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Aufbruch in die Moderne

Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Neugestaltung der internationalen Staatenwelt

von Christoph Koch (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 220 Seiten

Zusammenfassung

Der Sammelband vereinigt Beiträge der gleichnamigen Tagung, die im Oktober 2018 unter Beteiligung von Historikern aus drei Kontinenten an der Freien Universität Berlin stattfand. Sie behandeln die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, der den Zusammenbruch der Kaiserreiche und des Sultanats zeitigte, den besiegten Staaten das Ende des Feudalstaats brachte und das Geschick ihrer Völker in die Hände eines seit langem erstarkten Bürgertums oder wenigstens einer am westlichen Vorbild orientierten Gesellschaftsschicht legte. Den Aufbruch in die Moderne hatte die russische Oktoberrevolution vorweggenommen, die Siegern und Besiegten eine alternative Gesellschaftsordnung entgegenstellte. Die Konkurrenz der Gesellschaftsordnungen bestimmte, bald heiß, bald kalt, das 20. Jahrhundert, und zeitigte den Aufstieg der USA zur wirtschaftlich überlegenen Weltmacht. Am Ende des Jahrhunderts ist das sozialistische Lager untergegangen und das kapitalistische befindet sich in einer Krise, die nicht nur das eigene Überdauern, sondern durch die zunehmende Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen und das Damoklesschwert des Klimawandels die Fortexistenz der Menschheit in Frage stellt. Der Aufbruch in die Moderne war mithin kein Erfolgsmodell, und sein Scheitern setzt die Frage nach einer Alternative mit anhaltender Dringlichkeit auf die Tagesordnung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Christoph Koch: Aufbruch in die Moderne
  • Adnan Jahić: Interwar Yugoslavia – a realized dream of the south Slav’s Unification or an unstable Versailles creation?
  • Isabelle Davion: La France et la « Paix de Victoire »
  • Iskander E. Magadeev: The international situation in 1918 seen by the Bolsheviks: short and long perspectives
  • Jürgen Tampke: Der Erste Weltkrieg und sein nicht karthagisches Ende. Vom Scheitern der Weimarer Republik
  • Ignaz Miller: Nicht die besten, aber die bestmöglichen Verträge. Die Friedensverträge von Versailles und Trianon und ihre organisierte Denigrierung
  • Holger Michael: Die Außenpolitik des Piłsudski-Lagers. Anspruch, Realität, Bilanz
  • Werner Röhr: Restitutio Poloniae 1918. Das Ende des ersten Weltkriegs und die Konstituierung eines neuen polnischen Staates
  • Ludwig Elm: Die deutsche Geschichts- und Politikwissenschaft 1920 über den Ausgang des Ersten Weltkriegs und den europäischen Neubeginn
  • Wissenschaftliche Kurzbiographien der Autoren
  • Personenverzeichnis

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Christoph Koch

Aufbruch in die Moderne

Der Titel unserer Konferenz lautet „Aufbruch in die Moderne“. Aufbruch benennt für den Vorausschauenden einen Moment der Offenheit. Dem Rückblick aus dem Abstand eines Jahrhunderts stellt sich die Offenheit dagegen als vom Moment ihrer Geburt durch viele Parameter beengt und auf eine den ursprünglichen Möglichkeiten keineswegs wohlgesonnene Bahn gezwängt dar. Die Offenheit des Aufbruchs selbst ist keine unbedingte. Sie ist durch die Erwartungen der Aufbrechenden begrenzt, die alsbald sowohl auf die Widerstände der Wirklichkeit als auch auf ihre wechselseitigen Widersprüche stoßen.

Der Aufbruch in die Moderne begann nicht im Moment der Beendigung des sich verlustreich dahinschleppenden Ersten Weltkrieges, sondern mit der Oktoberrevolution in Rußland, einer erfolgreichen Maßnahme der deutschen Obersten Heeresleitung zur Schwächung des zaristischen Rußland, deren Folgen zu den Parametern zählen, denen sich andernorts aufgebrochene Aufbrüche in der Folge ausgesetzt sahen und die eine Reihe gesellschaftlicher Notwendigkeiten auf die Tagesordnung setzten, die bis heute nicht bewältigt sind. Die Oktoberrevolution brach zu Zielen auf, die von der ersten Stunde an in schroffem Gegensatz zu allen übrigen durch das Kriegsende ermöglichten oder erzwungenen Aufbrüchen stand, einem Gegensatz, der nahezu das ganze 20. Jahrhundert in Atem hielt und der sich in unseren Tagen als durch das vermeintliche Ende der Geschichte keineswegs erledigt erweist.

