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Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht

Autobiographik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert

von Anna Axtner-Borsutzky (Autor:in)
©2022 Dissertation 374 Seiten
Reihe: Mikrokosmos, Band 89

Zusammenfassung

Der Münchener Ordinarius für Neuere deutsche Literatur Walter Müller-Seidel (1918–2010) arbeitete seit seiner Emeritierung (1986) an einer unvollendet gebliebenen, autobiographischen Schrift mit dem Titel Gegengewichte. Zeitgeschichtliche Erinnerungen (1928–1958). In der hier vorgelegten Untersuchung werden die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrten Fragmente dieses «Erinnerungsberichts» erstmals geordnet und diplomatisch ediert. Die Studien rekonstruieren das Verhältnis von Autobiographik und Wissenschaft im Sinne Müller-Seidels. Sie arbeiten eine selbstreferentielle Schreibart heraus, die Autobiographik und Wissenschaft im Horizont humanen Denkens modelliert. Fokussiert wird der ‹Fragenkreis des Menschlichen›, der über sechs Jahrzehnte das Zentrum von Müller-Seidels Forschung bildet. Die Untersuchung liefert damit auch einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.
Dieses Werk enthält Teil B: Edition als kostenfreien PDF-Anhang. Er kann hier abgerufen werden: https://doi.org/10.5282/ubm/data.289
Alternativ können Sie sich unter Angabe des im Buch abgedruckten Zugangscode an orders@peterlang.com wenden, um ihn zu erhalten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • I Einleitung
  • I.1 Walter Müller-Seidel (1918–2010)
  • I.2 Textgenese und Materialbasis
  • I.3 Untersuchungsfelder
  • I.3.1 Nachlassbewusstsein
  • I.3.2 Gesamtwerk
  • I.3.3 Konstellationen
  • I.3.4 Praxisformen: Arbeitsweise und Schreibart
  • I.3.5 Mikroanalysen
  • I.4 Konstituenten einer Wissenschaftsgeschichte aus autobiographischer Sicht
  • I.4.1 Biographie
  • I.4.2 Erinnerung
  • I.4.3 Literatur
  • I.4.4 Wissenschaft
  • I.4.5 (Un)Menschlichkeit
  • I.4.6 Schweigen
  • I.5 Worte von Gewicht
  • I.5.1 Gegengewichte
  • I.5.2 Freiräume
  • I.5.3 Wandlung
  • I.5.4 Situation
  • I.5.5 Gespräch
  • I.6 Autobiographik und Wissenschaft
  • II „Wer in einem Königreich geboren ist, der hebe die Hand!“ – Walter Müller-Seidel und das 20. Jahrhundert
  • II.1 Hundekälte und Leselust
  • II.1.1 Erinnerungen an die Weimarer Republik
  • II.1.2 Lese-Erlebnisse
  • II.1.3 Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes (1870)
  • II.1.4 Das Paradies als Bibliothek
  • II.1.5 Die Geburt der Leselust aus dem Ungeist der Kälte
  • II.1.6 Seismographen ihrer Zeit: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz (1929)
  • II.2 Freiräume im nationalsozialistischen Staat. Leipzig und seine Universität 1937–1943
  • II.2.1 Zeitzeuge und Historiker in Personalunion
  • II.2.1.1 Hierzu der Beitrag von…
  • II.2.1.2 Die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen sind einzubeziehen
  • II.2.1.3 Hierzu meine Ausführungen
  • II.2.2 Anfänge des Studiums in Leipzig
  • II.2.3 In Diensten des Regimes
  • II.2.4 Der Einzelne in dieser Zeit
  • II.2.4.1 Ein faszinierender Hochschullehrer: Theodor Litt (1880–1962)
  • II.2.4.2 Eine Lichtgestalt: Levin Ludwig Schücking (1878–1964)
  • II.2.4.3 Ein entrückter, weltabgewandter Gelehrter: Hermann August Korff (1882–1963)
  • II.2.4.4 Ein Verweigerer der politischen Indienstnahme: Otto Vossler (1902–1987)
  • II.2.5 Die Liebe zur russischen Literatur
  • II.3 Heidelberg – Stadt der Wandlung. Die geistige Situation der Zeit um 1945
  • II.3.1 Der Volkspädagoge und Romanschriftsteller: Leo Weismantel (1888–1964)
  • II.3.2 Die Universität Heidelberg um 1945
  • II.3.2.1 Der verehrte Lehrer: Paul Böckmann (1899–1987)
  • II.3.2.2 Ich erhebe förmlich Protest! – Das gescheiterte Habilitationsverfahren
  • II.3.2.3 Eine herausragende Persönlichkeit: Karl Jaspers (1883–1969)
  • II.3.3 Der publizistische Netzwerker: Dolf Sternberger (1907–1989) und Die Wandlung
  • II.3.4 Lasst uns Menschen werden, damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden! (Pestalozzi) – Die Studentenvereinigung Friesenberg
  • II.3.5 Das Collegium Academicum
  • II.3.6 (Ver)wandlung: Hans Schneider/Schwerte
  • II.4 Résumé (I)
  • III Literatur – Wissen – Wissenschaft
  • III.1 …dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern
  • III.1.1 Ein weitreichender Wandel im Denken
  • III.1.2 Wissenschaftskritik als Ausdruck humanen Denkens
  • III.1.3 Wissenschaft ist Wissenschaftsgeschichte
  • III.1.4 Jede Wissenschaft wird Humanwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein!
  • III.1.5 Im Spannungsfeld von Psychiatrie und Literatur
  • III.2 Walter Müller-Seidels Humanismus
  • III.2.1 Der Fragenkreis des Menschlichen
  • III.2.2 Humanismusdebatten
  • III.2.3 Krisenjahre des Humanismus: eine Fallstudie
  • III.3 …wie sehr Autobiographik und Wissenschaft die Lage des Menschen in der Moderne beleuchten
  • III.3.1 Erinnerungsbericht
  • III.3.2 Aber eine Bildungs- oder Aufstiegsgeschichte herkömmlichen Stils ist nicht beabsichtigt.
  • III.3.3 Es gibt Goethe
  • III.3.4 Der Eigensinn der Erinnerung
  • III.3.6 Erinnerungsarbeit, Erinnerungshaushalt
  • III.3.7 Der Autor als Herr im eigenen Hause und das Gedächtnis als Mitautor
  • III.3.8 Autobiographik als Form des humanen Denkens
  • III.4 Résumé (II)
  • IV Rückblick und Ausblick
  • V Quellen- und Literaturverzeichnis
  • V.1 Abkürzungen
  • V.2 Archivalien (unveröffentlicht)
  • V.2.1 Erinnerungsbericht
  • V.2.2 Briefe
  • V.2.3 Akten
  • V.3 Literaturverzeichnis
  • VI Register
  • Reihenübersicht

