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Sprachliche Unsicherheit in der Romania

von Inga Hennecke (Band-Herausgeber:in) Eva Varga (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 204 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band betrachtet das soziolinguistische Konzept der sprachlichen Unsicherheit aus panromanischer Perspektive, indem er Untersuchungen aus verschiedenen Regionen der Romania unter einer einheitlichen Theorie zusammenführt. Die Beiträge des Sammelbandes bieten neue Anreize zur Definition und Einbettung von sprachlicher Unsicherheit in die soziolinguistische Theoriebildung. Das Konzept der sprachlichen Unsicherheit wird in diesem Band auf verschiedene Sprechergruppen und Sprach(kontakt)situationen in der Romania angewendet. Hierzu werden unterschiedliche empirische Methoden zur Untersuchung von sprachlicher Unsicherheit verwendet und diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung: Sprachliche Unsicherheit in der Romania (Inga Hennecke/Eva Varga)
  • Sprachliche Unsicherheit und Entfremdung (Falk Seiler)
  • Auf dem Prüfstand: Sprachliche Unsicherheit bei frankophonen Sprechern in peripheren Regionen: das Beispiel Suisse romande (Karoline Henriette Heyder/Marinette Matthey)
  • Sprachliche Unsicherheit im Sprachgebrauch von Semisprechern des Sassaresischen (Laura Linzmeier)
  • Die diskursive Verflechtung sprachlicher Unsicherheit und Sicherheit: Neapolitanische Sprecher zwischen parlare benissimamente, dem Stigma eines dialetto sguaiato und dem Prestige des napoletano vero (Sara Matrisciano)
  • Sprachliche Unsicherheit bei den sogenannten „Semisprechern“ (Adrian Görke/Ramona Jakobs)
  • Sprachliche Unsicherheit bei Standardsprechern. Ein Vergleich zwischen französischen und deutschen Sprechern (Martin Sinn/Eva Varga)
  • Inseguridad y seguridad lingüísticas en entornos socio-técnicos de alto riesgo: entre experiencia y procedimentalización (Lorena de Matteis)
  • Reihenübersicht

Inga Hennecke/Eva Varga

Einleitung: Sprachliche Unsicherheit in der Romania

Der Begriff der sprachlichen Unsicherheit (linguistic insecurity) tritt zum ersten Mal 1966 im Rahmen der Untersuchungen von William Labov über die soziale Stratifizierung des Englischen in New York auf.1 Damals ging es noch nicht um eine Theoretisierung des Begriffs, sondern um das Herausarbeiten der Symptome von sprachlicher Unsicherheit sowie um deren quantitative Messbarkeiten. Als Symptome wurden vor allem das verstärkte Bewusstsein für die als ideal angesehene Sprachform (verstanden als präskriptive Norm2) bei der betroffenen Sprechergruppe beschrieben sowie die Stigmatisierung der eigenen Sprachform und die damit verbundenen Handlungen. Als Kriterium der Messbarkeit galt der von den Sprechern wahrgenommene Abstand zwischen idealer und eigener Sprachform. Ein Gegenkonzept zur sprachlichen Unsicherheit, das der sprachlichen Sicherheit, war bei Labov kein eigenes Thema. Zu einer expliziten Charakterisierung und Konzeptbildung kam es erst später.

