Lade Inhalt...

Die Darstellung des Islam im Kaiserreich

Historische Lesebuchforschung mit digitalisierten Quellen. Unter Mitarbeit von Fabian Brink, Anke Hertling, Sebastian Klaes, Julian Krings, Ria Sommer und Carina Steeger

von Christian Dawidowski (Autor:in) Florian Eickmeyer (Autor:in)
©2022 Andere 432 Seiten

Zusammenfassung

Die Dokumentation eines Forschungsprojektes zielt auf die Rekonstruktion der Diskurse über den Islam in Lesebüchern des Deutschen Kaiserreiches. Sie erschließt mittels Digital Humanities und germanistisch-textanalytischer Verfahren ein digitalisiertes Textkorpus und leistet einen Beitrag zur historischen Schulbuchforschung. Wie sich zeigt, entwerfen die Lesebücher den Islam kontrastiv zum christlich geprägten kulturellen Selbstbild als eine orientalische, antimoderne Religion mit fatalistisch-bellizistischen Tendenzen. Konstitutives Element ist ein historisches Narrativ um die Begegnungen von christlicher und muslimischer Welt: Ereignisse diverser Epochen werden mit dem Ziel nationaler Sinnstiftung aufeinander bezogen, die Muslime als ernstzunehmende, doch unterlegene Gegner präsentiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Ziele und Anlage
  • 1.1 Ziele und Forschungsstand
  • 1.2 Methode: Theorie und Praxis
  • 1.2.1 Korpusbildung
  • 1.2.2 Analytische Erschließung: Theorie
  • 1.2.3 Analytische Erschließung: Praxis
  • 1.3 Lesebücher und ihre digitale Transformation (Anke Hertling, Sebastian Klaes)
  • 1.3.1 Sammlung und digitales Korpus in Korrelation
  • 1.3.2 Volltexterkennung im Umbruch
  • 1.3.3 Daten für die Forschung und von der Forschung
  • 1.4 Didaktischer Rahmen: Lehrpläne und Didaktiken im Kaiserreich
  • 1.4.1 Der deutsche Unterricht um 1870
  • 1.4.2 Lehrpläne und Didaktik der niederen und mittleren Schulen
  • 1.4.3 Lehrpläne und Didaktik der Mädchenschulen
  • 1.4.4 Lehrpläne und Didaktiken höherer Knabenschulen
  • 1.5 Das Lesebuch im Kaiserreich: Definition und Geschichte (Carina Steeger)
  • 1.5.1 Geschichte des Lesebuchs bis zum Kaiserreich
  • 1.5.2 Das Lesebuch im Kaiserreich
  • 1.5.3 Religion und Konfession im Lesebuch
  • 2. Quantitativ orientierte Auswertung: Historische Schwerpunkte und Narrativ
  • 2.1. Formale Auswertung des Gesamtkorpus für höhere und mittlere Schulen (unter Mitarbeit von Julian Krings)
  • 2.2. Inhaltsdominante Gesamtauswertung
  • 2.2.1 Schwerpunkt Rolandslied und Karl der Große
  • 2.2.2 Schwerpunkt Kreuzzüge
  • 2.2.3 Schwerpunkt Türkenkriege (Fabian Brink)
  • 2.2.4. Schwerpunkt Konstantinopel
  • 2.3 Bilanzierende Auswertung: Das Narrativ
  • 3. Qualitativ orientierte Auswertung: Höheres Schulwesen
  • 3.1 Der orientalische Islam
  • 3.1.1 Orientzuschreibungen in frühen Lesebüchern
  • 3.1.2 Orientalistisch-kolonialistische Perspektiven in Lesebüchern der wilhelminischen Ära
  • 3.1.3 Muslimisch-orientalisch verstandene Natur- und Kulturräume
  • 3.1.4 Fazit
  • 3.2 Der Islam und Mohammed
  • 3.2.1 Der Islam unter religionskomparatistischer Perspektive
  • 3.2.2 Mohammed und die Entstehung des Islam
  • 3.2.3 Muslimische Glaubenspraktiken
  • 3.2.4 Fazit
  • 3.3 Christlich-muslimischer Austausch: Handel, Kultur, Wissenschaft (Carina Steeger)
  • 3.3.1 Frühe negative Darstellungen des Austausches
  • 3.3.2 Ambivalente Beurteilung des Islam
  • 3.3.3 Abendländisch-morgenländische Handelskontakte
  • 3.3.4 Fazit
  • 3.4 Darstellung der muslimischen Frau (Julian Krings)
  • 3.4.1 Die Frau im Islam und ihre Verschleierung als Objekt und Symbol von Unfreiheit
  • 3.4.2 Die Frau im Islam als Kontrastfolie
  • 3.4.3 Fazit
  • 3.5 Die Darstellung Sultan Saladins und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung des Islam (Ria Sommer)
  • 3.5.1 Saladin im Zusammenhang mit Lessings Nathan der Weise
  • 3.5.2 Kreuzzugsdarstellungen und der historische Saladin
  • 3.5.3 Fazit
  • 4. Der Islam im Lesebuch der Volksschule (J. Krings)
  • 4.1 Historische Stationen
  • 4.1.1 Karlslegende und Rolandssage
  • 4.1.2 Kreuzzüge
  • 4.1.3 Türkenkriege
  • 4.1.4 Konstantinopel
  • 4.2 Diskursive Zuschreibungen
  • 4.2.1 Orientalischer Islam
  • 4.2.2 Islam und Mohammed
  • 4.2.3 Christlich-muslimischer Austausch
  • 4.2.4 Saladin
  • 4.2.5 Die muslimische Frau
  • 4.3 Konfessionelle und regionale Auffälligkeiten
  • 5. Zusammenfassung
  • 5.1 Korpus und Methode; quantitative Analysen
  • 5.2 Ergebnisse: Der Islam im Lesebuch
  • 5.3 Synopse und Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

