sprachliche Barriere, die Deutsche und Polen trennte und trennt. Dem gegenüber steht aber nicht nur seit mehr als tausend ←7 | 8→Jahren die Zugehörigkeit zu demselben – lateinischen – Kulturkreis und die Mittlerrolle, die das Reich bei der Christianisierung Polens spielte, sondern vor allem die mittelalterliche sog. Ostkolonisierung, d.h. die Ansiedlung deutscher Kolonisten durch die Piastenherzöge in den wenig bevölkerten, zunächst noch polnischen Westgebieten, und der Zufluss deutscher Kaufleute und Handwerker in polnische Städte, die deutsches Städterecht (besonders das Magdeburger) übernahmen, bzw. nach diesem gegründet wurden. Die Weitergabe von zum Teil bei uns noch von den Römern übernommener zivilisatorischer Errungenschaften, was sich im Polnischen durch viele deutsche Lehnwörter (z.B. handwerkliche Geräte betreffend) widerspiegelt, wurde vor allem in dem Ersatz der Holz- durch Steinbauweise sichtbar (so heißt es in einer polnischen Redewendung über König Kasimir III. d. Gr. [1310–1370], dass er Polen hölzern vorgefunden und steinern hinterlassen habe), sodass die Stadtbilder für Reisende aus Polen nach Deutschland und umgekehrt wenig fremdartig wirken. Als fremdartig hingegen wurde von Polen z.B. die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von den Russen in Warschau errichtete orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale empfunden, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 dann alsbald (1926) abgerissen wurde, während das von Kaiser Wilhelm II. in Posen errichtete Schloss nicht als so störend empfunden wurde und bis auf den heutigen Tag steht, obwohl es doch ebenso als Symbol der Fremdherrschaft gelten könnte. Der aus dem Westen, also in erster Linie von bzw. über Deutschland fließende kulturelle und zivilisatorische Einfluss befruchtete die polnische Nationalkultur, ohne deren glänzende Eigenständigkeit zu beeinträchtigen. Auch der Verlust der Eigenstaatlichkeit nach den Teilungen Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermochte an der Eigenständigkeit der polnischen Kultur, besonders der Literatur, nichts zu ändern. Die im Abwehrkampf gegen die Germanisierungs- bzw. Russifizierungsbemühungen erfolgte starke Betonung der eigenen nationalen Andersartigkeit führte indessen dazu, dass besonders die polnische Literatur in eine Nische gedrängt wurde, im übrigen Europa auf wenig Interesse stieß, was angesichts deren Reichtums und Schönheit sehr bedauerlich ist. So ist leider in Deutschland die polnische Literatur besonders des 19. Jahrhunderts weitgehend unbekannt – wozu, gerade auch bezüglich der Gründe, im Einzelnen noch eingehend Stellung genommen wird.

Gemeinsam waren den drei Teilungsmächten nur die Bemühungen, die Polen des Polentums, also des eigenen Volkstums zu entkleiden, sie mittels strikter Germanisierung bzw. Russifizierung in der jeweils eigenen Nation aufgehen zu lassen (nur im österreichischen Bereich stellte sich die Situation insoweit etwas milder dar).

←8 | 9→„Es erfolgte ein in der Geschichte nicht dagewesener Zeitraum des Hasses und der Verachtung. Diese Zeit konnte nichts Gutes hervorbringen…“,

