Die Inszenierung der Nation
Das Kaiserreich Brasilien im Zeitalter der Weltausstellungen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Vorwort
- Einleitung
- I. Die Inszenierung der Nation
- 1. Theoretische und methodische Grundlagen
- 1.1 Bilder, politische Ikonografie und Inszenierungen
- 1.2 Das nationale Projekt der Eliten
- 2. Das Kaiserreich Brasilien, 1822–1889
- 3. Ausstellungskultur und Medien im Segundo Reinado
- 3.1 Ausstellungswesen und Kulturpolitik
- 3.2 Presse und Öffentlichkeit
- II. Auf der Bühne des Fortschritts
- 1. Im Herzen des Imperiums: die International Exhibition von 1862
- 1.2 »Ordnung, Freiheit und Fortschritt«
- 1.2 Europäisierte Eliten, »edle Wilde«, unsichtbare Schwarze
- 2. In der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«: die Exposition Universelle von 1867
- 2.1 »Zivilisation vs. Barbarei«
- 2.2 Die tropische Natur als Spektakel und Ausbeutungsobjekt
- 2.3 Die Repräsentation des »Anderen«
- III. Maschinen und Menschenfresser
- 1. Im Zeichen der Krise: die Wiener Weltausstellung von 1873
- 1.1 Das Streben nach »menschlicher Perfektion«
- 1.2 Auf der Suche nach der »wahren Zivilisation«
- 1.3 Gobineaus Erben
- 1.4 Das Bild vom »nacketen, grimmigen Menschenfresser«
- 2. »A lesson about progress«: die Centennial International Exhibition von 1876
- 2.1 Das Kaiserreich auf dem »Zug des Fortschritts«
- 2.2 Vermessung und Visualisierung des nationalen Territoriums
- 2.3 Die »Allianz von Krone und Kreuz«
- 2.4 »Befreite Sklaven« und »gezähmte Wilde«
- IV. Das Ende einer Ära
- 1. Das Gespenst der Revolution: die Exposition Universelle von 1889
- 1.1 Auf der »Straße der Länder der Sonne«
- 1.2 Ansichten aus Brasilien
- 1.3 Die Inszenierung einer südamerikanischen Antike
- Schlussbetrachtung
- Abkürzungsverzeichnis
- Quellen- und Literaturverzeichnis
- 1. Ungedruckte Quellen
- 2. Gedruckte Quellen
- 3. Pressequellen
- 4. Bildquellen
- 5. Darstellungen
- 6. Periodika und Internetressourcen
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift zur Erlangung der Venia Legendi im Fach Geschichte Lateinamerikas. Sie wurde im Wintersemester 2014/2015 von der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) angenommen.
Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, wie sehr das gegenwärtige Brasilien – sowohl in Bezug auf seinen kulturellen Reichtum als auch im Hinblick auf seine sozialen Probleme – noch immer vom 19. Jahrhunderts geprägt ist. Um zu erklären, wie teilweise bis heute wirksame kollektive Selbst- und Fremdbilder zustande kamen, habe ich deren Inszenierung im Rahmen nationaler und internationaler Ausstellungen untersucht. So hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein anderes lateinamerikanisches Land der Beteiligung an den großen Weltausstellungen in Europa und den USA mehr Bedeutung beigemessen als Brasilien. In diesem Zusammenhang habe ich vor allem die Entstehung einer spezifisch »brasilianischen« visuellen Kultur sowie deren Verflechtung mit global wirkenden Diskursen über »Fortschritt«, »Zivilisation« und »Rasse« beleuchtet. Meine Herangehensweise war zudem von dem Gedanken geleitet, die transnationalen Einflüsse im Prozess der Nationsbildung offenzulegen und somit die ältere, oft zu sehr auf endogene Prozesse fixierte Geschichtsschreibung, zu revidieren. Aufgrund der globalgeschichtlichen Perspektive der Arbeit ist die Verwendung von Quellen aus europäischen, US-amerikanischen und brasilianischen Beständen gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit. Dass ich nach mehreren ausgedehnten Forschungsreisen meinen Lebensmittelpunkt ganz von Europa nach Lateinamerika verlagern würde, war ursprünglich jedoch nicht vorgesehen. Während ich zu Beginn der Arbeit noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Geschichte Lateinamerikas in Eichstätt beschäftigt war, konnte ich sie schließlich als Professor für Geschichte an der Universidad del Rosario in Bogotá zu Ende bringen.