←10 | 11→

1. Ziele und Anlage

1.1 Ziele und Forschungsstand

Das in diesem Band dokumentierte Forschungsprojekt1 zielt auf die vollständige Erschließung der den im Zeitraum des Kaiserreichs erschienenen deutschen Lesebüchern zu entnehmenden Diskurse über den Islam. Zu diesem Zweck sieht es eine Digitalisierung der im Georg-Eckert-Institut Braunschweig gesammelten Lehrwerke aus diesem Zeitraum vor, um sie im Volltext verfügbar zu machen. Die bisher bestehende Forschungslücke bezüglich der Methodik innerhalb der germanistischen Lesebuchforschung muss dabei in einem ersten Schritt behoben werden. Damit ist das Projekt in drei Schritte zu unterteilen:

a)Theoretische Fundierung: Konzeption einer genuin germanistischen Methodik der Lesebuchforschung. Die innerhalb der internationalen Schulbuchforschung dominierende Methodik der thematischen Diskursanalyse ist nicht übertragbar auf den Sonderfall des Deutschen Lesebuchs als einer aus der Tradition der Chrestomathie hervorgehenden, nach verschiedenen Ordnungsprinzipien gegliederten Textsammlung. Das Projekt entwickelt dementsprechend eine Methode, die an Kategorien der germanistischen Textanalyse in Verbindung mit Methoden der Digital-Humanities-Forschung orientiert ist.

b)Digitale Erschließung: Digitalisierung der deutschen Lesebücher der Sammlung des Georg-Eckert-Instituts aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs 1871 bis 1918 und ihre Veröffentlichung im Volltext.

c)Vollständige Erschließung der Islam-Darstellungen im Deutschen Lesebuch. Das Projekt dokumentiert die Tauglichkeit der entwickelten Methode am Beispielfall der Islamdiskurse und beantwortet die Leitfrage: Wie wurden der Islam und die Muslime im Untersuchungszeitraum im Deutschen Lesebuch dargestellt? Damit leistet das Projekt einen Beitrag zur Phänomenologie des „muslimischen Fremden“ im Kaiserreich und kann möglicherweise durch Anschlussforschung aufzeigen, in welchen historischen Konstellationen der gegenwärtige Diskurs über den Islam zu verorten ist.←11 | 12→