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Labovs Gedanken und Erkenntnisse wurden ab den späten 1970er-Jahren für den romanischen Sprachraum aufgegriffen.3 Gueunier et al.4 waren die ersten, die in Bezug auf die Frankophonie von sprachlicher Unsicherheit sprachen. Es folgten zahlreiche Studien zu sprachlicher Unsicherheit in verschiedenen frankophonen Sprachräumen, darunter vor allem in Belgien5 und in diversen frankophonen Gebieten außerhalb Europas6 (Robillard 1994b, Calvet 1993, Bretegnier/Ledegen 2002, Lozon 2002). Weiterhin wurde das Konzept auch im Kontext von Minderheiten- und Regionalsprachen7 (Bavoux 1996), von urbanen ←8 | 9→Regionen8 und von Identitäts- und Genderfragen9 für die Frankophonie fruchtbar gemacht.10 Für das Spanische sind mit den Arbeiten von u. a. Almeida Suarez11 und Lopez Gonzales12 zentrale Untersuchungen durchgeführt worden. Für den spanischen Sprachraum außerhalb Europas sind u. a. die Arbeiten von López Morales13, Alba14, Solano Rojas/Umaña Aguiar15 und de Matteis16 zu ←9 | 10→nennen; für das Katalanische die Untersuchungen von Pons (1992), Carrera(-Sabaté)17 (2003) und Carrera/Freixenet-Esteve.18 Für das Italienische liegen bisher kaum Untersuchungen vor, die sich dem Thema der sprachlichen Unsicherheit explizit widmen, „es wird eher en passant von insicurezza linguistica gesprochen“19. Was eine Theoretisierung des Konzepts von sprachlicher Unsicherheit anbelangt, so haben sich u. a. Robillard20, Bretegnier21 (1999), Almeida Suarez22 und de Matteis23 dieser Aufgabe gewidmet. Trotz der Vielzahl der genannten Arbeiten und der damit erzielten Ausbreitung des Themas auf verschiedene Regionen der Romania, wurde sprachliche Unsicherheit häufig nur innerhalb eines Gebiets untersucht.24 Ein Austausch zwischen dem französischen, spanischen und italienischen Sprachgebiet fand kaum statt. Indessen möchte der ←10 | 11→vorliegende Band gerade diese Perspektive ermöglichen, indem er Untersuchungen aus verschiedenen Regionen der Romania unter einer einheitlichen Theorie zusammenführt.25 Trotz des Desiderats einer gesamtromanistischen Perspektive ist die Fülle an Analysen zu sprachlicher Unsicherheit ein großer Gewinn für die romanistische Forschung, denn sie brachte die Zusammenhänge, Ursachen und Auswirkungen von sprachlicher Unsicherheit, die sich in allen Gebieten ähneln, ans Licht: So können vor allem Migration26, Sprachkontakt27, Mehrsprachigkeit und Diglossie28, die Existenz verschiedener Normen29, sowie Sprachwandel und Sprachausbau30 als maßgebliche Zusammenhänge und Kontexte von sprachlicher Unsicherheit genannt werden. Im Migrationskontext tritt sprachliche Unsicherheit vermehrt im Zusammenhang mit sozialer und identitärer Unsicherheit auf. In Sprachkontaktsituationen und Situationen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit führen insbesondere die Existenz einer Regional- und/oder Minderheitensprache sowie ein reduzierter Kontakt zur präskriptiven Norm zur Verunsicherung der Sprecher im Umgang mit ihrer Sprache. Auch die Ursachen für sprachliche Unsicherheit sind durch die Vielzahl der Analysen eindeutig geworden. Einerseits ruft die Existenz einer Norm, die der Sprecher subjektiv nicht erreichen kann und häufig idealisiert, Unsicherheit hervor. In diesem Fall entsteht die Unsicherheit beim Sprecher selbst, erzeugt durch den Versuch, seine eigene Sprache an einem Ideal auszurichten. Andererseits wird sprachliche Unsicherheit durch Autoritäten und Institutionen wie Bildungseinrichtungen bzw. das Erziehungs- und Bildungssystem, durch die Presse und den öffentlichen Diskurs erzeugt.31 Hier wird das positive Prestige der präskriptiven Norm an den Sprecher herangetragen und jede Normabweichung stigmatisiert. ←11 | 12→Auch die Beschreibung und Erfassung betroffener Sprechergruppen ist in der Forschung zu sprachlicher Unsicherheit ein zentrales Thema. Besonders betroffen scheinen neben der sozialen Mittelschicht32 und neben Minderheiten vor allem Migranten der zweiten Generation33 und altersspezifische Sprechergruppen34. Außerdem deuten Untersuchungen darauf hin, dass Frauen gegenüber Männern häufiger unsicher im Gebrauch ihrer Sprache sind (Trudgill 1972).35 Selbst auf die Frage, wie sich die Unsicherheit sprachlich konkret äußert und welche Ebenen der Sprache sie betrifft, konnten bereits zahlreiche Antworten gegeben werden. Die bisherige Forschung zeigt, dass Unsicherheit in Bezug auf das Lexikon36, die Morphologie37 und die Phonetik/Phonologie38 auftritt. Zu identifizieren ist sie durch vermehrt auftretende Hyperkorrekturen, Autokorrekturen und durch Registerwechsel.39 Das Gegenkonzept der sprachlichen Unsicherheit, das Konzept der sprachlichen Sicherheit, wurde in der romanistischen Forschung bisher wenig untersucht. Zu einer umfassenderen Behandlung oder gar Theoretisierung im eigentlichen Sinne kam es spät (Ledegen 2001, Calvet 1993).40 Bis heute sind Einträge in Fachwörterbüchern sowie eine Bibliographie zu diesem Thema allerdings nur eingeschränkt vorhanden41, weshalb wir auch diesen Begriff im Folgenden nochmals diskutieren möchten.