In Eichstätt bin ich an erster Stelle meinem akademischen Lehrer Thomas Fischer zu Dank verpflichtet. Seit er im März 2009 an einem Strand in der Nähe von Havanna von meinen Plänen für die Habilitation erfuhr, hat er das Projekt nach Kräften unterstützt und kritisch begleitet. Er ist darüber hinaus zu einem guten Freund geworden. Dem betreuenden Mentorat gehörten ferner Angela Treiber (KU), Barbara Potthast (Universität zu Köln) sowie als externe Gutachterin Ursula Prutsch (LMU München) an, bei denen ich mich ebenfalls herzlich bedanken möchte. Während meiner Zeit in Eichstätt standen mir weiterhin meine ← 1 | 2 → geschätzten Kollegen aus dem Mittelbau mit Rat und Tat zur Seite. Die anregenden Diskussionen mit ihnen, ob im Rahmen akademischer Kolloquien oder im »Nachtwächter«, haben diese Arbeit sicherlich bereichert.
In Brasilien danke ich vor allem Marco Pamplona (PUC-Rio), Margarida de Souza Neves (PUC-Rio), Paulo Knauss (UFF), Maria Inez Turazzi (MI) sowie den vielen zuvorkommenden Archivaren und Bibliothekaren in Rio de Janeiro und São Paulo. Für ihre Unterstützung bei der Recherche bin ich ferner Eliane Campos und Natália Ferreira dankbar.
Des Weiteren gilt mein Dank den Angestellten verschiedener Forschungseinrichtungen in Deutschland, Österreich, England und Frankreich sowie insbesondere den USA, namentlich den Mitarbeitern der Oliveira Lima Library sowie der Dibner Library in Washington, DC. Letztere Einrichtung gewährte mir zur Anfertigung dieser Arbeit sowie für ein Folgeprojekt großzügige finanzielle Unterstützung im Rahmen des Baird Society Resident Scholar Program. An den genannten Einrichtungen möchte ich insbesondere Lilla Vekerdy, Kirsten van der Veen sowie María Ángela Leal meinen Dank aussprechen. Für die Durchsicht des Manuskripts, die Unterstützung bei der Analyse eines Teils der Pressequellen sowie die Bearbeitung des grafischen Materials bedanke ich mich außerdem bei Christiane Hoth, Paulo Tirso Córdoba Guzmán, Clara Ramos da Silva Stiefel, Thiago Zakrzewski, Fernanda Pan und Natalia Gutiérrez Alonso. Schließlich sei noch Walther L. Bernecker für die Aufnahme in die Reihe Hispano-Americana gedankt.
Zu guter Letzt möchte ich anmerken, dass diese Arbeit ohne externe finanzielle Förderung nicht möglich gewesen wäre. Somit bedanke ich mich bei der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Gewährung von Reisekostenbeihilfen im Jahre 2010 und die Finanzierung der internationalen Tagung La nación expuesta im Jahre 2012, beim Deutschen Akademischen Austauschdienst für die Finanzierung mehrerer Kongressreisen sowie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung einer »eigenen Stelle« zwischen 2011 und 2013.
Mit Abstand am wichtigsten für das Gelingen des Projekts war jedoch die Unterstützung durch meine Familie in Deutschland (Carmen, Richard, Sina, Oniel, Dahlia, Edeltraut, Elke und Siegram †), der ich dieses Buch hiermit widme.