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I Einleitung

I.1 Walter Müller-Seidel (1918–2010)

Am 1. Juli 2008 stellte Walter Müller-Seidel beim Festakt zu Ehren seines 90. Geburtstages im Goethe-Institut München einen Ausschnitt aus seinem geplanten autobiographischen Rückblick vor – seinem letzten Buchvorhaben. Er bezeichnete dieses als „Wissenschaftsgeschichte aus autobiographischer Sicht“.1 Eine solche kündigt er auch in der Einleitung des nachgelassenen autobiographischen Manuskriptes an, die er mit „Autobiographik und Wissenschaft“ [21|A1]2 betitelt. Die Vorstellung, diese beiden Bereiche zusammenzubringen, beschäftigte Müller-Seidel bereits mehr als ein Jahrzehnt, wie an den in fachgeschichtlichen Zusammenhängen veröffentlichten autobiographischen Beiträgen Zur Literaturwissenschaft der sechziger Jahre,3 Freiräume im nationalsozialistischen Staat,4 Zur geistigen Situation der Zeit – um 19455 und Leo Weismantel. Schulrat in Obersinn. Erinnerungen an eine Zeit des Neubeginns6 zu sehen ist.

Müller-Seidels Interesse an wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen ist nicht nur an zahlreichen Beiträgen zu erkennen. Ebenso ist sein Anteil an der Eröffnung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im DLA Marbach im Jahr 1972 hervorzuheben – gemeinsam mit Eberhard Lämmert.7 Mit dem Ausdruck „Wissenschaftsgeschichte“8 ist in Müller-Seidels Verwendung jedoch nicht nur die Disziplingeschichte des eigenen Fachs, der Germanistik, sondern ebenso Medizin-, Psychiatrie- und Rechtsgeschichte gemeint, die in literarischen Texten zu finden ist.

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Für den Erinnerungsbericht – wie das autobiographische Manuskript im Folgenden genannt wird – stellt sich die Frage, warum Müller-Seidel in einer späten Lebensphase dieses wissenschaftsgeschichtliche Interesse mit der eigenen Biographie verband und wie er sich diese Kombination vorstellte. Walter Müller-Seidels Lebensdaten bieten für sich genommen bereits Anlass für autobiographische Reflexionen. Sie beginnen noch im Königreich Sachsen mit der Geburt am 1. Juli 1918 und enden in einem neuen Jahrtausend mit dem 27. November 2010. Die dazwischenliegenden bewegten Zeiten wurden von Eric Hobsbawm als „Zeitalter der Extreme“9 bezeichnet.

Walter Müller-Seidel absolvierte seine Schulzeit während der Weimarer Republik, begann während der Zeit des Nationalsozialismus das Studium der Germanistik, Geschichte, Anglistik und Philosophie 1937 in Leipzig10 und beendete dieses 1947 mit dem Staatsexamen in Heidelberg, bevor er dort 1949 mit einer Arbeit über Schillers Jugenddramen bei Paul Böckmann promoviert wurde.11 Nach der 1958 in Köln erfolgten Habilitation wurde Walter Müller- Seidel 1960 als außerordentlicher, ab 1965 ordentlicher Professor für Neuere Deutsche Literatur nach München berufen,12 wo er bis zu seinem Ruhestand 1986 ←14 | 15→und darüber hinaus lehrte und forschte.13 So war Müller-Seidel auch während der Studentenrevolten der späten 1960er Jahre als betroffener Hochschullehrer an der Universität in München. Seine Veranstaltungen wurden ebenso wie diejenigen der Kollegen Bühne für Unruhen und Störungen.14

Die Lebensdaten machen deutlich, dass Müller-Seidel nicht nur Zeitzeuge für die deutsch-deutsche Teilung, sondern auch für den Mauerfall und die Wiedervereinigung war. Nicht zuletzt durch seine Arbeit an gemeinsamen Projekten von DDR und Bundesrepublik wie die Vorstandschaft der Goethe-Gesellschaft15 und die Herausgebertätigkeit des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft von 1960–199816 nahm er in deutsch-deutschen Fragen eine bedeutende Rolle ein.

Neben diesen zeithistorisch relevanten Eckdaten der Lebens- und Schaffenszeit sind Müller-Seidels hochschulpolitische Ämter anzuführen.17 Schon ab 1961 wurde er Mitglied in verschiedenen Gremien des Goethe-Instituts München, von 1961 bis 1968 Vorsitzender der Kleist-Gesellschaft.18 Von 1967 bis 1976 war Müller-Seidel Mitglied der germanistischen Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Etwa zur selben Zeit, von 1967 bis 1973 saß er zugleich dem Deutschen Germanistenverband vor. Danach folgte die Mitgliedschaft im Vorstand der Goethe-Gesellschaft Weimar von 1979 bis ←15 | 16→1995. Ab 1974 ist Müller-Seidel als ordentliches Mitglied, 1986 als Vorsitzender der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verzeichnet. Allein durch diese knappe Auflistung wird Walter Müller-Seidels vielseitige Präsenz im Fachbereich der Germanistik der 1960er bis in die 1990er Jahre deutlich. Über 25 Personen aus seinem Schülerkreis wurden auf Lehrstühle berufen.19

Müller-Seidels Antritt in München wurde „vor allem für die Studenten [als] ein Glücksfall“20 bezeichnet. Unermüdlich habe er sich „für verbesserte Studienbedingungen und eine Reform der Prüfungsordnungen“21 eingesetzt. Bereits die Antrittsvorlesung 1961 sorgte für Furore, da Walter Müller-Seidel über das Thema Gottfried Benn und der Nationalsozialismus sprach und damit eine „unerwartet große Öffentlichkeitswirkung“22 erzeugte.23 Im Februar 1967 reichten Studierende sogar eine Petition mit der „Bitte um Rufabwendung“24 beim Kultusministerium ein, um Müller-Seidels Weggang nach Köln oder Münster zu verhindern. Allerdings stellte Walter Müller-Seidel nicht für jeden einen Zugewinn dar, wie zahlreiche Flugblätter und Schriften, oftmals von Seiten der Marxistischen Gruppe und der Roten Zelle, zeigen.25