Das Projekt konzentriert sich so auf folgende zentrale Fragestellung: Welches Wissen über den Islam und über Muslime wurde über das Deutsche Lesebuch als einem zentralen Sozialisationsinstrument im Deutschen Kaiserreich in Knaben- und Mädchenschulen aller Schulformen vermittelt? Zur Beantwortung dieser Frage sind innerhalb der germanistischen Lesebuchforschung zwei Arbeitsschritte – im Folgenden als Teilziele benannt – vorzuschalten, die im Folgenden legitimiert und kommentiert werden:

Teilziel 1: Entwicklung einer genuin germanistischen Methodik der Lesebuchforschung, die anders als die Kanonforschung oder die sozialwissenschaftliche Schulbuchforschung dem Umstand gerecht wird, dass das Lesebuch keine Herausgebertexte enthält, sondern Textsammlungen ausgewählter AutorInnen präsentiert, deren Texte oft einen fiktionalen Status haben.

Teilziel 2: Erschließung eines nahezu vollständigen Korpus im Volltext. Die einzigartige Sammlung des Georg-Eckert-Instituts (Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung) bietet die Möglichkeit, über eine Digitalisierung die Volltexte zugänglich zu machen.

Damit beinhaltet das Projektziel auch zwei weitere Innovationen für die historische Lesebuchforschung: Zum einen wird mit der Methodik (Teilziel 1) ein jederzeit übertragbares Instrument zur Verfügung gestellt, das zumindest für den Zeitraum bis etwa 1970 (Erscheinen erster Herausgebertexte wie Aufgabenstellungen, erste Arbeitsbücher und integrierende Lehrwerke) angewandt werden kann. Zum anderen wird ein Korpus für die Forschung digital verfügbar (Teilziel 2), das angesichts des für die Entstehung der germanistischen Philologie und des Deutschunterrichts als Kernfach höherer Bildung zentralen 19. Jahrhunderts von höchstem Interesse ist. Um der Heterogenität des Schulwesens im 19. Jahrhundert mit teils deutlich divergierenden Zielen und Auffassungen im Kontext der Nationalerziehung und der (literarischen) Bildungsvermittlung gerecht zu werden, differenziert die Auswertung des Datenmaterials zwischen unterschiedlichen Schulformen, regionalen Schultypen sowie zwischen Knaben- und Mädchenschulen.

Die themenspezifische Eingrenzung (Islamdarstellung) ist mit Bedacht und Rücksicht auf heutige soziale Umschichtungen gewählt. Anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit am 03. Oktober 2010 sagte der damalige Bundespräsident Christian Wulff: „[…] der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. Sein Nachfolger Joachim Gauck „hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland“. So unterschiedlich die Auffassungen des ehemaligen und des aktuellen Bundespräsidenten zur Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland sind, so einig sind sie sich doch in der Einschätzung, ←12 | 13→dass es eine Einheit wie „den Islam“ oder „die Muslime“ in Deutschland gebe. Doch woher stammen die qualitativen Inhalte der gegenwärtigen deutschen Diskurse zu „dem Islam“ und „den Muslimen“? Schulbücher, die unter staatlicher Aufsicht erscheinen, sind als Sozialisationsinstrumente zentrale Träger solcher Vorstellungsbilder. In der Epoche des Kolonialismus können wir die Hochphase eines orientalisierenden Diskurses vermuten, der über Lesebücher transportiert wird und unsere Vorstellungen über den Islam bis heute beeinflusst. Dabei ist mit äußerster Vorsicht zu verfahren: Die jüngste Forschung zeigt, dass im Gegensatz zu Vermutungen einer semantischen Einheit von “Orient” und “Islam” der Islam-Diskurs des 19. Jahrhunderts nicht deckungsgleich mit dem Vorstellungsbild “Orient” und wesentlich differenzierter strukturiert ist. Die Untersuchungsziele des Projekts grenzen sich also bewusst von Darstellungen ab, die im Zuge der Orientalismus-Forschung Islam und Orient als Kulturraum gleichsetzen (vgl. Attia 2009, S. 68 ff., Escher 2011). Zu differenziert erscheinen die Verbindungslinien zwischen Religion und Kulturraum, sodass mit Polaschegg argumentiert werden kann, dass der Islam zwar Teil des Konzepts Orient im 19. Jahrhundert ist, jedoch nicht deckungsgleich: „Die heute zu verzeichnende Obsession für den Islam schreibt sich jedenfalls weder aus der Frühen Neuzeit (…) noch aus dem 19. Jahrhundert her“ (Polaschegg 2005, S. 97, vgl. Kap. 3.2).