Washington, DC, November 2014 |
Sven Schuster |
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Die Menschheit war in ›Rassen‹ geschieden, eine Vorstellung, welche die Ideologie der Zeit fast ebenso tief durchdrang wie die Idee des ›Fortschritts‹; sie teilte sich in diejenigen, deren Platz bei den großen internationalen Fortschrittsfeiern, den Weltausstellungen, auf den Tribünen der technischen Triumphe war, und in die anderen, die dort ihren Platz in den ›Kolonialpavillons‹ oder ›Eingeborenendörfern‹ hatten, die das Bild der Ausstellungen inzwischen vervollständigten. Sogar in den ›entwickelten‹ Ländern selbst war die Menschheit zunehmend gespalten in den tatkräftigen und begabten Stamm der Mittelklassen und in die trägen Massen, deren genetische Mängel sie zur Unterlegenheit verdammten.1 (Eric Hobsbawm)
Bis heute bestimmt ein zentraler Topos das nationale Selbstverständnis der Brasilianer: die Idee einer harmonischen und multiethnischen Gesellschaft.2 Demnach sieht sich ein Großteil der brasilianischen Bevölkerung einem toleranten und gemischtrassigen Volk zugehörig, dem es im Laufe seiner von Kolonisierung, afrikanischer Sklaverei, europäischer und asiatischer Einwanderung geprägten Geschichte gelungen ist, die unterschiedlichsten Ethnien in vorbildlicher Weise zu integrieren. Wenngleich das Land noch immer von extremer sozioökonomischer Ungleichheit geprägt ist, hat dies in der Sicht vieler Brasilianer nichts mit Rassismus zu tun.3
Daneben ist die Vorstellung weitverbreitet, dass das tropische Land mit seinen unfassbar reichen, ja geradezu unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, vorherbestimmt ist, zu einem der mächtigsten Staaten der Erde aufzusteigen. Es sei damit zu rechnen, dass der brasilianischen Nation im 21. Jahrhundert endlich der lang ersehnte wirtschaftliche Aufstieg gelinge. Bereits heute sieht sich Brasilien aufgrund seines Bevölkerungsreichtums, seiner wirtschaftlichen Kapazität, seiner ← 3 | 4 → Fläche, die es zum fünftgrößten Land der Erde macht, sowie seiner natürlichen Ressourcen als regionale Führungsmacht in Südamerika.4
Gewissermaßen in »Reinform« zeigte sich diese von den meisten Brasilianern geteilte Einschätzung auf der Weltausstellung, die zwischen Mai und Oktober 2010 in Shanghai stattfand. Ebenso wie die übrigen Staaten der so genannten BRICS-Gruppe, zu der neben Brasilien die aufstrebenden Schwellenländer Russland, Indien, China und Südafrika gehören, präsentierte sich der »grüne Gigant« im Rahmen dieser bis dato größten Weltausstellung (ca. 70 Millionen Besucher) als wirtschaftlich potenter Global Player, der den Vergleich mit hochentwickelten Industrieländern nicht zu scheuen braucht. Obgleich der Schwerpunkt des von der Agência Brasileira de Promoção de Exportação e Investimentos (APEX) in Auftrag gegebenen Pavillons auf der Zurschaustellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit lag, wurde auch auf die Inszenierung des angesprochenen nationalen Selbstverständnisses Wert gelegt. Im Inneren des quadratischen Gebäudes befanden sich vier Leinwände, auf denen der Alltag von vier »durchschnittlichen« Brasilianern zu sehen war, die ihren Lebensunterhalt in den Bereichen Agribusiness, Erdöl, Flugzeugindustrie und Musik (Samba) verdienen.5 Ein von der Produktionsfirma des brasilianischen Starregisseurs Fernando Meirelles (City of God, 2002) gedrehter achtminütiger Film führte deren Tagesablauf vom Aufstehen bis zum Feierabend vor Augen. Der Beobachter des Videoclips »stand« dabei wortwörtlich auf ständig wechselnden Satellitenfotos brasilianischer Großstädte, wodurch vor allem die infrastrukturellen Veränderungen im Zuge der für 2014 anstehenden Fußballweltmeisterschaft ins rechte Licht gerückt werden sollten. Ganz im Sinne des offiziellen Mottos der Weltausstellung (Better City, Better