Walter Müller-Seidel blickt also einerseits als aktiver Bestandteil der Fach- und Institutionengeschichte des 20. Jahrhunderts auf sein Leben zurück, andererseits als Rezipient und Produzent von Literatur und Forschung. Er verfolgt mit dem Erinnerungsbericht das Ziel, Autobiographik und Wissenschaft zusammenzubringen, indem seine Erinnerungen mit historischen und literarischen Quellen kombiniert werden. Müller-Seidel verfährt dabei mit einer doppelseitigen Herangehensweise, die auf inhaltlicher Ebene die Jahre vor seiner Habilitation fokussiert, auf der Darstellungsebene allerdings die Zeit nach der Habilitation bis zum Jahr des Erinnerungsberichts einbindet, indem er seine bis dahin erfolgte Forschung ohne besondere Markierung zitiert. Diese singuläre Schreib- und Betrachtungsweise, die nur aufgrund der Kombination von ←16 | 17→Müller-Seidels Erinnerungen mit seinen Lebensstationen in dieser Form entstehen kann, ist das Kennzeichen des Erinnerungsberichts.

I.2 Textgenese und Materialbasis

Ein zentraler Bestandteil der oben erwähnten Arbeitsstelle zur Erforschung der Geschichte der Germanistik ist die Abteilung der Gelehrtennachlässe. Derzeit beinhalten die dortigen philologischen Bestände etwa „230 Nachlässe, Archive und Sammlungen von Germanisten und Gelehrten aus benachbarten Philologien“,26 darunter Walter Müller-Seidels. Bereits vor 2005 gab Müller-Seidel erste Korrespondenzen als Vorlass nach Marbach,27 die Regelung für die Übergabe seines gesamten Nachlasses wurde wohl auch um diese Zeit getroffen.28 Die Aufbewahrung in Marbach war Müller-Seidels eigener Wunsch und Entscheidung.

Nach dem wohl überraschenden Tod Müller-Seidels am 27. November 2010 kam es jedoch zu längeren Verzögerungen bis zur endgültigen Überstellung des Nachlasses nach Marbach. Schließlich gelangten im Jahr 2014 weitere 95 Kästen aus Müller-Seidels Besitz in das DLA, ausgewählt vom damaligen Leiter der Forschungsstelle PD Dr. Marcel Lepper. Lediglich acht Umzugskartons mit ‚belanglosen Inhalten‘ (etwa nicht annotierte Kopien) wurden entsorgt.29 Besagte Nachlass-Kästen sind grob geordnet und in eine Übersichtssystematik aufgenommen worden. Daraus wird ersichtlich, dass es sich um Korrespondenzen, Materialsammlungen, Manuskripte, Vorlesungen, Gutachten und lose Blätter handelt. Eine genaue Auflistung der Inhalte der einzelnen Kästen ist nicht gewährleistet und wird nach heutigem Stand auch nicht mehr vorgenommen werden.

Eine detaillierte Sichtung des im DLA Marbach liegenden Materials und die daraus hervorgehende Edition und Analyse der aufgefundenen autobiographischen Manuskriptfragmente ist die Grundlage der vorliegenden Studie. Ergänzt wurde diese Sichtung durch bereits veröffentlichte Beiträge von Müller-Seidel ←17 | 18→sowie Archivalien aus dem Universitätsarchiv in Heidelberg, wo er von 1946 bis 1958 tätig war,30 aus dem Universitätsarchiv der Ludwig-Maximilians-Universität München31 sowie aus dem Rheinischen Literaturarchiv am Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf.32 Aus der Leipziger Universitätszeit konnten trotz eingehender Nachforschung keine Archivalien mehr aufgefunden werden.33

Auf der Suche nach Fragmenten des autobiographischen Manuskripts habe ich diverse Kästen im DLA Marbach systematisch gesichtet.34 Letztendlich wurden größere autobiographische Konvolute inklusive Materialsammlung in Kasten 15 und 19 gefunden, in Kasten 3 befand sich eine zerschnittene Vorlage, einzelne lose Blätter in Kasten 5 sowie ein kleinerer Erinnerungsbeitrag in Kasten 50.

Es liegt hier folglich keine endgültige Version des Erinnerungsberichts vor, sondern eine Rekonstruktion der Textgenese und Gedankenstruktur. Die explizit dem Erinnerungsbericht zuzuordnenden Fragmente werden ergänzt durch Notizen, Briefe und Materialsammlungen, die thematisch zu einem besseren Verständnis des Erinnerungsberichts beitragen.

Müller-Seidel legte vor der Niederschrift der Manuskripte Gedankensammlungen und Literaturhinweise an, die er unter einzelnen Kapitelüberschriften und in Themenblöcken sammelte. Diese Vorgehensweise ist anhand der Edition des Fragments A nachvollziehbar. Einzelne Einfälle oder Sentenzen sind auf lose Blätter notiert, die eingeschoben in den Mappen beiliegen. Zugleich sammelte Müller-Seidel – in manchen Fällen bereits seit Jahrzehnten – Zeitungsartikel und Beiträge zu ausgewählten Themen, die er in den Mappen zusammenlegte.

Der von ihm in den Notizen zum Erinnerungsbericht oft verwendete Hinweis „AD“ bedeutet „Aktendeckel“. Damit sind die bunten Mappen der Materialsammlung gemeint, die mit dem jeweiligen Inhalt beschriftet sind. So ←18 | 19→lässt sich beispielsweise bei einem höchst fragmentarischen Kapitel zu den ‚Hölderlin-Feiern 1943‘ durch den Hinweis „AD Hölderlin“ vermuten, dass Müller-Seidel seine Sammlung in der Mappe ‚Hölderlin‘ für die Ausführungen verwenden wollte. Der Editionsbericht (Teil B.I) führt detailliert die Fundorte und Zusammenstellung der einzelnen Fragmente ebenso wie die Vorgehensweise bei der Edition (Teil B.II) auf.