Auch die zeitliche Eingrenzung (1870–1918) ist mit Bedacht gewählt: Erst seit etwa 1870 kann das Lesebuch betreffend von einer etablierten und ausdifferenzierten Gattung, die zielgruppenspezifisch konzipiert wird, gesprochen werden. Die Heterogenität der Lesebücher im erst entstehenden Schulfach Deutsch (als literaturgeschichtliches Fach) erlaubt eine sinnvolle Erschließung eines differenzierten und komplexen Diskurses vor 1870 kaum. Was die Digitalisierung der Schulbücher angeht, so unterliegen die bis 1918 erschienenen Bände nicht länger dem Urheberrecht und können der Forschung auch über das hier beantragte Projekt hinaus frei über das Internet zur Verfügung gestellt werden.

Als Lesebuch wird im Rahmen des Projektes eine Zusammenstellung von vorwiegend literarischen Texten unterschiedlicher Verfasser in einem Buch definiert (vgl. ausführlich Kap. 1.5), das in der Regel für den Deutschunterricht an Schulen konzipiert ist (vgl. Schober 1998, S. 508). Nach Ehlers (2003a) haben Lesebücher vier Dimensionen: eine kulturelle, eine sozialisatorische, eine pädagogische sowie eine gesellschaftliche. Erstgenannte ist für diese Arbeit von Relevanz. Sie bezieht sich auf das von Jan Assmann (2007, S. 52 ff.) definierte „kulturelle Gedächtnis“. Hierbei handelt es sich um die Wissensordnungen und Normvorstellungen, Traditionen und Mythen, die eine kulturelle Einheit, eine Gesellschaft und somit ihre staatlichen Institutionen als zu tradieren ←13 | 14→erachtet. Seit der Einführung von Schulbüchern in Deutschland versuchten entweder kirchliche oder staatliche Stellen die Konzeption von Schulbüchern zu steuern. Mit dem 1872 erlassenen Schulaufsichtsgesetz konnte der Wunsch nach staatlicher Kontrolle der an deutschen Schulen zu verwendenden Schulbücher nachhaltig durchgesetzt werden. Lesebücher sind somit „amtliche, kulturell bedeutsame Dokumente, die Auskunft über Bildung und Erziehung, Unterrichten und Lernen in der gesellschaftlichen Institution Schule zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten regionalen Raum geben“ (Wiater 2003, S. 7). Die Lesebücher bilden die von staatlicher Seite gelenkten und positiv sanktionierten Diskurse ab, u. a. also auch jene über den Islam. Das Projekt kann somit diesen sanktionierten Diskurs für den Zeitraum des Kaiserreichs genau umreißen.

Eine Untersuchung zu Darstellungen des Islam und von Muslimen in (historischen) Lesebüchern liegt – im Gegensatz zu Schulbüchern für den aktuellen Geschichts-, Religions-, Geographie-, Sozialkunde- und Politikunterricht (vgl. u. a. Weymar 1956, Marienfeld 1979, Falaturi et al. 1986–1988, Ihtiyar/Jalil/Zumbrink 2004, Jonker 2010, GEI 2011) – bislang nicht vor.