Die Entstehung der Sowjetunion unterbrach die Kollegialität des Kriegsgerangels der europäischen Mächte, und die noch rangelnden Kollegen erkannten ihr Aufkommen augenblicks als tödliche Gefahr für die Fundamente der eigenen Existenzweise, zu deren sofortiger Beseitigung sie sich freilich im Zuge des anhaltenden Gerangels gerade die Waffen aus der Hand schlugen. Auch brauchte man ein existenzfähiges Rußland, um andere Konkurrenten (Japan) von dem Griff auf Teile des rohstoffreichen Landes abzuhalten. So blieben die anfänglichen Versuche der heißen Beseitigung des Übels ein Mißerfolg, und man mußte sich statt dessen mit dem ←9 | 10→Kalten Krieg begnügen, der, lange bevor er nach einem seinerseits vergeblichen zweiten Versuch den Namen erhielt, von Stund an das Geschehen bestimmte. Wir verdanken ihm die längste Friedenszeit, die Europa in den letzten Jahrhunderten erlebte, und meine Generation ist ihm gewiß zu Dankbarkeit verpflichtet.

Außerhalb Rußlands blieben die Kollegen unter sich. Der Erste Weltkrieg war in seinem Kern der Abwehrkampf professioneller Imperialisten gegen den Angriff auf ihren Besitzstand seitens der zu spät und zu kurz Gekommenen. Unter den Mittelmächten hatte sich Deutschland nicht so sehr einen Platz an der Sonne zu seiten der Besitzenden, als vielmehr den eigenen Fuß auf dem Nacken der alteingesessenen Kolonialmächte auf die Fahnen geschrieben. Das Ergebnis des Griffs nach der Weltmacht war nicht das erhoffte. Außer dem gegnerischen Zarenreich fiel dem Krieg vorab das Bündnis der Angreifer selbst zum Opfer – das Habsburger, das Osmanische und, als treibende Kraft, das Deutsche Reich, der Neuling, der sich erst wenige Jahrzehnte zuvor mit deutscher Delikatesse im Königsschloß des in den Befreiungskriegen zum Erbfeind avancierten und 1871 niedergerungenen Frankreich unter die europäischen Mächte gezwängt hatte.

In den besiegten Reichen schuf die Niederlage die Voraussetzung für die Verabschiedung der feudalen Vergangenheit und den Ersatz von Kaisertum und Sultanat durch die Republik. Der Zusammenbruch der Reiche zeitigte zudem die Entstehung einer ganzen Reihe neuer Staaten, angefangen von dem bis dato zwischen Rußland, Österreich und Preußen geteilten Polen über die aus Habsburger Hoheit ausscheidenden Länder der Tschechoslowakei, Jugoslaviens und eines unabhängigen Ungarn bis zu den arabischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs vom heutigen Syrien und dem Irak bis in den Westen Nordafrikas, auf die die Kolonialmächte England und Frankreich bereits weit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Hand ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen gelegt hatten. „Lieber Gott, weißt Du, wer auf der Landkarte diese Linien um die Staaten gezeichnet hat?“ schrieb ein syrisches Kind während des aktuellen Syrienkriegs an den überirdischen Adressaten. Es ist anzunehmen, daß der Brief ohne Antwort geblieben ist. Das Linienzeichnen aber war das eilige Geschäft der siegreichen Kolonialmächte, die in spannungsreicher Kollegialität den Sieg dazu nutzen, aus der Beute der Unterlegenen im Vorderen ←10 | 11→Orient und in Afrika Imperien zu arrondieren, in die Krieg und Kriegsfolgen bereits den Keim des Untergangs gelegt hatten.

Der gemeinsame Nenner der Nachfolgestaaten der Feudalreiche ist auf der einen Seite das Fehlen tragfähiger demokratischer Traditionen, deren Ansätze in Polen durch die Aufhebung der Verfassung vom 3. Mai 1791 durch die zweite Polnische Teilung, in Deutschland durch das Scheitern der Revolution von 1848 vereitelt wurden und anderenorts keine vergleichbaren Keimzellen hatten. Es ist auf der anderen Seite der Mehltau der wirtschaftlichen Interessen des in feudalem Ambiente erstarkten Bürgertums, das es verstanden hatte, die Errungenschaften demokratischen Aufbegehrens der Vergangenheit zur Sprengung der eigenen Fesseln, und das es verstehen sollte, die demokratischen Ansätze der Gegenwart zur Etablierung der eigenen Vormachtstellung zu nutzen.

Nicht der schlechteste Start in die republikanische Zukunft war der Türkei vergönnt, in der die Republik Atatürks von dem Pfund des bitter erkauften militärischen Siegs über die Besatzungsmächte England, Frankreich und Griechenland zehren konnte, doch legte auch hier ein ethnischer Nationalismus – Ne mutlu türküm diyene („Wie glücklich der, der sagen kann: ‚Ich bin ein Türke‘“) – die Axt an die Wurzeln des nunmehr republikanischen Vielvölkerstaats.