I.3 Untersuchungsfelder

Die vorliegende Arbeit verfolgt drei Ziele. Es handelt sich erstens grundlegend um die Publikation des Erinnerungsberichts, zweitens darauf aufbauend dessen Kontextualisierung und notwendige Erweiterung aufgrund des fragmentarischen Überlieferungsstatus sowie drittens darüber hinaus um eine Historisierung der „wissenschaftlichen persona“35 Walter Müller-Seidel und seiner Forschung, mit der ein Beitrag zur Autobiographie-Forschung und zur Disziplingeschichte der Germanistik geleistet wird.

Daher ist (1) die Edition der Nachlassfragmente grundlegend, um weitere Studien vornehmen zu können. Diese beziehen (2) das Gesamtwerk Müller-Seidels mit ein, um die Arbeitsweise und Schreibart der wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit dem Erinnerungsbericht vergleichen und zugleich Fragen beantworten zu können, die durch die fragmentarischen Lücken entstehen. Dabei werden (3) die Konstellationen erschlossen, über die Müller-Seidels Erinnerungsbericht Auskunft gibt und ihn dadurch in Situationen und Netzwerken verortet. Erkenntnisse werden dabei (4) durch die Untersuchung der von Müller-Seidel angewandten Praxisformen möglich. Diese Untersuchungsfelder werden (5) in Mikroanalysen eingebunden, die zur Interpretation, Deutung und historischen Einordnung dienen.

I.3.1 Nachlassbewusstsein

Ohne den in Marbach verwahrten Nachlass von Müller-Seidel könnte es die vorliegende Studie nicht geben. Es war zwar allgemein bekannt, dass Müller-Seidel an einem autobiographischen Manuskript arbeitete, doch es wurde kein fertiges Ergebnis mehr veröffentlicht. Nur durch die „seit dem 19. Jahrhundert in Archiven und Bibliotheken fest verankert[e]‌“36 epistemische Formation ←19 | 20→‚Nachlass‘ wird es möglich, unvollendetes und unpubliziertes Material von Autoren zu sichten und zu bearbeiten. Ein Nachlass kann sich aus vielfältigen Bestandteilen zusammensetzen, die teilweise durch Vorvereinbarungen vertraglich zugesichert sind. Mit der Institution ‚Nachlass‘ ist nämlich grundsätzlich „viel mehr gemeint als die für sich genommen banale Tatsache, dass Schriftsteller und Gelehrte der Welt, die sie verlassen, auch große (gebundene und ungebundene) Papierberge hinterlassen“.37 Neben den unikalen Schriftstücken gehören auch „Drucke, Arbeitsbibliotheken, Bilder und Objekte (Erinnerungsstücke)“38 zu einem Nachlass. Nicht alles aus dem Besitz des Nachlassers gelangt jedoch ins Archiv. Am Prozess der Auswahl und Verwahrung sind diverse Instanzen beteiligt. Das Nachlasswesen hat sich zu einer kulturellen Praxis entwickelt, „an der Philologien, Nachlassverwalter, Archivträger sowie nicht zuletzt die Autoren selbst mitwirken“.39 Nicht nur qualitative, sondern auch quantitative und rechtliche Fragen haben Einfluss auf das Vorgehen aller Parteien. So ist bei Müller-Seidels Nachlass beispielsweise der Fall eingetreten, dass seine Bibliothek nicht mit in das Archiv umgezogen werden konnte, sondern nun über Schenkungen und Antiquariate weit verstreut ist.40 Seine Manuskripte für Vorlesungen, Bücher und Beiträge sowie die dazugehörigen Materialsammlungen, aber auch Gutachten und Korrespondenzen wurden in das Archiv aufgenommen. Das Archiv ist dabei in seiner heutigen Ausrichtung alles andere als ein neutraler Aufbewahrungsort.41 Es definiert und konstituiert den „Nachlass als finanzielles, kulturelles, symbolisches Kapital“.42 Dadurch erhält er nicht nur historischen Quellen-, sondern auch Symbolwert.

Das Marbacher Memorandum bildet ein Regelwerk ab, mit dessen Hilfe „in der Marbacher Handschriften-Abteilung de[r]‌ Prozess der (Neu-)Ordnung, Ablage, Inventarisierung und Katalogisierung von literarischen Nachlässen (allgemeiner gesagt: von Beständen)“43 betrieben wird.44 Darin ist festgelegt, ←20 | 21→dass zu den Manuskripten „auch die Vorarbeiten und sonstige mit der Werkgeschichte in Verbindung stehenden Materialien, z. B. Quellenstudien und -sammlungen, Entwürfe, Fassungen“45 zu zählen sind. Dadurch werden alle schriftlichen Hinterlassenschaften eines Autors potentiell verhandelbar,

seine Lebenszeugnisse, Notizen, Skizzen, niedergeschriebenen Gedanken, Fassungen und verschiedene Aufschreibesysteme, die Zeugnis vom Schreib- und Entstehungsprozess geben, ohne dabei auf ein fertiges Produkt im Sinne eines vollendeten Textes, der ein Werk repräsentiert, abzuzielen.46

Der Nachlass eines Schriftstellers oder Wissenschaftlers birgt auch immer das Versprechen von unbekannten Texten, „selbst wenn sie nur in fragmentarischer Form vorliegen“.47 Durch den Nachlass wird all jenes abgebildet, „was zu Lebzeiten des Autors keine Werkförmigkeit erlangt hat, und damit folglich nicht Teil einer autorschaftlich gesteuerten Werkpolitik geworden sein kann; der Nachlass ist der Verfügungsgewalt des Nachlassers entzogen“.48

Dem kommt zu Gute, dass das Nachlasswesen in den letzten Jahrzehnten immer weiter professionalisiert wurde. Damit einher gingen auch weitreichende Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Autoren:

Ein Schriftsteller, der zu Lebzeiten eine gewisse Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit überschritten hat, darf und muss von nun an damit rechnen, dass nicht nur sein Werk, sondern auch sein Nachlass Gegenstand der Forschung werden wird.49