Life) ging es den brasilianischen Ausstellungsmachern in erster Linie darum, die städtischen Veränderungen sowie den Umgang mit Problemen der Nachhaltigkeit bei einem steigenden Anteil urbaner Bevölkerung (Urbanisierungsgrad 2013: 85%6) zu thematisieren. In diesem Kontext erregte auch die Fassade des Pavillons das Interesse der Weltöffentlichkeit. Dem Auftrag der Expo-Organisatoren folgend, die sich ja Nachhaltigkeit und Urbanität auf die Fahnen geschrieben hatten, bestand das von dem brasilianischen ← 4 | 5 → Architekten Fernando Brandão entworfene Gebäude aus wiederverwendbarem, grün angestrichenem Holz. Zusammen mit den gelb leuchtenden Lettern »Brasil« vor dem Haupteingang ergaben sich so die Farben der Landesfahne, die heute von den meisten Brasilianern als Allegorie auf den Überfluss der tropischen Natur (grün) und die unermesslichen Bodenschätze (gelb) gedeutet wird.7
Abb. 1: Fernando Brandão, 2009, Pavilhão Brasileiro na Expo Xangai 2010 (virtuelles Gebäudemodell. In: http://concursosdeprojeto.org/2009/05/22/concurso-expo-xangai-2010-br/).
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Bei der Selbstdarstellung des Landes und seiner Bevölkerung griff man indes auf altbewährte Stereotype zurück, was brasilianische Journalisten, Architekten und Intellektuelle zum Teil heftig kritisierten.8 So beschränkte sich das inhaltliche Angebot des Pavillons neben dem Verweis auf die industriellen Kapazitäten und die biologische Vielfalt der Amazonasregion auf die Präsentation typischer Landesküche, touristischer Sehenswürdigkeiten, Folklore, Fußball, Samba und Karneval. In Bezug auf die Menschen hoben die Ausstellungsmacher besonders den multiethnischen Charakter der Bevölkerung sowie die lange Tradition der Einwanderung aus Europa und Asien hervor. Ein weiterer Fokus lag aufgrund des Veranstaltungsortes der Expo auf der chinesischen Einwanderung seit dem 19. Jahrhundert. Dem Ausstellungstext zufolge hätten sich die Chinesen nämlich vorbildlich in Brasilien integriert und besonders im Bereich des Kleingewerbes den sozialen Aufstieg geschafft.9 Zur Veranschaulichung des gemischtrassigen Charakters der Nation gab es einen überdimensionalen, interaktiven Touchscreen zu bestaunen, die so genannte Human Diversity Wall. Darauf konnte der Besucher sich »seinen« individuellen Brasilianer aus 34 Körperteilen, die zu jeweils verschiedenen Ethnien gehörten, gewissermaßen »zusammenbasteln«.10
Mit dieser Inszenierung war die Aussage verbunden, dass sich die Brasilianer aufgrund der jahrhundertelangen Rassenmischung in religiöser und kultureller Hinsicht zu einem besonders toleranten und friedliebenden Volk entwickelt hätten. Es handelte sich dabei um den in Brasilien altbekannten Mythos von der »Harmonie der Rassen«, der nun im 21. Jahrhundert angekommen war. So verkündete auch der offizielle Ausstellungstext voller Stolz die positiven Aspekte der »ethnic miscegenation«:
The ethnic miscegenation directly reflected on the cultural and behavioral composition of Brazilians. At the same time that the immigrants’ traditions were maintained and perpetuated, the cultural integration generated traces that characterize today the national culture around the world, like samba, carnival and the religious pluralism. The ethnic mixture occurred since the beginning of the colonization also acted in a decisive manner in peoples’ behavior, making Brazilians more tolerant to the cultural differences and, in general, more peaceful when coping with the new experiences.11 ← 6 | 7 →