Lesebuchstudien hinsichtlich der Darstellung von Fremdheit sind bisher selten. Schröder (1969) untersuchte nationale Stereotypen in Lesebüchern der Nachkriegszeit. Hauff (1990) fokussierte auf den Themenkomplex der Arbeitsmigration in Lesebüchern für die Grundschule. Ehlers (2003b) untersuchte, inwieweit die Innenperspektive „des Fremden“ thematisiert wird. Allgaier/Glembek/Hennen (2007) untersuchten Lesebücher in Hinblick auf interkulturelle Literatur. Bei diesen Studien handelt es sich entweder um auf Defizite fokussierende qualitative oder um quantitative Analysen, die jedoch nur bedingt intersubjektiv nachvollziehbare und vergleichbare Ergebnisse in Bezug auf Fremdheitsdarstellungen im Lesebuch ergaben. Hierzu liegen jedoch seit Kurzem z. T. diachron angelegte Studien vor, die Darstellungen des Fremden und des Migranten in den Blick nehmen (vgl. u. a. Dawidowski 2012, Dawidowski 2013, Ehlers 2013). Darüber hinaus liegt ein Versuch vor, die Ergebnisse theoriegeleitet in Anlehnung an die Fremdheitskonzepte von Schäffter (1991) und Waldenfels (1997) zu systematisieren (vgl. Dawidowski/Junge 2014). Die Ergebnisse dieser – explorativen – Studien zeigen, dass für den Zeitraum vom Deutschen Kaiserreich bis zur Gegenwart ein enormer Wandel hinsichtlich der Darstellungen des Fremden festgestellt und systematisiert werden kann: Während in Lesebüchern vor 1950 radikale Fremdheit überwiegt, die als Gegenbild zum positiv konnotierten Eigenbild wirkt, wird in Lesebüchern ab 1950 zunehmend strukturelle oder alltägliche Fremdheit verhandelt. Seit den Lesebüchern der 1970er-Jahre findet der komplementäre Charakter von Fremdheit Einzug ←14 | 15→in Lesebücher, Fremdheit als Gegenbild ist jedoch bis in die jüngste Lesebuchgeneration nachzuweisen. Auf diesen Studien und Ansätzen der Lesebuchforschung baut das vorliegende Untersuchungsvorhaben auf.