Dies trifft insbesondere dann zu, wenn bereits zu Lebzeiten Abmachungen mit dem Archiv getroffen werden und ein Teil des Nachlasses als Vorlass abgegeben wird, wie es auch bei Müller-Seidel der Fall gewesen ist. Müller-Seidel hatte sich bereits zu Lebzeiten „aktiv um den Verbleib und die Verwendung [seiner] postumen Papiere“50 gekümmert – und damit Nachlassbewusstsein angezeigt. Unter dem Stichwort Nachlassbewusstsein subsumieren Kai Sina und Carlos Spoerhase die „sichere Antizipation einer späteren Erschließung und Erforschung des eigenen Nachlasses“.51 Dies meint das Wissen der Autoren, „dass ←21 | 22→nicht nur das Werk, sondern auch der Nachlass Gegenstand der Philologie werden wird“.52

Für die vorliegende Studie soll Nachlassbewusstsein jedoch nicht nur für die Handlungspraxis des Nachlassers verwendet werden, sondern auch für die des Nachlassbenutzers. Nicht das Bewusstsein über die spätere Bearbeitung des Nachlasses, sondern ein Bewusstsein im Umgang mit dem Nachlass liegen dem Wortsinn zugrunde. Aus der umsichtigen Suche nach Materialien konnten richtungsweisende Funde für die Rekonstruktion und Bewertung des Erinnerungsberichts getätigt werden. Das Archiv bietet hierfür beste Bedingungen, „die Überlieferung eines Werks textkritisch zu rekonstruieren“.53 Und weiter, nicht nur das publizierte Werk, sondern auch „eine schriftförmige Gegenwelt zur Werkausgabe“54 ist es, die den unikalen und individuellen Charakter der nachgelassenen Manuskripte ausmacht. Gerade dem Teil eines Nachlasses, der keine Werkgestalt erhalten hat, ist ein Eigenrecht jenseits des Werks einzuräumen.55 Speziell im Fall von Müller-Seidel ist zu beachten, dass auch das autobiographische Manuskript im Nachlass nicht den Status eines eigenständigen Ganzen erlangt hat, aber trotz seiner Unvollkommenheit bereits Wesentliches enthält.56 Zudem liegen verschiedene Überarbeitungsphasen des Manuskripts vor, die Aufschluss über die Konzeption des Erinnerungsberichts geben.

I.3.2 Gesamtwerk

Um die nachgelassenen autobiographischen Fragmente zu kontextualisieren und möglichst zu vervollständigen ist der Einbezug von Müller-Seidels Gesamtwerk notwendig. Fragmente sind konstitutiv bezogen auf eine abwesende Ganzheit, da ihr Signum ihre Defizienz ist.57

Der bei Müller-Seidels Erinnerungsbericht vorliegende Fragmentstatus ist produktionsbedingt und „verweist in seiner Unvollständigkeit auf den Status eines (vollständigen) Werks, den es nicht mehr erlangen kann oder noch nicht erlangen konnte“.58 Die Fragmente besitzen jedoch eine Verbindung und einen ←22 | 23→Zusammenhang mit bereits publizierten oder weiteren nachgelassenen Materialien, was zu ihrem Verständnis beiträgt.

In Carlos Spoerhases Beitrag zur Frage nach dem Werk steht das Gesamtwerk im Sinne des Patrimoniums für die „Gesamtheit aller textuellen ‚Überbleibsel‘“59 und daher dezidiert nicht für eine Gesamtausgabe. Der basale Unterschied zwischen Gesamtausgabe und Gesamtwerk ist die Entzeitlichung der eingefügten Einzeltexte, die im Gegensatz zu den gegebenen Verzeitlichungsmarkierungen in chronologischen Werkausgaben anzusetzen ist.60 Als Gesamtwerk wird hier folglich zusätzlich zur Gesamtheit der von Müller-Seidel zu Lebzeiten publizierten Texte das im Nachlass aufbewahrte textuelle Material angesehen. Sofern dort weitere Hinweise und Erläuterungen zum autobiographischen Manuskript zu finden waren, wurden diese für dessen Erschließung berücksichtigt.

Müller-Seidels Erinnerungsbericht entspricht in seiner Anlage den Parametern eines Spätwerks61 – verstanden als ein „impliziter Modus der Werkreflexion“.62 Es trägt in hohem Maße dazu bei, „in welcher Gestalt nicht nur das späte, sondern das gesamte Schaffen eines Autors der Nachwelt übergeben wird und wie es von ihr gesehen werden soll“.63 Die Werkreflexion oder auch „literarische Nachlassreflexion“,64 wie Kai Sina anmerkt, geschieht auf mehreren Ebenen. So reflektiert Müller-Seidel im Zeichen der Erinnerung zum einen den eigenen Weg zu und in der Wissenschaft anhand der besuchten Institutionen und dortigen Lehrer. Zum anderen geht es ihm im Zeichen der eigenen Biographie um die selbst erlebte Geschichte der Wissenschaft und um die in deren Umfeld geschehene Unmenschlichkeit vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus. Zum Dritten wird anhand rezipierter, aber auch beforschter Literatur noch einmal die eigene Lektüre- und Forschungspraxis durchlaufen und reflektiert. Den Merkmalen eines Spätwerks, das auf spezifischen Reflexivitätsverhältnissen beruht, die Bezug auf das Werk und auf die Zeit der Entstehung nehmen, wird der Erinnerungsbericht daher gerecht.65

←23 | 24→

Daher ist es umso wichtiger, den Fragmentstatus des autobiographischen Manuskripts nicht als möglicherweise problematisch für das (publizierte) Gesamtwerk anzusehen, sondern vielmehr die nachgelassenen Fragmente als Teil des Gesamten zu integrieren, und damit eine Kontextualisierung und Perspektivierung sowohl von Müller-Seidels wissenschaftlicher persona als auch seiner Schriften zu ermöglichen. Dass der Zusammenhang zwischen Fragment und Werkkontext bis dato wenig beachtet wurde, konnte eine einschlägige Tagung zeigen.66 Die Bezeichnung Fragment steht dabei „für unvollständige, bruchstückhafte Werke“,67 deren Unvollständigkeit sowohl aus der bruchstückhaften Überlieferung als auch aus ihrem unvollendeten Status in Form von Exzerpten und Zitaten resultieren kann. Zugleich können Fragmente „losgelöste Teile von vormals vollständigen“68 Werken sein oder aber auch solche Teile und Bruchstücke, „die nie Ganzheits- und damit Werkcharakter erreicht haben“.69

Die Zusammenschau der einzelnen Fragmente wird hier durch die Analyse der Konstellationen und Arbeitsweise im Vergleich des autobiographischen Manuskripts mit den publizierten Schriften vorgenommen. Der Produktionsprozess des wissenschaftlichen Arbeitens findet nicht im Moment der Publikation und damit Abgeschlossenheit des Einzelwerks sein Ende, sondern kann auch darüber hinaus wieder neu aufgenommen werden und zu veränderten Fassungen führen.70

In diesem Sinne erfüllen die Nachlassfragmente einerseits ihre Aufgabe zur „Ergänzung oder Revision des publizierten Werks durch zu Lebzeiten unveröffentlichte Textzeugnisse“,71 andererseits wird durch sie „die Erschließung von Quellen für die Geschichte von Diskursen und Denkstilen, von gelehrten und szientifischen Praktiken“72 möglich.