resümierte der polnische Literaturhistoriker Piotr Roguski in einem Aufsatz über die polnische Literatur als Mentalitätsgeschichte.4 Die deutsche Politik des Hitler-Reichs war ja während des II. Weltkriegs sogar letztlich auf die teilweise physische Vernichtung der Polen ausgerichtet, während die Politik der Sowjetunion insoweit zunächst ganz offensichtlich ähnlich, dann – nach 1945 – in modifizierter Form, den Nachkriegs-Umständen entsprechend, an die frühere zaristische anknüpfte. Diese geschichtlichen Tatsachen erklären die bei vielen Polen noch heute bestehende recht starke Abneigung in der bekanntlich doch stark christlich geprägten polnischen Gesellschaft gegenüber Deutschen und Russen. Allerdings stellte der bekannte polnische Soziologe und Publizist Zbigniew T. Wierzbicki in einem Essay darüber, wie die Abneigung gegenüber anderen Nationen rationell zu erklären ist5, auf die historischen Gründe hinweisend fest, dass man insoweit einige interessante Nuancen und Schwankungen wie auch eine Prise Wertschätzung gegenüber den einen Nachbarn, z.B. gerade den Deutschen, hingegen Geringschätzung oder Verachtung gegenüber den anderen, z.B. besonders den Russen, beobachten kann. Auch würden sich die Polen ungern zu tschechischen oder ukrainischen Vorfahren bekennen, viel lieber zu litauischen, ungarischen und – was Wierzbicki als Wunder bezeichnete – trotz vorherrschender Abneigung eben auch zu deutschen Vorfahren (in der Beliebtheitsskala stehen an erster Stelle, insoweit wohl nicht anders als bei uns, Franzosen und Engländer, dann die anderen Westeuropäer).

Einen Indikator ganz besonderer Art stellt die Rolle der Polonia dar, als Sammelbezeichnung der in Deutschland lebenden Polen. Man geht von über zwei Millionen Personen mit polnischem Migrationshintergrund aus.6 Diese sind zwar nicht als nationale Minderheit besonders abgesichert, benötigen aber auch keinen derartigen Status, sie sind Christen, sind hervorragend integriert, äußerlich nicht auffallend, im Berufsleben in der Regel erfolgreich, ihre Kinder haben auch absolut keinerlei Probleme, sich in der deutschen Gesellschaft wiederzufinden. So wurde beispielsweise im Dezember 2018 Paul Ziemiak, Sohn eines eingewanderten polnischen Ärzte-Ehepaars, zum Generalsekretär der CDU gewählt. ←9 | 10→Und die polnischstämmigen Fußballer und Tennisstars wie Lukas Podolski und Miroslaw Klose, Sabine Lisicki und Angelique Kerber, um als Beispiel nur einige einer ganzen Reihe berühmter Sportler zu nennen, sind in Deutschland allgemein beliebte „Kultfiguren“. Obwohl nach einer 2014 in der Presse veröffentlichten Statistik im Jahr 2012 von insgesamt 966.000 ausländischen Zuwanderern die Polen mit 177.758 Personen die damals mit Abstand größte Gruppe stellten7, ist das Zusammenleben mit ihnen, im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund, völlig unproblematisch, zumal es hierzulande auch eine große Anzahl Mitbürger mit rein polnischen Namen gibt, die Kowalskis, Wisniewskis, Kubickis, Kaczmareks, usw., die z.T. seit Generationen schon hier ansässig und Deutsche sind, oft „deutscher“ als manche Spätaussiedler, die, durch langen Aufenthalt unter Polen bedingt, sich innerlich mehr oder weniger Polen verbunden fühlen. Umgekehrt gibt es auch in Polen (und zwar auch außerhalb der ehemals deutschen Ostgebiete) noch viele Bürger mit deutschen Namen, zum Teil auch schon seit Generationen dort ansässig; die Situation ist insoweit zwar nicht spiegelbildlich, jedoch ziemlich ähnlich.

Es verhält sich mithin so, dass trotz aller geschichtlich bedingter – besonders durch die Zeit von 1939 bis 1945 – Vorbehalte und Empfindlichkeiten polnischerseits (denen natürlich auch eine Reihe nicht ganz so schwerer noch vorhandener deutscher Vorbehalte und Empfindlichkeiten, die hier nicht einzeln aufgezählt werden sollen, gegenüberstehen) doch eine Art stärkerer Bindung und Vertrautheit zu Deutschland, als zu vielen anderen europäischen Ländern besteht. Und deutscherseits bemüht man sich sehr um gute Beziehungen gerade zu Polen. Das lässt sich nicht nur an der im allgemeinen guten Zusammenarbeit der Regierungen beider Länder und an der besonders starken wirtschaftlichen Verflechtung mit Deutschland seit dem Beitritt Polens zur EU und an der wachsenden gegenseitigen kulturellen Durchdringung feststellen, sondern auch ganz allgemein am gewandelten Bildnis Deutschlands und der Deutschen in den polnischen Medien und auch Polens in den deutschen. Und je länger eine friedliche Nachbarschaft und Zusammenarbeit auf europäischer Ebene anhält, je stärker sich die wirtschaftliche und – vor allem – kulturelle Durchdringung entwickelt, um so mehr werden oft noch vorhandenes gegenseitiges Misstrauen und Abneigung Schritt für Schritt immer mehr schwinden, was man jetzt schon sehen kann. Und damit schwindet auch das deutscherseits tradierte kulturelle Überlegenheitsgefühl, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge ←10 | 11→Bismarcks Polen-Politik sich in der Praxis eines „Polonica non leguntur“, also „Polnisches liest man nicht“, manifestierte.