Kommen wir zunächst erneut auf Labov zurück: Labovs Untersuchungen zu sprachlicher Unsicherheit zeichnen sich – wie oben bereits skizziert – durch eine doppelte Betrachtungsperspektive aus, die dazu führte, dass das Konzept von sprachlicher Unsicherheit sowohl als eine subjektive Realität aufgefasst wurde, ←12 | 13→als auch als eine objektive Tatsache (Calvet 1999).42 Zum einen wurde also der sprecherinternen Seite Ausdruck verliehen. Das Konzept beschreibt in diesem Sinne das auf einer Wahrnehmung basierende emotionale negative Verhältnis des Sprechers zu seiner Sprache. Zum anderen wurde sprachliche Unsicherheit aus sprecherexterner Perspektive definiert, als eine vom Wissenschaftler objektiv bewertete Größe, die sich aus der Berechnung des Abstands von zwei verschiedenen Wahrnehmungen des Sprechers ergibt; zum einen die Wahrnehmung von der – im Verständnis des Sprechers – korrekten Sprachform, zum anderen die Wahrnehmung von seiner eigenen Sprache (Labov 1976).43 Dieser Abstand wurde nach folgendem Prinzip ermittelt:

Each of eighteen different words is pronounced by the interviewer in two different ways. […] The respondent is asked to circle the number of the pronunciation, which he thinks is correct. Then he is asked to check the pronunciation, which he actually uses. The number of items which the respondent circles one form and checks another is the index of linguistic insecurity.44

Je größer der Abstand ist, desto größer ist die sprachliche Unsicherheit und das Maß „of the subject’s recognition of an exterior standard of correctness“.45 Bestimmt wird dieser Abstand der Wahrnehmungen letztlich durch die Einstellung des Sprechers gegenüber der präskriptiven Norm (cf. Labov 1976, Calvet 2005, 183–200), denn Einstellung und Wahrnehmung stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander.

Beide genannten Betrachtungsperspektiven wurden in der Vergangenheit bei der Verwendung des Konzepts der sprachlichen Unsicherheit berücksichtigt, allerdings mit zum Teil unterschiedlicher Gewichtung, Bewertung und Interpretation. Dies führte nicht nur zu unterschiedlichen Klassifizierungen46 und einer uneinheitlichen Definition des Konzepts (siehe unten). Damit einher ging auch ←13 | 14→ein Auseinanderdriften der Methodik. Einerseits berief man sich vor allem oder sogar ausschließlich auf Messungen.47 Andererseits wurde sprachliche Unsicherheit rein auf Aussagen von Sprechern im Rahmen von Interviews zurückgeführt.48

Aufgrund der bestehenden definitorischen und methodologischen Diversität möchten wir das Konzept von sprachlicher Unsicherheit an dieser Stelle nochmals diskutieren, um zu größerer theoretischer und methodologischer Schärfe und Einheitlichkeit zu gelangen. Dabei soll es vor allem um eine Abgrenzung zu verwandten theoretischen Konzepten gehen, und um die Frage nach einer geeigneten Methode.

Kommen wir zunächst zur bereits genannten subjektiven Betrachtungsperspektive: Die folgenden Definitionen mögen stellvertretend für viele weitere veranschaulichen, dass mit dieser Perspektive oft sehr ähnliche und benachbarte, aber doch unterschiedliche perzeptiv-emotionale Verhältnisse des Sprechers zu seiner Sprache beschrieben wurden. In der ersten von uns zitierten Definition geht es um Einstellungen bzw. Haltungen der Sprecher gegenüber ihrer Sprache, welche negative Gefühlszustände implizieren49:

1. [language insecurity is] a set of language attitudes in which speakers have negative feelings about their native variety, or certain aspects of it […].50