Die nachgelassenen, autobiographischen Fragmente erlauben zudem, einen „(biographischen) Kontext [zu schaffen], von dem aus das Werk in seiner Gesamtheit wahrgenommen werden kann“.73 Sie fungieren als „Reflexionsmedium“,74 ←24 | 25→durch welches es möglich wird, Distanz zum oder Zustimmung für das bisherige (publizierte) Werk herzustellen. Ganze Episoden, Ideen und Zitate in den Fragmenten wurden von Müller-Seidel bereits zu Lebzeiten bearbeitet und verwendet, sodass der Erinnerungsbericht stetig begleitet wird „vom Rauschen der Intertextualität“.75 Durch den neuen Kontext eines Zitats übernimmt dieses eine neue Funktion, ohne von seiner ursprünglichen losgelöst zu sein.76 Aufgabe der vorliegenden Studie ist es dementsprechend, das Konzept hinter dieser intertextuellen Arbeitsweise zu rekonstruieren und zu analysieren sowie deren Funktion für den Erinnerungsbericht herauszuarbeiten.

Gesamtwerk und Einzelwerk bestimmen sich wechselseitig.77 Daher wurden die publizierten Beiträge Müller-Seidels nicht nur berücksichtigt, um fragmentarisch bedingte Lücken zu füllen und zu erläutern, sondern die Fragmente dienen selbst wiederum auch zur Vervollständigung des Gesamtwerks, indem sie dieses reflektieren und durch den Erinnerungsbericht autobiographisch erweitern. Durch den Blick auf verhinderte, nicht-realisierte Ideen kann die Sicht auf die realisierten Werke geschärft werden.78

I.3.3 Konstellationen

Um die Fragmente zu kontextualisieren, bedarf es der Erläuterung ihrer Inhalte und damit einhergehend einer Erweiterung des nachgelassenen textuellen Materials einerseits um Müller-Seidels eigene Publikationen und andererseits um literaturwissenschaftliche und historische Quellen. Dieses Vorgehen soll nicht nur ermöglichen, Lücken zu schließen und Verbindungen aufzuzeigen, sondern auch Müller-Seidels subjektive Erinnerungskomponente anhand von Quellen zu perspektivieren und, wo nötig, zu problematisieren.

Sowohl aufgrund des materiellen wie formalen Status des autobiographischen Manuskripts ist es nicht möglich, die vorhandenen Fragmente zu einem abgeschlossenen Ganzen zusammenzufügen. Daher ist es umso wichtiger, die Inhalte der einzelnen Fragmente zu erschließen und ihre internen wie externen Zusammenhänge aufzudecken.79 Dies gelingt durch eine Analyse der jeweiligen Konstellationen. Konstellation meint hier allgemein die „Gesamtheit und ←25 | 26→Gruppierung der Faktoren, die für eine Situation oder einen Vorgang bedeutsam sind“.80 Mit diesem Begriff wird eine

mehrstellige[] Beziehungsstruktur [bezeichnet], das heißt ein[] Ensemble differenter (politischer, ökonomischer oder kultureller) Positionen und Faktoren, die – zumeist in der Wahrnehmung des Beobachters – einen dynamischen, veränderbaren Wirkungszusammenhang bilden und auch nur aus diesen relationalen Zusammenhang heraus angemessen erklärt oder verstanden werden können.81

Das von Müller-Seidel benannte Vorhaben der Verbindung von Autobiographik und Wissenschaft führt zwangsläufig auf seine Biographie zurück, die als Grundlage der gewählten Episoden des Erinnerungsberichts dient. Um diese angemessen in die Studien miteinzubeziehen, wird auf eine Modifikation der Methodik der Konstellationsforschung zurückgegriffen,

deren Ziel es ist, wechselseitige Einflüsse zwischen verschiedenen Denkern innerhalb eines Denkraums ausfindig zu machen, um so, über das Zusammenspiel der unterschiedlichen Impulse, eine Erklärung für die Produktivität in der Entstehung von Theorien und Denkansätzen zu finden.82

Die von Dieter Henrich für philosophische Kontexte entworfene Methode erlaubt es, Konstellationen über die Untersuchung eines Gesamtzusammenhangs zu erschließen. Im Fall von Müller-Seidel geht es jedoch nicht nur um die verschiedenen Denker und Lehrer in seinem Umfeld, sondern auch um die gesellschaftliche Gesamtlage und das damit einhergehende Aufeinandertreffen von sozialen, politischen und institutionellen Umständen.

Ausgehend von Müller-Seidels Biographie und der darin begründeten Chronologie kann folglich von den Pirnaer Konstellationen, den Leipziger Konstellationen, den Heidelberger Konstellationen und den Münchner Konstellationen gesprochen werden, in welchen die Zusammenstellung von Personen, Situationen, lokalen und temporalen Gegebenheiten sowie von zeitgenössischen Diskursen und wissenschaftlichen Methoden untersucht wird. Es geht darum, die wechselseitige Einwirkung83 aus der singulären Perspektive Müller-Seidels zu erschließen und daraus Rückschlüsse für seine wissenschaftliche persona und Arbeitsweise ziehen zu können. Damit sind ausdrücklich nicht klar umrissene Ursache- und Wirkungsdynamiken gemeint, sondern Einflüsse, die ←26 | 27→Müller-Seidel teilweise selbst beschreibt oder die durch Konstellationen deutlich werden. Es geht eben nicht um einen auf „ganzheitlicher Geschlossenheit beruhenden Zusammenhang“,84 sondern um eine „nicht zu hintergehende Kontingenz einer historischen Situation, einer kulturellen Lage oder einer sozialen Formation“.85 Im Sinne einer induktiven Herangehensweise soll dabei die besondere Situation Müller-Seidels einen Blick auf die allgemeine historische Lage ermöglichen. Wie er selbst sagt: auf die conditio humana. Einerseits befindet sich zwar „nur der einzelne in einer [bestimmten] Situation“,86 andererseits ist das Besondere dieser personalen Situation „in seiner Historizität nur im Bezugssystem der geschichtlichen Konstellation erfassbar“.87