Zu dieser vom brasilianischen Staat, den Wirtschaftsverbänden und Großunternehmen wie Vale (Bergbau), Embraer (Flugzeuge) und Eletrobras (Energie) organisierten und finanzierten Selbstinszenierung im Ausland mag es allerdings nicht recht passen, dass in Brasilien seit einigen Jahren der Widerspruch gegen das offizielle Ideal der so genannten »Rassendemokratie« deutlich zunimmt.12 Dies zeigt insbesondere die unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) begonnene Diskussion um die Einführung von »Rassenquoten« an Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen zur Wiedergutmachung »historischen Unrechts«.13 ← 7 | 8 →
Doch auch die in Shanghai betriebene Selbstdarstellung Brasiliens als ökologisch bewusste und auf Nachhaltigkeit setzende Industrienation wird vor allem von jungen und gut ausgebildeten Brasilianern zunehmend hinterfragt. Denn trotz der offiziellen Nachhaltigkeitsrhetorik ist weithin bekannt, dass das brasilianische Wirtschaftsmodell noch immer zu einem großen Teil auf massiver Umweltzerstörung und rücksichtsloser Ressourcenausbeutung beruht. Aufgrund der kaum zu kontrollierenden Brandrodungen in der Amazonasregion gilt Brasilien etwa als einer der größten CO2-Emittenten weltweit.14
Dass es in Bezug auf die nationale Selbstdarstellung im Rahmen internationaler Mega-Events in den nächsten Jahren jedoch zu größeren Änderungen kommt, ist eher unwahrscheinlich. Ebenso wie bei der 2014 im eigenen Land ausgetragenen Fußballweltmeisterschaft dürften die als zentral erachteten Elemente des nationalen Selbstbildes, also der gemischtrassige Charakter des Staatsvolkes, die Populärkultur, das naturräumliche Potenzial sowie der wirtschaftlich-technologische Fortschritt, auch bei den für 2016 geplanten Olympischen Spielen in Rio de Janeiro im Fokus des nation branding stehen. Brasiliens Bewerbung um die Ausrichtung einer Weltausstellung in São Paulo im Jahre 2020 ist indes vorerst gescheitert.15
Aus historischer Perspektive ist in diesem Kontext interessant, dass die angesprochenen Kernelemente des heutigen nationalen Selbstbildes schon seit dem 19. Jahrhundert in ganz ähnlicher Weise in Szene gesetzt wurden. Tatsächlich stellten die Ideale des »Fortschritts«, der »Zivilisation« sowie der Verweis auf die »Rasse« – verstanden als biologische Grundlage der Nation – auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts die wichtigsten thematischen Achsen dar. Oberflächlich betrachtet hat sich die Präsentation dieser Elemente mittlerweile zwar deutlich gewandelt. So war etwa im Jahre 1862, als sich Brasilien erstmals an einer Weltausstellung beteiligte, noch von der »Aufweißung« (branqueamento) der Bevölkerung durch die Förderung der europäischen Einwanderung die Rede. Ausgehend von der Meistererzählung der »drei formativen Rassen«, von der später noch ← 8 | 9 → ausführlich die Rede sein wird, wurde Rassenmischung allerdings bereits damals propagiert und im Hinblick auf die Herausbildung eines modernen Nationalstaats sogar als unerlässlich betrachtet. Obwohl nach der Erhebung der »Rassendemokratie« zum staatstragenden Prinzip in den 1930er Jahren die »Aufweißung« aus dem offiziellen Diskurs verschwand und die europäische Einwanderung abebbte, hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung das Streben nach »Weißwerdung« bis heute gehalten. Auch ist die »Rasse« unterdessen von einer biologistischen zu einer rein kulturellen Kategorie mutiert, die nicht selten mit dem sozialen Status korreliert.16
Des Weiteren wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar noch klar zwischen Mensch und Natur unterschieden, wobei ersterer im Sinne eines biblischen Auftrages ganz selbstverständlich letztere zu kontrollieren hatte. Ferner schien es gewissermaßen als ein Gebot des universellen Fortschrittsparadigmas, die Natur einzuhegen und insbesondere in tropischen Gefilden regelrecht zu unterwerfen. Trotz der im Jahre 2010 in Shanghai gebrauchten Rhetorik, den Menschen nunmehr als Teil der Natur zu betrachten und verantwortungsvoll mit den natürlichen Ressourcen umzugehen, hat sich diesbezüglich jedoch sowohl in der Praxis als auch in der