„Polonica non leguntur“ – diese dem Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) zugeschriebene Devise preußischer Kulturpolitik im 19. Jahrhundert8 empört viele Polen bis heute. Und betrachtet man die Rezeption polnischer Literatur in Deutschland unter Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrunds bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, kann man nur sagen, dass da „etwas dran ist“, dass man Polnisches allgemein wirklich kaum las. Aber warum eigentlich? Woher kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für nahezu 100 Jahre diese weitgehende Ablehnung? Es war doch nicht verboten! Und nach der regelrechten deutschen Polen-Euphorie in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts während des polnischen Novemberaufstands gegen den Zaren und im Anschluss daran, verwundert es um so mehr, dass die polnische Literatur, die nicht viel später schließlich mehrere Nobelpreisträger hervorgebracht hatte, also durchaus europäisches Format hatte, wenig Beachtung durch das deutsche lesende Publikum, das sog. Bildungsbürgertum, fand. Was waren die Gründe hierfür? Als Einleitung zu den nachfolgenden eingehenden geschichtlichen Betrachtungen möchte ich aus dem vor einiger Zeit in Polen veröffentlichtem Essay über die Ursachen der relativen Unbekanntheit polnischer Literatur in Deutschland9 einige Ausführungen einfügen:

Es ist gewiss nicht besonders originell, die gängige Meinung zu wiederholen, dass die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts (um sich hier auf diesen für die polnische Kultur wichtigen Zeitraum zu beschränken) in Deutschland wenig bekannt ist, und das sogar unter den gebildeten Viellesern, akademische Kreise eingeschlossen. Zusätzliches Erstaunen erweckt für jeden Liebhaber der polnischen Literatur die betrübliche Tatsache ihrer nahezu vollständigen Abwesenheit in zeitgenössischen populärwissenschaftlichen Werken, die schon von der Definition her gründliches Wissen über den Kanon europäischer Literatur vermitteln sollten. Ich bediene mich hier als Beispiel der Werke zweier bekannter Autoren: Dietrich Schwanitz10 und Egon ←11 | 12→Friedell11. In dem ersten – zeitlich aktuelleren – Werk sucht man vergeblich den Namen Adam Mickiewicz, es fehlt sogar jeglicher Hinweis auf Polen; im zweiten ist Mickiewicz mal so gerade in einem Halbsatz im Zusammenhang mit den Dichtern des sog. „Byronismus“ erwähnt; von anderen polnischen Schriftstellern kein einziges Wort. Andere wichtige europäische Schriftsteller, einschließlich der russischen, wurden hingegen in beiden eingehend besprochen.

Geschichtlich betrachtet wanderten die Kulturströmungen von Westen nach Osten, beginnend mit der Annahme des Christentums durch Polen, das sich für den lateinischen Ritus entschied. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen, diesen Teil des Slawentums in den Bereich der Einwirkung der römisch-lateinischen Mittelmeer-Kultur einbeziehend.