Die zweite von uns zitierte Definition beschreibt das Konzept als einen Zustand des sich Bewusstwerdens oder -seins über die Diskrepanz zwischen ←14 | 15→der eigenen, vom Sprecher selbst als minderwertig beurteilten Varietät und der von ihm als legitim betrachteten:

2. L’insécurité linguistique [est] la prise de conscience, par les locuteurs, d’une distance entre leur idiolecte (ou leur sociolecte) et une langue qu’ils reconnaissent comme légitime […].51

In der dritten Definition wurde das Konzept verwendet, um einen Gefühlszustand zu beschreiben:52

3. [The] speakers’ feeling that the variety they use is somehow inferior, ugly or bad.53

Alle drei Definitionen unterscheiden sich eigentlich nur geringfügig, denn alle angeführten geistigen perzeptiven und emotionalen Dimensionen sind eng miteinander verbunden.54 Die attitudes linguistiques, die Einstellungen gegenüber einer Sprachform, basieren in der Regel zuallererst immer auf den représentations linguistiques und sind von diesen zu unterscheiden.55 Hierbei handelt es sich um die mentalen Bilder bzw. Vorstellungen von einer Sprache – und auch von deren Norm(en) – die sich durch allgemein verbreitete Diskurse wie ‚Sprache X ist eine logische/schwere/harmonische etc. Sprache‘ manifestieren und Konstrukte darstellen, die relativ autonom von der sprachlichen Realität existieren.56 Die attitudes hingegen haben subjektiv bewertenden Charakter, sie beschreiben jedoch noch keinen Gefühlszustand.57 Allerdings sind sie es, die das Bewusstsein und somit die prise de conscience der Sprecher beeinflussen58 und damit letztlich auch ←15 | 16→deren sentiments. Anders formuliert könnte man auch sagen, dass das Gefühl immer parallel zu einer spezifischen Wahrnehmung von einer Situation entsteht, die das Resultat einer Einstellung ist. Wir plädieren an dieser Stelle für eine feingliedrigere Unterscheidung, da die genannten Konzepte keinesfalls identisch sind. Entsprechend der Definitionen einschlägiger Enzyklopädien (z. B. Duden Bedeutungswörterbuch), nach denen Unsicherheit als ein Gefühlszustand, als seelische Regung oder Empfindung aufgefasst werden muss, möchten wir das Konzept auch ausschließlich in diesem Sinne verwenden. So kann sprachliche Unsicherheit als ein Zustand beschrieben werden, bei dem eine Person in Bezug auf ihre eigene Sprache unruhig oder innerlich nicht gefestigt ist. Diese Unruhe kann im Detail weitere Gefühlsnuancen oder -schichten wie Angst, Missmut, Resignation etc. beinhalten.59 In jedem Fall ist dieser Zustand von der Einstellung (‚Ansicht oder Meinung‘) und der Wahrnehmung (‚das Erfassen mit den Sinnen‘) bzw. dem Bewusstsein (‚das Wissen um etwas‘) eindeutig abzugrenzen (cf. Duden Bedeutungswörterbuch).

Eine detaillierte Beschreibung des Gefühlszustandes von sprachlicher Unsicherheit gibt z. B. Bretegnier60: Sie beschreibt die Vielschichtigkeit dieses Zustands und die enge Verknüpfung mit der Identität der Betroffenen. Demnach handelt es sich einerseits um ein Gefühl der Unzufriedenheit in Bezug auf die eigene Sprachform, die als minderwertig erachtet wird. Andererseits komme ein Gefühl der Gefahr mit ins Spiel. Es bestehe für den von Unsicherheit betroffenen Sprecher die Gefahr, nicht als legitimes Mitglied der (Sprach)gemeinschaft wahrgenommen zu werden, was letztlich eine Gefahr für die eigene Identität darstelle. Somit handle es sich nicht zuletzt auch um eine Gefahr des Verlustes der eigenen sprachlichen Identität.