Darstellungsweise kaum etwas geändert. So zelebriert Brasilien auf internationalen Ausstellungen und Messen an erster Stelle noch immer seine Fortschritte bei der Erschließung und Nutzbarmachung des Naturraums, wobei der (visuelle) Verweis auf die viel beschworene »Nachhaltigkeit« meist nur Alibicharakter hat. Obwohl der »grüne Gigant« heute eine ungleich diversifiziertere Ökonomie als im 19. Jahrhundert aufweist, bei der Dienstleistungen, Industrieproduktion und Agrarsektor in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, gilt Brasilien vor allem aufgrund der gewaltigen Nachfrage aus Asien nach wie vor als global führender Exporteur von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Angesichts des anhaltenden Booms in diesen Wirtschaftsbereichen ist mittlerweile schon wieder von einer schleichenden De-Industrialisierung die Rede.17
Eine weitere Kontinuität in der Art der nationalen Selbstdarstellung auf internationalen Ausstellungen ist auch im Hinblick auf die kulturelle Identität zu beobachten – wenngleich nicht auf den ersten Blick. Denn während Brasilien in früheren Zeiten scheinbar sklavisch die kulturellen Errungenschaften Europas zu emulieren versuchte, werden heute im Gegenteil kulturelle Eigenständigkeit, Authentizität und »Hybridität« betont. Auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch, ← 9 | 10 → dass ein solcher Dualismus in historischer Perspektive unhaltbar ist. Obwohl ein großer Teil der Literatur zu Brasiliens kultureller Entwicklung im 19. Jahrhundert den starken Einfluss der europäischen »Zivilisation« betont, wobei fast immer Frankreich und England gemeint sind, war diese Beziehung durchaus keine Einbahnstraße. So hat bereits Gilberto Freyre zu Recht von einer produktiven Aneignung kultureller Konventionen und intellektueller Strömungen aus Europa gesprochen. Die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zunehmende Ablehnung der als rückständig empfundenen iberischen Traditionen und die damit verbundene Hinwendung zum »modernen« Europa beziehungsweise später auch zu den USA sah Freyre immer schon als einen Prozess der Transkulturation, auch wenn sich dies aus dem von ihm verwendeten Terminus der »Re-Europäisierung« nicht sofort erschließen mag.18
Eben aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit den Weltausstellungen ein so ergiebiges Forschungsgebiet.19 Denn in der damaligen Welt gab es keine vergleichbare internationale Plattform, auf der sich einem peripheren Land wie Brasilien die Möglichkeit eröffnete, sich zumindest auf der symbolischen Ebene direkt ← 10 | 11 → an der Seite der »zivilisierten« Nationen zu präsentieren. Damit verbunden war selbstverständlich die Hoffnung der politischen Eliten, über die Beteiligung an den »internationalen Fortschrittsfeiern« (Hobsbawm) einen Modernisierungsimpuls zu erhalten, der in absehbarer Zeit den Entwicklungsrückstand zu den europäischen Zentren verringern würde. Da die Weltausstellungen die geopolitische Ordnung der Welt in symbolischer Weise widerspiegelten, war es von enormer Wichtigkeit, von den europäischen »Mentoren« nicht als hoffnungslos rückschrittlich oder gar »unzivilisierbar« eingestuft zu werden. Trotz der entschiedenen Hinwendung zu Europa und den USA kopierte Brasilien keineswegs alle Vorgaben des Zentrums. Vielmehr handelte es sich um einen ständigen Aushandlungsprozess, der sich im Rahmen der Weltausstellungen auch auf der visuellen Ebene abspielte und oft nur an der Oberfläche den Eindruck einer sklavischen Imitation europäischer »Hochkultur« hinterließ. Obwohl auch in den brasilianischen Pavillons die als allgemein gültig erachteten Diskurse über »Fortschritt«, »Zivilisation« und »Rasse« die Inszenierung der Nation beherrschten, konnten diese Diskurse je nach Kontext und Interessenlage durchaus eigene Prägung erhalten.