Von den Nachfolgestaaten der europäischen Reiche fiel das glücklichste Los der Tschechoslowakei zu, die ihre republikanische Gestalt aus den Händen entschiedener Vertreter der parlamentarischen Demokratie, allen voran ihres Präsidenten Tomáš Mazaryk, erhielt und in den dreißiger Jahren die einzig verbliebene Demokratie in Mitteleuropa war, bis das Münchener Abkommen von 1938 ihre Beseitigung dem deutschen Kollegen anheimstellte.

Am anderen Ende der Skala steht das Schicksal Jugoslaviens, das den republikanischen Anfang nach wenigen Wochen durch eine Staatsform ersetzte, die die kulturellen Gegensätze der Slovenen, Kroaten und Serben und die Autonomiebestrebungen der nichtserbischen Bevölkerungsteile vergebens durch ein Serbisches Königtum zu überwölben suchte, das sich alsbald gezwungen sah, zu diktatorischen Mitteln Zuflucht zu nehmen.

Die polnische und die deutsche Republik teilen das Schicksal, daß sie auf unterschiedlichem Wege in die Hände entschiedener Gegner der parlamentarischen Demokratie gerieten. In Polen waren es die Hände Józef ←11 | 12→Piłsudskis, dessen Trachten nicht der Demokratie, sondern der Wiederherstellung eines polnischen Staates in den Grenzen der Adelsrepublik galt, der zu diesem Zweck kein Paktieren mit den Mittelmächten ausließ und von der Geburtsstunde des wiedererstandenen Polen an alle Macht im Staate auf sich zu vereinigen wußte. Auch er war Import der deutschen Obersten Heeresleitung, mit dem jedoch kein Frieden von Brest-Litovsk zu schließen sein würde. Das „Wunder an der Weichsel“ im Rücken, legte Piłsudski die Grundlagen für die Politik, die Polen in den Untergang des Zweiten Weltkriegs führte und die in unseren Tagen in eigenwilliger Verquickung mit der konkurrierenden nationalkonservativen Konzeption Roman Dmowskis zu den Vorbildern der polnischen Regierung zählt.

In Deutschland verlief die Entwicklung weniger eingleisig. Sie nahm ihren Anfang mit der Rückkehr der Reste der deutschen Armeen, die unter Zurücklassung von mehr als 2 Mio. Gefallenen „im Felde unbesiegt“ einen vom Kriege unberührten Heimatboden betrat und deren Führung sich in der ausbrechenden Republik augenblicks als Machtfaktor etablierte, der jede Verantwortung für das eingetretene Desaster von sich wies.

Den Krieg durfte des Kaisers getreue Sozialdemokratie, die Sozialdemokratie der bewilligten Kriegskredite und des Burgfriedens verlieren, der man vorsorglich den Dolch der Dolchstoßlegende vor Augen hielt, auf daß sie sich fortan befleißige, ihre untadelig patriotische Gesinnung unter Beweis zu stellen. Dies tat sie unter anderem, indem sie sich zur Abwehr ihrer linken Konkurrenten, darunter der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, der Reichswehr und der paramilitärischen Freikorps bediente. Der erste Präsident des neuen Staates, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, blickte auf die Republik mit den Augen des Anhängers einer parlamentarischen Monarchie. Nachdem man ihn über den Vorwurf der Mitschuld an der militärischen Niederlage und des Landesverrats zu Tode gebracht hatte, wählte man 1925 den ehemaligen Chef des Generalstabs Paul von Hindenburg, den neben Ludendorff Hauptverantwortlichen für Kriegsführung und Niederlage, zum Reichpräsidenten – einen unbeirrten Monarchisten, der hinfort eine Politik betrieb, die auf die Ausschaltung des Parlaments und die Berufung von Präsidialregierungen gerichtet war, deren Kanzler vom Vertrauen des Präsidenten abhängig war. Von den bürgerlichen Parteien als Garant der Verhinderung einer Kanzlerschaft Hitlers auf den Schild gehoben, berief Hindenburg am 30. Januar 1933 den ←12 | 13→„böhmischen Gefreiten“ zum Reichskanzler und unterzeichnete in den folgenden Wochen Verordnungen zum Schutz „des Deutschen Volkes“ und „von Volk und Staat“, die die bürgerlichen Grundrechte bis zum Ende des Dritten Reiches außer Kraft setzten.

Details

Seiten
220
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631812709
ISBN (ePUB)
9783631812716
ISBN (MOBI)
9783631812723
ISBN (Hardcover)
9783631811733
DOI
10.3726/b16571
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Wilson Wiedererstehen Polens Versailles Oktoberrevolution Bürgerliche Gesellschaftsordnung Feudalismus
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 220 S.

Biographische Angaben

Christoph Koch (Band-Herausgeber:in)

Christoph Koch studierte Slavistik, Baltologie, Byzantinistik und Indogermanistik in Bonn und München und ist als Professor für Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin tätig. Er ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. Von ihm sind mehrere Publikationen zu sprach-, literatur-, kultur- und zeitgeschichtlichen Themen erschienen.

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