Entsprechend der von uns getroffenen Definition von sprachlicher Unsicherheit sollte auch sprachliche Sicherheit als reiner Gefühlszustand bestimmt werden: Sprachliche Sicherheit ist ein Zustand der innerlichen Ruhe, der bei der Wahrnehmung des Sprechers von seiner sprachlichen Situation und bei seiner Einstellung dazu vorhanden ist.61 In diesem Sinne stimmen wir mit Lozon ←16 | 17→überein, der sprachliche Sicherheit als „l’habilité à utiliser une variété de langue […], sans qu’il n’y ait de gêne ou d’inconfort par rapport à son utilisation ou à sa maîtrise“62 beschreibt. Bretegnier erklärt sprachliche Sicherheit als ein Gefühl der identitären Zugehörigkeit, des Sich-Verstehens bzw. Teilens einer Gefühlsebene.63 Calvet definiert sie als ein Gefühl, bei dem sich der Sprecher durch seine Art des Sprechens nicht in Frage gestellt fühlt.64 Es wird deutlich, dass feinere Nuancen auf der Gefühlsebene vorhanden sein können, bzw. Überlagerung und Schichtung mehrerer Gefühle bei den Betroffenen gegeben sind. Diese können je nach Kontext sicherlich etwas variieren, und unser Anliegen ist es nicht, eine eindeutige Bestimmung dieser Schichtung vorzunehmen. Wir möchten an dieser Stelle lediglich darauf hinweisen, dass es sich hierbei um Gefühle und nicht um Einstellungen oder Wahrnehmungen bzw. ein Bewusstsein handeln sollte.

Was nun die objektive Betrachtungsperspektive betrifft, geht es hier, wie bereits angesprochen, um Messungen des Abstands von zwei verschiedenen Wahrnehmungen – der Wahrnehmung von der im Verständnis des Sprechers korrekten Sprachform und der Wahrnehmung von der Sprache, die der Sprecher selbst verwendet. Der Abstand wird als Index für sprachliche Unsicherheit ermittelt, und entsprechend bestimmt die Größe dieses Abstands auch den Grad an sprachlicher Unsicherheit:

Entre mayor sea la distancia entre las variantes que el hablante considere „correctas“ y las que estén presentes en su habla cotidiana, mayor inseguridad lingüística tendrá el hablante en cuestión.65

Betrachtungen dieser Art wurden in den letzten Jahrzehnten auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen – vor allem im Bereich der Phonetik/Phonologie, Morphologie66 und im Bereich des Lexikons67 – vorgenommen. Es stellt sich für uns allerdings die Frage, ob diese Art der Ermittlung von sprachlicher Unsicherheit tatsächlich gewinnbringend ist. Da wir, wie bereits erläutert, sprachliche Sicherheit bzw. Unsicherheit ausschließlich als einen Gefühlszustand ←17 | 18→betrachten möchten, scheint uns eine objektive Messung hier eigentlich unmöglich. Gemessen wird in allen Untersuchungen ausschließlich ein Abstand von zwei Wahrnehmungen und somit die objektiv messbare Sprachkompetenz eines Sprechers. Es ist natürlich anzunehmen, dass bei einem Sprecher, der einen großen Unterschied zwischen der für ihn idealen Form und seiner eigenen Sprache wahrnimmt, auch ein Gefühl von sprachlicher Unsicherheit vorhanden ist. Dieses Gefühl ist aber dennoch nicht automatisch vorauszusetzen, denn es wurde bereits festgestellt, dass auch das Gegenteil der Fall sein kann.68 Ein Sprecher kann auch einen Abstand wahrnehmen, ohne sich deshalb sprachlich unsicher zu fühlen.69 Vor allem aber scheint uns ein Gefühl in diesem Sinne nicht objektiv messbar, sondern kann nur durch qualitative Methoden (Befragung, Erzählung, teilnehmende Beobachtung etc.) ermittelt werden.70 Messbar ist lediglich die sprachliche Kompetenz des Sprechers in Bezug auf die geltende Norm oder das System.

Dieser Sammelband konzentriert sich vorrangig auf die subjektive sprecherinterne Perspektive, wie sie in dieser Einleitung beschrieben und definiert wurde. Diese definitorische Orientierung findet sich auch in den Beiträgen des Bandes wieder. Jedoch zeigen die einzelnen Beiträge auch, dass eine klare Trennung von sprecherinterner Perspektive und objektiv messbarer Sprachkompetenz nicht immer eindeutig möglich ist. Es erscheint dennoch wichtig, beide Perspektiven klar voneinander zu differenzieren und sich gleichzeitig der engen Verknüpfung beider Perspektiven bewusst zu sein. Die Beiträge dieses Sammelbandes betrachten das Phänomen der sprachlichen Unsicherheit aus panromanischer Perspektive. Einerseits bieten sie neue Anreize zur Definition und Einbettung von sprachlicher Unsicherheit in die soziolinguistische Theoriebildung. Andererseits wird das Konzept der sprachlichen Unsicherheit in diesem Band konkret auf verschiedene Sprechergruppen und Sprach(kontakt)situationen in der Romania angewendet. Hierbei werden unterschiedliche empirische Methoden zur Untersuchung von sprachlicher Unsicherheit verwendet und diskutiert. Im Folgenden werden die einzelnen Beiträge des Bandes in ihrer chronologischen Reihenfolge in Kürze vorgestellt.