Die Beteiligung Brasiliens an den Weltausstellungen war insofern viel mehr als nur eine simple Marketingstrategie, um ausländische Investitionen zu fördern oder europäische Einwanderer anzulocken. Wie eine Analyse der visuellen und performativen Dimension offenbart, ging es im Kern um die Definition der modernen Nation an sich. Die auf den Ausstellungen möglichst breitenwirksam in Szene gesetzte Nation war somit das Resultat eines komplexen transatlantischen Austauschprozesses, der sich zwar im Rahmen asymmetrischer Machtverhältnisse abspielte, aber auch Spielräume eröffnete, innerhalb derer die kulturellen Codes des Zentrums produktiv angeeignet oder sogar umgekehrt werden konnten. So wurde etwa die von europäischen Gelehrten im Zeitalter des »wissenschaftlichen Rassismus« vielfach angeführte »Degeneration durch Rassenmischung« von den brasilianischen Ausstellungsmachern mehrheitlich verworfen und durch das Ideal der »Aufweißung« ersetzt. Ebenso wie sich das Zentrum ein zwischen Abwertung und Paternalismus schwankendes Bild von der Peripherie konstruierte, um sich selbst als Hort der »Zivilisation« definieren zu können, nutzte Brasilien die Bühne der Weltausstellungen, um international als aufsteigendes Land der Semi-Peripherie wahrgenommen zu werden.
Die Feststellung, dass der Nationsbildungsprozess in Brasilien ohne Berücksichtigung des globalen Kontexts nicht verständlich wird, ist im Grunde banal. Was bei den zahlreichen Analysen, die sich mit dem seit der Unabhängigkeit entworfenen nationalen Projekt und seinen globalen Einflüssen bislang jedoch sträflich vernachlässigt wurde, ist die Rolle von Bildern. So stellten insbesonde ← 11 | 12 → re die Weltausstellungen im visuellen und performativen Sinne wichtige Arenen dar, auf denen die Nation in breitenwirksamer Form symbolisch evoziert wurde. Die Konstruktion bestimmter Bilder des »Eigenen« und des »Anderen« erreichte dabei selbst im Vergleich zur Presse oder zum Bildungswesen besondere Wirkungskraft, weil die Beteiligung der lateinamerikanischen Länder an den internationalen Ausstellungen gleichzeitig zur Ausbildung nationaler »Ausstellungskomplexe« (Tony Bennett) beitrug. Somit ist die gesamte visuelle Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die zum Teil noch heute maßgeblichen Kulturinstitutionen, Museen und künstlerischen Akademien entstanden, ohne die diversen internationalen Verbindungen in den Bereichen der Wissenschaft und der Kultur undenkbar. Eine tiefergehende Erkundung des Zusammenhangs von Bildern und nation-building sowie den maßgeblichen »nationsbildenden« Akteuren auf nationaler, transnationaler und internationaler Ebene bildet darum das Herzstück des ersten Kapitels.