Zudem geht es nicht nur um die biographischen Aspekte in Müller-Seidels Erinnerungsbericht, sondern auch um die wissenschaftlichen und damit wissenschaftsgeschichtlichen. Durch die Betrachtung der Konstellationen – und diese vornehmlich in der „kulturellen Wertsphäre“ [24|A1]88 wie Müller-Seidel sagt – wird es möglich, einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu leisten. Insbesondere gelingt dies in der Betrachtung und Zusammenschau der Institutionen und Personen, die Müller-Seidel während seiner Studienzeit benennt und sich dabei entweder an ihnen orientiert oder von ihnen abgrenzt. Besonders zu beachten ist dabei die Zusammenstellung der einzelnen Lehrer und Umstände an bestimmten Orten – eben die Konstellation, die in dieser Form nur durch Müller-Seidels Erinnerung kommuniziert werden kann und aus anderen Perspektiven möglicherweise keine Erwähnung erfahren würde.

Weiterhin sind nicht nur die personellen und institutionellen Konstellationen zu betrachten, sondern auch die intertextuellen. Jeder Text kann „in einer Konstellation bereits existierender Texte situiert“89 werden. Dies ist insbesondere aufgrund des Fragmentstatus zu beachten, da die Fragmente in ihrem nachgelassenen Umfeld verortet werden müssen und zugleich auf bereits publiziertes Material verweisen. Die Zusammenschau der nachgelassenen Fragmente mit den publizierten Beiträgen macht eine Historisierung von Müller-Seidels ←27 | 28→Arbeitsweise und Denkstil möglich, durch die letztlich die Funktion von Form und Inhalt des autobiographischen Manuskripts erschlossen werden kann.

I.3.4 Praxisformen: Arbeitsweise und Schreibart

Neben dem Einbezug des Gesamtwerks und der Analyse der Konstellationen wird methodisch auf praxeologische Ansätze zurückgegriffen. Noch 2013 wurde von Carlos Spoerhase und Steffen Martus auf die Vernachlässigung der „programmatische[n]‌ Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften“90 hingewiesen. Da dies trotz zahlreicher Vorschläge und Beiträge zu einzelnen Bereichen bis heute immer noch zutrifft, werden hier eigene Konzepte in Anlehnung an Erprobtes entwickelt.

Die Praxeologie bietet Möglichkeiten, um Müller-Seidels Arbeitsweise und Schreibart zu untersuchen und mit angemessenen Instrumenten zu analysieren. Ziel der praxisorientierten Analyse ist es, Müller-Seidels Strategien für das Schreiben einer Wissenschaftsgeschichte aus autobiographischer Sicht zu erarbeiten und dabei zu hinterfragen, ob das genannte Vorhaben gelingen konnte bzw. kann. Dabei stellt sich auch die Frage nach der Leserschaft und der Funktion dieser Form von Autobiographik. Nicht zuletzt ist es ein notwendiger Schritt, Ähnlichkeiten und Unterschiede von Müller-Seidels publizierten Beiträgen zum Erinnerungsbericht kenntlich zu machen.

Arbeitsweise meint hier nach Siegfried Scheibe die „konkrete Art und Weise, wie ein […] Autor an einem Werk arbeitet, wie er es vorbereitet, konzipiert, niederschreibt und überarbeitet“.91 Es geht also um „alle jene Faktoren, die vor, während und nach der Ausarbeitung eines Textes die Organisation der Arbeit des Autors bedingen“.92 Scheibe spricht hier von Verfahrensweisen, die sich oft über ein ganzes Leben nicht verändern. Mit diesen Praktiken sind „routinemäßige Tätigkeiten [gemeint], die oftmals nicht vollständig durch explizierbare Regeln oder Methoden bestimmt sind“.93 Insbesondere sind dies die praktischen Verfahrensweisen und Herstellungsprozesse bei der Abfassung des Manuskripts, die „kleinen epistemischen Praktiken des philologischen Lesens, Sammelns, Ordnens, Exzerpierens, Notierens, Protokollierens und Redigierens“.94

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Vor allem für den Editionsprozess war die Kenntnis von Müller-Seidels Arbeitsweise hilfreich. Die wiederkehrenden Korrekturgewohnheiten haben dazu beigetragen, die einzelnen Fragmente und losen Blätter in ein Verhältnis setzen zu können. Auch der Vergleich der unterschiedlichen Papiere sowie diverser Schreibmaterialien, die bei der Niederschrift verwendet wurden, haben die Zusammenstellung erleichtert.

Der Begriff der Schreibart wiederum leitet sich aus einer Kombination von Schreibweise und Denkart ab. Denkart ist verwandt mit dem von Ludwig Fleck etablierten Begriff des Denkstils.95 Dieser verweist „auf konkret disziplinär erworbene und inkorporierte Praktiken der Erkenntnisfindung“.96 Mit Fleck gesprochen ist jede Erkenntnis sozial und historisch bedingt. In menschlichen Erkenntnissen und Handlungen manifestieren sich wiederum „stets Elemente des Vergangenen, des Gemeinsamen und des Kooperativen sowie des Künftigen“.97

Die Analyse der Schreibart dient folglich der Verortung des Erinnerungsberichts im Gesamtwerk Müller-Seidels wie der notwendigen Historisierung. Sie ist insbesondere deshalb zu untersuchen, da Müller-Seidel Autobiographik und Wissenschaft explizit als gleichwertig bedachte Komponenten anordnete. Damit stehen jedoch zwei sich potentiell ausschließende Schreibarten gegenüber, die er selbst als „feindliche Brüder“ [37|A1] bezeichnet. Weiterhin wird durch die Schreibart die Rezeption gelenkt, denn „[j]‌e nach Form des Textes stellen wir uns auf bestimmte Rezeptionsweisen ein: literarische, alltägliche, fachliche“.98