In den folgenden Jahrhunderten, bis ins achtzehnte, änderte sich wenig. Der Einfluss der italienischen, deutschen, französischen und englischen Kultur war in Polen groß, in entgegengesetzter Richtung tat sich wenig. Gründe hierfür gibt es viele, dazu gehört auch das damals moderne Studium der adligen Jugend Polens im Ausland. Die aus Italien, Frankreich oder Deutschland Zurückkehrenden brachten Kenntnisse der fremden Sprachen und Gebräuche mit, wie auch politische oder literarische Neuigkeiten, wovon natürlich die polnische Kultur profitierte. Die Bewegung in die Gegenrichtung war entschieden schwächer, obwohl sie sich nicht bestreiten lässt. Zwar studierten viele Ausländer an der 1364 gegründeten Universität Krakau, der zweitältesten Mitteleuropas, besonders während der Renaissance, und Latein war die gemeinsame Sprache der europäischen Eliten, jedoch nur einige Werke polnischer Autoren erfreuten sich einer breiteren Rezeption außerhalb der Grenzen Polens. Schlechter war es schon um Übersetzungen der polnischsprachigen Literatur in andere Nationalsprachen bestellt. Die schon 1578 erfolgte Übertragung von Jan Kochanowskis Odprawa posłów greckich (dt.: „Verabschiedung der griechischen Gesandten“), und etwas später auch seiner Fraszki (dt.; „Epigramme“) und Pieśni (dt.: „Lieder“), brachten trotz der erzielten Popularität keine Änderung der in der deutschen Gesellschaft vorherrschenden gleichgültigen Einstellung gegenüber dem östlichen Nachbarn. Insoweit brachte auch das 17. Jahrhundert keine Änderungen.

Die Aufklärung brachte einen riesigen Einfluss der französischen Kultur in vielen europäischen Ländern mit sich, darunter sowohl in Deutschland wie ←12 | 13→auch in Polen. Die Übernahme der aufklärerischen Ideale hatte jedoch verschiedene Ausmaße: in der politisch kranken Adelsrepublik Polen richtete sich die Aufmerksamkeit der Schriftsteller vor allem auf die dringendsten politischen und gesellschaftlichen Reformen. Mit den allgemein menschlichen Problemen befasste man sich weniger, die hauptsächliche Sorge fortschrittlicher Schriftsteller galt dem Versuch der Rettung des untergehenden Staates. Aus welchen Gründen auch immer, interessierten den Westen polnische Themen oder polnische Eigentümlichkeiten wenig, erst recht nicht die Anstrengungen gebildeter Polen um die Reformen gewisser Aspekte der Innenpolitik, die sonst nirgendwo auftraten, wie die Beseitigung bestimmter Adelsprivilegien, so auch des berühmt-berüchtigten liberum veto (mittels dessen ein einzelner Abgeordneter Parlamentsbeschlüsse verhindern konnte). Die Adelsrepublik wurde allgemein als ein krankes System einer Staatsverfassung betrachtet, für das man im damaligen modernen Europa keine Daseinsberechtigung sah, das nicht imstande war, die eigene Unabhängigkeit zu verteidigen. Die Entwicklung der Ereignisse bestätigte diese Diagnose.

Ohne Bedeutung für die Rezeption der polnischen Literatur in Deutschland war die persönliche Bekanntschaft des Bischofs Ignacy Krasicki mit dem preußischen König Friedrich II., wie auch die ziemlich schnell nach dem Erscheinen in polnischer Sprache vorgenommene Übersetzung seiner Werke ins Deutsche. Schon im Jahre der polnischen Edition erschien die deutsche Übersetzung der Mikołaja Doświadczyńskiego przypadki („Begebenheiten des Nikolaus Doswiadczynski“), und nur wenige Jahre später der Monachomachia („Krieg der Mönche“) oder des Pan Podstoli („Der Herr Untertruchsess“).