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Falk Seiler wählt in seinem Beitrag „Sprachliche Unsicherheit und Entfremdung“ den marktsoziologischen Ansatz von Beckert71 als Grundlage seiner Analyse und bezieht das Konzept der sprachlichen Unsicherheit auf den Begriff der sprachlichen Entfremdung. Sprachliche Unsicherheit stellt eine mögliche Ausprägungsform von sprachlicher Entfremdung dar; die sprachliche Entfremdung fungiert dabei als übergeordnetes Konzept. Sprachliche Unsicherheit ist somit ein möglicher Ausdruck von Koordinationsproblemen auf dem sprachlichen Markt, die sich als sprachlicher Wert, Konkurrenz und Kooperation zeigen. Durch Einbeziehung der Konzepte des sprachlichen Marktes, der sprachlichen Arbeit und der sprachlichen Entfremdung beschreibt und integriert Seiler bisher randständige Themen in die Diskussion zur sprachlichen Unsicherheit, so beispielsweise die sprachliche Unsicherheit bei monolingualen Standardsprechern.

Karoline Heyder und Marinette Mattey widmen sich in ihrem Beitrag „Auf dem Prüfstand: Sprachliche Unsicherheit bei frankophonen Sprechern in peripheren Regionen: das Beispiel Suisse romande“ der regionalen Varietät des Französischen in der französischsprachigen Schweiz. In ihrem Beitrag untersuchen sie eine neuerstarkende Valorisierung regionaler, heterogener Varietäten und Identitäten, die sie mit dem Begriff der Glokalisierung bezeichnen. Das Zusammenspiel von sprachlicher Unsicherheit und Glokalisierung analysieren sie anhand von empirischen Fragebogen- und Interviewdaten zu Sprecherverhalten und Sprechereinstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Westschweiz. Neben einer Diskussion der aktuellen Tendenzen der Forschung zur sprachlichen Unsicherheit bietet der Beitrag von Heyder und Mattey einen didaktischen Ausblick zur Wahrnehmung verschiedener Varietäten des Französischen im Französischunterricht.

Laura Linzmeier nähert sich in ihrem Beitrag „Sprachliche Unsicherheit im Sprachgebrauch von Semisprechern des Sassaresischen“ dem Thema sprachliche Unsicherheit aus der Perspektive einer konkreten Sprachkontaktsituation. Sie untersucht das Sprecherverhalten von Semisprechern des Sassaresischen, einer sardinisch-korsischen Varietät, gesprochen im Nordwesten Sardiniens. Auf der Grundlage von Sprachaufnahmen und der sog. Map-Task-Methode zeichnet sie Auswirkungen von sprachlicher Unsicherheit auf sprachstruktureller, para- und non-verbaler Ebene auf.

Sara Matrisciano untersucht in ihrem Beitrag „Die diskursive Verflechtung sprachlicher Unsicherheit und Sicherheit: Neapolitanische Sprecher zwischen ←19 | 20→parlare benissimamente, dem Stigma eines dialetto sguaiato und dem Prestige des napoletano vero“ das Zusammenspiel von sprachlicher Unsicherheit und sprachlicher Sicherheit bei neapolitanischen Sprechern in Neapel. In einer Analyse epi- und metasprachlicher Äußerungen in Interviewdaten untersucht sie Stigma- und Prestigezuweisungen neapolitanischer Sprecher und erläutert unterschiedliche De-Stigmatisierungsstrategien zur Aufwertung des Neapolitanischen.