Die historische Lesebuchforschung hat in einigen Überblicksdarstellungen zur Geschichte und Genese der Gattung (Roeder 1961, Helmers 1970, Teistler 2006) eindrucksvoll belegen können, dass das Deutsche Lesebuch des 19. Jahrhunderts als eine Art „Gesinnungslesebuch“ (Helmers 1970, S. 193 ff.) den literarischen und dokumentarischen Text oft im Sinne einer Funktionalisierung einsetzt, dass also (mutmaßlich) über das literarische Medium Gesinnungsbildung betrieben wurde. Mittlerweile sind Zweifel an dieser eindimensionalen Zuschreibung aufgetaucht, die meist schulform- oder schulstufenspezifisch argumentieren und den Blick auf das Mädchenschulwesen oder das niedere Schulwesen richten, um auch andere pädagogische oder genuin literarisch-ästhetische Zielsetzungen für den Untersuchungszeitraum des Kaiserreichs zu reklamieren (Dawidowski 2006, Dawidowski 2013). Die Lesebuchforschung konstatiert in dem einen wie dem anderen Fall zu Recht, dass es sich beim Lesebuch um „ein[en] eigene[n]‌ Schulbuchtyp [handelt], dessen fachspezifische Besonderheiten zu beachten sind“ (Ehlers 2003a, S. 8). Bisher konnte diese Annahme theoretisch jedoch nicht untermauert werden. Diese fehlende theoretische Fundierung stellt insbesondere im Hinblick auf die Analyse von Lesebüchern ein Desiderat dar. Dessen Bearbeitung ist auch vor dem Hintergrund der in der Schulbuchforschung gängigen Methode der Diskursanalyse (vgl. Höhne 2003, 2010) von Bedeutung, da diese aufgrund des i. d. R. fiktionalen Charakters der Lesebuchtexte nicht ohne weiteres auf deren Analyse übertragbar ist. Während sich Analysen der Schulbuchforschung meist auf faktuale Texte beziehen, bei denen der Kommunikator klar definiert werden kann, ist dies bei fiktionalen Texten nicht möglich. Weder ein/e LesebuchautorIn noch die/der reale AutorIn des fiktionalen Textes, sondern eine fiktive Erzählinstanz oder ein lyrisches Ich treten als Authentizitätsinstanz in Erscheinung. Beim Untersuchungsgegenstand handelt es sich somit um die fiktive Welt. Eine Antwort auf die Frage, wie diese in Lesebuchtexten abgebildete fiktive Welt empirisch und intersubjektiv nachvollziehbar erfasst werden kann, hat insbesondere die historische Lesebuchforschung bisher nicht liefern können, da sie ohne digitalisierte Volltexte nur exemplarisch oder quantifizierend vorgehen konnte. Jakobs Urteil zur historischen Lesebuchforschung gilt bis heute: Es gibt keine Bibliographie (Jakob 2010, S. 46), die Quellenauswahl erfolgt meist willkürlich (S. 54), die meisten Studien sind dem weiteren Bereich der Kanonforschung zuzurechnen. Diesbezüglich hat insbesondere das DFG-Projekt „Der deutsche Lektürekanon an höheren Schulen Westfalens“ (Korte/Zimmer/Jakob 2007, ←15 | 16→2011) auch in methodischer Hinsicht Maßstäbe gesetzt – dies jedoch mit dem Gegenstand Schulprogramm, nicht dem Deutschen Lesebuch. Das Wissen über die statistische Verteilung von im schulischen Raum Gelesenem im 19. Jahrhundert kann also als hinreichend gesichert gelten; zahlreiche Einzelstudien bieten zu Autoren (Gansel 2006, Popp 2005), Epochen (Lüke 2007), Gattungen (Tomkowiak 1993, Korte 2006), einzelnen Lesebuchreihen (Zimmer 2006) oder Schultypen (Dawidowski 2006, Ehlers 2006, Mikota 2010) ergänzende Ergebnisse, die teils auch durch qualitativ-hermeneutische Verfahren eruiert wurden, wobei jedoch (Jakob folgend) die Vollständigkeit der Quellen nicht beachtet wurde. Der ungeheure Aufwand angesichts fehlender Volltexte bedingt darüber hinaus den auffälligen Mangel an themenbezogenen Längs- und Querschnittuntersuchungen, die einzig den mutmaßlichen intentionalen Charakter der Lesebuchtexte belegen könnten.

Neben diesem die allgemeine Theorie des Lesebuchs betreffenden Defizit kann ein zweites Desiderat hinsichtlich eines Mangels an Theoriegeleitetheit der kulturwissenschaftlichen Lesebuchforschung festgestellt werden. Zwar wird eine kulturelle Funktion des Lesebuchs (vgl. Ehlers 2003a) identifiziert, allerdings liegt kein Modell zur Beschreibung dieser kulturellen Lesebuchdimension vor. Dieses ist allerdings die Voraussetzung für eine empirische Beschreibung kultureller, d. h. im Falle der vorliegenden Untersuchung xenologischer Darstellungen in Lesebüchern. Das Projekt nähert sich mit einem eigenen Design aus diskursanalytischen, narrativitätstheoretischen und quantitativen Analysen dem Korpus (vgl. zur Methode Kap. 1.2).

Mit der Digitalisierung der Lesebuchbestände aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918 erschließt das Projekt erstmals systematisch in digitaler Form ein bisher weitgehend vernachlässigtes zentrales Quellenkorpus der Lesebuchforschung, der historischen Bildungsforschung und der Geschichte kultureller Überlieferungen generell. Die Digitalisierung der Lesebücher stellt dabei auch eine wichtige Ergänzung – und ein ausdrückliches Desiderat der Forschung – zu den bereits vom Georg-Eckert-Institut digitalisierten und im Volltext veröffentlichten Geschichts-, Geographie- und Realienkundebüchern vom 17. Jahrhundert bis 1918 dar (vgl. zur Digitalisierung Kap. 1.3).