Die Romantik ist eine Epoche herrlicher Entwicklung der jeweiligen nationalen Literatur. Es besteht keine Notwendigkeit, an dieser Stelle allgemein bekannte Fakten und Wahrheiten zu wiederholen, aber man muss sich vor Augen halten, dass die Werke der großen europäischen Romantiker in Polen gut bekannt waren, gelesen und rezipiert, aber man kann nicht sagen, dass sie lediglich ein Muster zur Nachahmung darstellten. Sie waren eine faszinierende, inspirierende Lektüre für die jungen Talente, deren Werke mit der Zeit eine riesige Popularität erzielten, und die selbst in die Rolle von Nationaldichtern hineinwuchsen. Eigentlich kann man sich die gegenwärtige polnische Kultur ohne die Werke von Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki, Zygmunt Krasiński oder Cyprian Kamil Norwid, um sich auf die wichtigsten Namen zu beschränken, gar nicht vorstellen. Sie und ihre Literatur, wie der Dichter und Literaturhistoriker Czesław Miłosz (1980 Nobelpreisträger für Literatur) es darstellte12, dominierten ←13 | 14→das Denken der Polen nachfolgender Generationen. Für jemanden, der die polnische Sprache nicht kennt, ist die Größe dieser Werke schwer zu verstehen, die darin enthaltene glühende Vaterlandsliebe, den Reichtum der Themen, die Originalität der Form, schließlich der revolutionäre Charakter der Sprache im Sinne des Reichtums und der Biegsamkeit, faszinierend bis auf den heutigen Tag. Aber diese Literatur hatte für den fremden Leser einen Makel – sie war zu national, zu sehr auf sich selbst konzentriert, auf die eigenen Probleme, die die westlichen Gesellschaften weder kannten noch interessierten. Es war deshalb ein Leichtes, ihr die pejorative Bezeichnung einer „regionalen“ bzw. „provinziellen“ Literatur zu geben, die von den Hauptströmungen der europäischen Literatur abweicht, und sie ins Vergessen zu verdrängen. Sogar in der Zeit des größten Interesses an Polen im Westen, nach der Niederschlagung des Novemberaufstands 1830/31, als Tausende polnischer Emigranten durch Europa wanderten auf der Suche nach Asyl vor den Verfolgungen durch den russischen Zaren, sogar damals, als zu ihren Ehren in Deutschland die berühmten Polenlieder13 entstanden, als unter schwarz-rot-goldenen und auch weiß-roten Fahnen das berühmte Hambacher Freiheitsfest der deutschen Liberalen unter Beteiligung polnischer Emigranten gefeiert wurde, war das Interesse an Polen nur vorübergehend und verschwand dann weitgehendst mit der Erstickung der Freiheitsbewegungen. Trotzdem kam es in der Zeit zwischen dem polnischen Novemberaufstand und dem sog. „Völkerfrühling“ von 1848 zu einer in den bisherigen Kontakten Polens mit dem Westen noch nie da gewesenen Serie von Übersetzungen polnischer Autoren in viele westliche Sprachen. Über diese Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche, und zwar besonders der Romantiker, darin hauptsächlich der Werke von Mickiewicz, schrieb umfassend z.B. Piotr Roguski14. Aus den Feststellungen anderer Forscher, die sich mit der Rezeption der polnischen Literatur im Westen befassen, lohnt es sich an die Meinung des englischen Dichters S. Sitwell zu erinnern:

„… ein polnisches Epos. Es existiert eine vorzügliche Übersetzung des Pan Tadeusz in der Serie Everyman und es ist unbegreiflich, wie wenig Personen dieses Meisterstück Mickiewiczs gelesen haben…“

Sitwell erklärt seine Beurteilung eingehender:

Details

Seiten
224
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631856031
ISBN (ePUB)
9783631856048
ISBN (MOBI)
9783631856055
ISBN (Hardcover)
9783631853382
DOI
10.3726/b18575
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
Reformbemühungen Christianisierung Polnische Kultur Literarische Selbstisolierung Polnische Adelsrepublik Verlust Eigenstaatlichkeit Germanisierungsmaßnahmen Eindeutschungsversuche Teilung Polens
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 224 S.

Biographische Angaben

Erhard Brödner (Autor:in)

Erhard Brödner begann 1957 sein Studium der Rechtswissenschaften in Wroclaw/Breslau. Nach der Umsiedlung 1958 nach West-Berlin setzte er sein Studium zunächst an der Freien Universität Berlin, dann an der Universität zu Köln fort. Er war als Rechtsreferendar im Ruhrgebiet tätig und kehrte nach Ablegung des 2. Staatsexamens (Assessor) nach Köln zurück. Nach Abschluss der beruflichen Tätigkeit absolvierte er von 2000 bis 2005 das Studium der Osteuropäischen und Neueren Geschichte sowie Slawistik an der Universität zu Köln und schloss dieses mit dem Magister ab. Danach war er als Lehrbeauftragter am Slawischen Institut an der Universität zu Köln tätig.

Zurück

Titel: Polonica non leguntur – Polnisches liest man nicht? Zur Geschichte des schwierigen deutsch-polnischen Verhältnisses
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
226 Seiten