Adrian Görke und Ramona Jakobs betrachten in ihrem Beitrag „Sprachliche Unsicherheit bei den sogenannten ‚Semi-Sprechern‘ “ das Konzept des Semi-Sprechers und wenden es auf Sprecher des Okzitanischen im Süden Frankreichs an. Da Semi-Sprecher das Okzitanische nicht mehr als Muttersprache erwerben, zeichnen sie sich durch unterschiedliche Sprachkompetenzen aus und sind auch in unterschiedlichem Maße von sprachlicher Unsicherheit betroffen. In einem empirischen Teil untersuchen Görke und Jakobs Blogeinträge aus drei okzitanischen Internetforen. Die Grundlage der Analyse bildet die Frage nach sprachlicher Unsicherheit bei Semi-Sprechern verschiedener okzitanischer Dialekte und verschiedener okzitanischer Graphien. Görke und Jakobs gehen davon aus, dass die starke dialektale Gliederung des Okzitanischen und die fehlende einheitliche Normierung die sprachliche Unsicherheit bei den Sprechern verstärkt.

Martin Sinn und Eva Varga widmen sich in ihrem Beitrag „Sprachliche Unsicherheit bei Standardsprechern – Ein Vergleich zwischen französischen und deutschen Sprechern“ der bei der Beschäftigung mit sprachlicher Unsicherheit bisher kaum berücksichtigten Gruppe der muttersprachlichen Standardsprecher. Grundlage für die vergleichende Untersuchung bietet die Hypothese, dass französische Standardsprecher aufgrund verschiedener kultureller, historischer und sozialer Faktoren stärker von sprachlicher Unsicherheit geprägt sind als deutsche Standardsprecher. Dieser Annahme wird durch eine Online-Fragebogenstudie mit muttersprachlichen Standardsprechern nachgegangen. Die Antworten der Befragten werden sowohl qualitativ als auch quantitativ interpretiert und in den länderspezifischen, soziokulturellen und historischen Kontext eingebettet.

Lorena de Matteis nähert sich dem Konzept der sprachlichen Unsicherheit von der Perspektive der sprachlichen Sicherheit. Sie thematisiert in ihrem Beitrag „Inseguridad y seguridad lingüísticas en entornos socio-técnicos de alto riesgo: entre experiencia y procedimentalización“ nicht den subjektiven Aspekt von sprachlicher Unsicherheit, sondern die objektiven Voraussetzungen zu sprachlicher Sicherheit in Hochrisikoumgebungen (‚high risk environments‘). Hierzu führt sie den Begriff objektive sprachliche Unsicherheit ein und greift so auf die im Englischen vorhandene Unterscheidung zwischen security und safety auf. Der Beitrag von de Matteis konzentriert sich auf sprachliche (Un)sicherheit ←20 | 21→in der Kommunikation im Flugverkehr, bezieht jedoch auch andere Hochrisikoumgebungen mit ein, beispielsweise die Arbeit im Operationssaal oder in Atomkraftwerken.

Bibliographie

Alba, Orlando: „Diferenciación objetiva y valoración social del debilitamiento de dos segmentos consonánticos en el español dominicano“. In: Vaquero, María/Morales, Amparo (Hrsg.): Homenaje a Humberto López Morales. Arco Libros: Madrid 1992, 67–74.

Almeida Suárez, Manuel: „Creencias y actitudes lingüísticas en el español canario“. In: Anuario de Lingüística Hispánica X, 1994, 9–23.

Almeida Suárez, Manuel: „Seguridad e inseguridad lingüísticas en la sociolingüística laboviana“. In: Dios Luque-Durán, Juan de/Pamies-Bertrán, Antonio/Manjón-Pozas, Francisco José (Hrsg.): Nuevas tendencias en la investigación lingüística. Granada Lingüística: Granada 2002, 351–360.

Details

Seiten
204
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631826089
ISBN (ePUB)
9783631826096
ISBN (MOBI)
9783631826102
ISBN (Hardcover)
9783631823804
DOI
10.3726/b17127
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Romanistik Sprechereinstellungen Sprachwahrnehmung Sprachnorm Soziolinguistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 204 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Inga Hennecke (Band-Herausgeber:in) Eva Varga (Band-Herausgeber:in)

Inga Hennecke ist akademische Rätin für romanische Sprachwissenschaft an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der französischen, spanischen und portugiesischen Sprachwissenschaft, insbesondere in den Bereichen Psycholinguistik, Phonetik, Pragmatik und Morphologie. Eva Varga war 2014-2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Sarah Dessì Schmid am Romanischen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Historische Sprachwissenschaft, Syntaxtheorie, Diskurstraditionen und Diskurstraditionstheorie, Mediensprache, Sprachliche Unsicherheit.

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