Im letzten Jahrzehnt haben viele Bibliotheken Teile ihrer historischen Bestände digitalisiert. Dazu gehören auch zahlreiche für die historische Bildungsforschung relevante Bestände. Die Gattung Schulbuch ist dabei allerdings weitgehend unberücksichtigt geblieben. Das ist darauf zurückzuführen, dass Schulbücher nur selten systematisch gesammelt werden und im Gesamtbestand vieler Bibliotheken nicht als eigene Gattung ausgewiesen sind. Auch gibt es bislang keine systematische bibliographische Erfassung und keine ←16 | 17→Bibliographie, die alle erschienenen Schulbücher für eine Epoche oder ein Fach verzeichnen würde. Diese Ausgangssituation stellt eine große Herausforderung für jedes Digitalisierungsvorhaben dar. Für Deutschland lässt sich in jedem Fall die Aussage treffen, dass die am GEI mit GEI-Digital im Aufbau befindliche digitale Sammlung historischer Schulbücher (www.gei-digital.de) die einzige ihrer Art ist.

1.2 Methode: Theorie und Praxis

1.2.1 Korpusbildung

Nach sorgfältiger Abstimmung mit den in diesem Projekt verfolgten Forschungsfragen ergeben sich drei Arbeitspakete (Mittelschule, Höhere Schule, Volksschule) aus dem Bestand deutscher Lesebücher am Georg-Eckert-Institut mit einem Gesamtvolumen von 1.351 Bänden mit ca. 456.500 Seiten (vgl. ausführlich zum Korpus Kap. 1.3).

Die Bestände der Epoche des Deutschen Kaiserreichs zeichnen sich durch zahlreiche Auflagen eines Schulbuches über einen längeren Zeitraum aus. Damit verbunden sind auch häufig Titeländerungen anzutreffen. Signifikant für die Schulbuchproduktion ist eine erhebliche regionale Ausdifferenzierung („Regionalausgaben“) für die damals vorherrschenden Kleinstaaten. Sehr kennzeichnend für den Typus Schulbuch ist eine hohe Anzahl an mehrbändigen Werken, wobei gerade im Deutschen Kaiserreich die Mehrbändigkeit aufgrund des Ausbaus des Bildungssystems sprunghaft angestiegen ist.

Bei der Auswahl wurde daher folgendermaßen vorgegangen:

  • Einbeziehung von mehreren Auflagen, wenn zwischen der frühestmöglichen und der spätesten Auflage in der jeweiligen Epoche signifikante Veränderungen (z. B. Umfangssteigerung) zu beobachten sind.
  • Einbeziehung von Titeländerungen, da sie häufig mit Änderungen in den Lehrplänen, Unterrichtsvorgaben etc. korrespondieren.
  • Einbeziehung von unterschiedlichen Ausgaben (wie Regionalausgaben, Schulstufen, Schulformen, etc.).
  • Recherche von nachgewiesenen Lücken im Bestand des GEI in der für die Digitalisierung vorgesehenen Sammlung im Bestand der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung.

Bedingt durch die nur im Vergleich zur Digitalisierung um ein halbes Jahr versetzte Erschließung der Digitalisate war es nicht möglich, das Gesamtkorpus durch vordefinierte Suchzeichenfolgen (s. unten) in einem Arbeitsgang ←17 | 18→zu erschließen. In methodischer Hinsicht arbeitete das Projekt daher in zwei Phasen:

1.Erschließung der Lesebücher für die mittleren und höheren Schulen (Knaben und Mädchen) des Gesamtkorpus durch quantifizierbare Suchen im Volltext: quantitative und qualitative Auswertung. Formulierung von diskursiven Zuschreibungen als Ergebniscluster für diese Schulformen.

2.Verifikation von Methode und Ergebnis aus 1. durch ausschließlich qualitativen Einbezug der Lesebücher für die Volksschule. Arbeit an einem Teilkorpus ohne quantifizierbare Suchen.