Die oft in der Literatur zu findende Bezeichnung der Weltausstellungen als »transnationale Räume«, in denen sich die verschiedenen Austauschprozesse abgespielt hätten, ist allerdings irreführend und wenig erkenntnisfördernd.20 So können zwar die vielen wissenschaftlichen, politischen oder sogar religiösen Kongresse im Rahmen der Ausstellungen, wie etwa das berühmte Weltparlament der Religionen auf der World’s Columbian Exposition von Chicago (1893), durchaus als transnationale Räume angesehen werden. 21 Auf der anderen Seite handelte es sich bei den Weltausstellungen aber auch um strikt internationale Angelegenheiten, die nichts so sehr prägte wie das von Europa in alle Welt exportierte Nationalstaatsprinzip. Dies galt – im Sinne einer Reifikation des Nationalen – auch für die peripheren Staaten Lateinamerikas und sogar für manche Koloni ← 12 | 13 → en.22 Vor allem die im Rahmen der Ausstellungen stattfindenden Kongresse zu Themen der Geschichte, der Anthropologie oder der Archäologie, auf denen der Prozess des nation-building beziehungsweise dessen Steuerung durch die Eliten eine besonders große Rolle spielte, sind bislang kaum erforscht. Dabei sind diese Kongresse auch in visueller Hinsicht sehr ergiebig. Denn Schautafeln, Fotos und plastische Exponate waren ein wichtiges Element solch wissenschaftlicher Events; sie richteten sich im Unterschied zu den üblicherweise an Forschungsinstituten ausgerichteten Tagungen auch an ein breites und wenig gebildetes Publikum. In diesem Zusammenhang geht es also nicht zuletzt darum, den gesellschaftlichen Kontext der Ausstellungen zu erfassen. Es gilt herauszufinden, wie sich das Publikum zusammensetzte, wie es auf bestimmte Inszenierungen und »öffentliche Bilder« reagierte und welches Medienecho diese hervorriefen.23
Mehr als konkrete politische und ökonomische Aspekte im Prozess des nation-building interessieren mich im Folgenden daher Bilder und symbolische Praktiken, die seit den 1860er Jahren, also mit Beginn des im Grundsatz noch immer gültigen Modernisierungsdiskurses, entworfen wurden, um ein bestimmtes nationales Projekt zu legitimieren. Welche Bilder wurden geschaffen, um Brasilien im Inneren wie im Äußeren als »fortschrittliches« und »zivilisiertes« Land zu präsentieren? Wie sah es mit der Inszenierung eines im Hinblick auf seine »rassischen Eigenschaften« als »geeignet« angesehenen Staatsvolkes aus? Wie wurde das Territorium definiert und visualisiert? Wie dessen Nutzbarmachung und Erschließung legitimiert? Diese Fragen waren für die Eliten insofern auch ein wichtiges Anliegen, als das ökonomische Modell der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach ausländischem Kapital und immer stärker auch nach ausländischen Arbeitskräften verlangte. Welches Bild entwarfen sie daher von »ihrer« Nation und welche Funktion kam diesem Bild zu? Aus welchen Gründen unterschied sich die Außendarstellung oftmals vom »Bild nach innen«, insbesondere unter Berücksichtigung des Faktums, dass Brasilien als letztes Land der westlichen Hemisphäre die Sklaverei abschaffte? Welche Auswirkungen hatte das Ideal der »Aufweißung« ← 13 | 14 → auf die nationale Selbstwahrnehmung? Welche soziale Funktion kam den Selbstbildern der Eliten, den Bildern von der weißen, der afro-brasilianischen und der indigenen Bevölkerung zu?
Details
- Seiten
- VI, 440
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653050813
- ISBN (MOBI)
- 9783653974638
- ISBN (ePUB)
- 9783653974645
- ISBN (Hardcover)
- 9783631658529
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05081-3
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (März)
- Schlagworte
- Visuelle Kultur Sklaverei Fotografie Malerei Globalgeschichte
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. VI, 440 S., 128 s/w Abb.