Müller-Seidel äußerte sich selbst schon früh zu seiner Auffassung von Wissenschaftssprache, indem er „Deskription, reine Empirie und wertfreie Vermittlung von Fakten“99 als hoffnungslose Verfehlung des literaturwissenschaftlichen Gegenstands bezeichnete. Diese Distanz zum Objektivitätspostulat, die Müller-Seidel mit der Kombination aus Autobiographik und Wissenschaft im Erinnerungsbericht offenbar erproben wollte und als Novum wahrgenommen hatte, hält in jüngster Zeit Einzug in den publizistischen und wissenschaftlichen Diskurs,100 wie das Erscheinen ←29 | 30→zahlreicher Autobiographien mit wissenschaftsgeschichtlichem Anspruch zeigt.101

Als Desiderat ist jedoch nach wie vor eine ausführliche literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit wissenschaftlichem Schreiben als auch mit wissenschaftsgeschichtlichen Autobiographien zu benennen. Eine „Narratologie von Wissenschaftstexten“102 liegt bis heute nicht vor, das wissenschaftliche Schreiben ist noch immer ein „viel zu wenig beachtetes Thema“.103 Für die Untersuchung der Schreibart in Müller-Seidels Erinnerungsbericht ist es unerlässlich, Parameter für beide Schreibweisen festzusetzen – sowohl die schriftstellerisch-performative wie die wissenschaftlich-konstative.104

Anna Breitkopf arbeitet in ihrer Dissertation zehn Merkmale eines wissenschaftlichen Schreibstils heraus, für die es im Erinnerungsbericht stichhaltige Nachweise gibt. Namentlich handelt es sich dabei um (1) die Formulierung der Zielsetzung, (2) Rückverweise im Text, (3) Verweise auf Situationen außerhalb des Texts, (4) Begriffserläuterungen, (5) Hervorhebungen und Abgrenzungen, (6) Meinungsäußerungen, (7) Zusammenfassung, (8) Beispiele, (9) direkte Zitate und (10) Aufforderungen.105 Felix Steiner fügt ‚Systematizität‘ sowohl auf der Ebene des wissenschaftlichen Handelns wie auf der Ebene der Darstellung als weiteres Merkmal hinzu.106 Er definiert den wissenschaftlichen Autor zudem als „reflexive Instanz“,107 die sowohl Erkenntnisproduktion als auch Erkenntniskritik in einem nachvollziehbaren Prozess bewältigt. Wissenschaft wird als „die Institution, welche Wissen unter der Bedingung der Reflexivität generiert“,108 bezeichnet.

In der Erforschung von Wissenschaftssprache ist weiterhin häufig die Rede vom ‚Ich-Tabu‘, dem ‚Erzähler-Tabu‘ und dem ‚Metaphern-Tabu‘.109 Nach Harald Weinrich ist es wissenschaftlichen Texten nicht erlaubt zu erzählen: „Die wissenschaftliche Schreibweise, die sich diesem Imperativ unterworfen hat, ist grundsätzlich deskriptiv“110 Damit scheint es unmöglich, wissenschaftliches ←30 | 31→und autobiographisches Schreiben zu vereinen, gestaltet sich doch letzteres „[m]‌it narrativen, das heißt erzählerischen Mitteln“.111

Autobiographisches Schreiben hingegen umfasst „all modes and genres of narrating one’s own life, with no clear dividing lines between facts and fiction […] with respect to poetic practice, poetological reflection and genre theory alike“.112 Folglich gibt es einen Erzähler, der mit narratologischen Werkzeugen untersucht werden kann. Im fundamentalen Sinne liegt αὐτός – βίος – γράφειν vor, ein Schreiben über das eigene Leben. Dieses Schreiben zeichnet sich insbesondere durch seine Retrospektivität und die damit einhergehende Reflexivität aus.

Als Konsequenz dieser Gegenüberstellung ist das Element der Reflexivität als Verbindung zwischen Autobiographik und Wissenschaft zu benennen. Reflexivität ist gekoppelt an den Erinnerungsprozess des Autobiographen und gleichzeitig konstitutiv für wissenschaftliches Arbeiten.113 Da Müller-Seidel im Erinnerungsbericht sowohl das ‚Ich-Tabu‘,114 das ‚Erzähl-Tabu‘115 wie das ‚Metaphern-Tabu‘116 bricht, liegt offenbar kein wissenschaftlicher Text vor. Müller-Seidel formuliert deutlich, dass er mit dem Erinnerungsbericht einen erweiterten Leserkreis erreichen wollte,117 der nicht nur das Fachpublikum einschließt.118 Dies kann mitunter durch die Hinzunahme des autobiographischen Elements gelingen. Wie Margit Szöllösi-Janze formuliert, mache es gerade der „Eklektizismus der Biographie“119 möglich, eine Leserschaft über den Expertenkreis hinaus zu gewinnen ohne den wissenschaftsgeschichtlichen Aspekt zu vernachlässigen.

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I.3.5 Mikroanalysen

Die Studien werden in Mikroanalysen vorgenommen. Diese Analyseform erfolgt nach dem ‚bottom-up-Prinzip‘. Das bedeutet, dass die Bewegungsrichtung des Beschreibungs-, Verstehens-, und Darstellungsvorgangs vom Speziellen und Konkreten zum Übergeordneten und Abstrakten geht.

Details

Seiten
374
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631867150
ISBN (ePUB)
9783631867167
ISBN (Hardcover)
9783631855966
DOI
10.3726/b19041
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Januar)
Schlagworte
Disziplingeschichte Erinnerung Archiv Gelehrtenbiographie Historiographie Literaturgeschichte Humanismus Nachkriegszeit Zweiter Weltkrieg 20. Jahrhundert
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 374 S.

Biographische Angaben

Anna Axtner-Borsutzky (Autor:in)

Anna Axtner-Borsutzky ist Akademische Rätin a. Z. an der Professur für Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bielefeld. Sie studierte Deutsche und Klassische Philologie, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der LMU München, wo sie auch promoviert wurde. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Autobiographik, Praxisgeschichte der Germanistik, Literatur- und Kulturzeitschriften der Nachkriegszeit sowie Briefe in der Frühen Neuzeit und die Vorgeschichte der Ballade.

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Titel: Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht
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