1.2.2 Analytische Erschließung: Theorie

Kommunikationssituation im Lesebuch: AutorIn und HerausgeberIn. Das Defizit einer theoretischen Fundierung des Mediums Lesebuch und seiner Abgrenzung gegenüber anderen Schulbuchtypen kann durch die Berücksichtigung der Fiktionalitätstheorie sowie die Kombination kommunikationswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Kommunikationsmodelle bearbeitet werden. Während Schulbuchtexte i. d. R. faktuale Texte enthalten und auf Grundlage des einfachen Kommunikationsmodells beschrieben werden können, handelt es sich bei Lesebuchtexten oft um fiktionale Texte, für die die „kommunizierte Kommunikation“ (Janik 1973, S. 12) eines realen Autors mit einem realen Leser durch eine Mittlerinstanz konstitutiv ist. Eine Ausnahme bilden die besonders im 19. Jahrhundert zu großen Teilen versammelten dokumentarischen (Reisebeschreibungen, Ansprachen und Reden u. ä..) und wissenschaftlich-argumentativen Texte (meist geographischer oder geschichtlicher Natur, hier auch religionswissenschaftlich). Deren teils quasi-fiktionaler Status (vor allem im Fall der Reisebeschreibungen, die sich auf den orientalischen Raum beziehen) wird innerhalb der Auswertung mitbedacht. Die narratologische Forschung hat mittlerweile die Gültigkeit und Übertragbarkeit ihrer Kategorien auch für autobiographische Texte unter Beweis gestellt (Nünning 2007, Schmidt 2014), sodass zumindest für den Fall von Autobiographien und Reisebeschreibungen die Anwendbarkeit der Methode gewährleistet ist.

Für das Lesebuch muss somit eine dreifache Kommunikatorenebene (sämtliche an der Konzeption des Lesebuchs beteiligte Interagenten wie vor allem die HerausgeberInnen (Ebene 1), der/die reale AutorIn des literarischen Textes (Ebene 2) und die fiktive Mittlerinstanz (Ebene 3)) angenommen werden. Im Prozess der Lesebuchentwicklung kommt es durch editorische Entscheidungen der an der Konzeption des Lesebuchs beteiligten Interagenten (Textauswahl, -kürzungen, -änderungen usw.) jedoch zu einer Verschmelzung von Ebene 1 ←18 | 19→und 2. Dieses Phänomen der doppelten Autorenschaft von Lesebuchtexten kann im Rahmen der Kommunikationssituation wie folgt (Abb. 1) visualisiert werden (vgl. Junge 2017, S. 40 f.; Junge 2021, S. 47 ff.):

Abbildung 1:Kommunikationssituation in Lesebüchern (eigene Abb. in Anlehnung an Junge 2021)

Diese lesebuchspezifische Kommunikationssituation bedeutet für die Erhebungsmethode, dass bei der Analyse von Lesebuchtexten eine fiktive Instanz als der Kommunikator des Lesebuchtextes angesehen werden muss. Somit sind das Erzählen und das Erzählte durch eine(n) fiktive(n) (auch autodiegetische(n)) ErzählerIn und das lyrische Sprechen durch ein lyrisches Ich, das sich im imaginär-authentischen Text manifestiert, die Gegenstände jeglicher kulturwissenschaftlich orientierter und somit auch der vorliegenden Lesebuchuntersuchung. Darüber hinaus jedoch gilt es – anders als in der genuin literaturwissenschaftlichen Textanalyse -, den Interdiskursagenten als denjenigen in der Analyse zu berücksichtigen, der a) Texte und AutorInnen selektiert und b) Texte ordnet, zuordnet und redaktionell bearbeitet (i. d. R. kürzt oder mit eigenen Titeln versieht, die aufmerksamkeitssteuernd wirken). Die Lesebuchforschung bestimmt so die Reichweite des Herausgebers, indem nicht nur das Original mit dem bearbeiteten Text verglichen, sondern vor allem über biographische Informationen, weitere literaturpädagogische Publikationen und die Paratexte des Lesebuchs die vermutliche Intention im Falle der Aufnahme eines einzelnen Textes nachvollziehbar gemacht wird.←19 | 20→

Das Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberschaft wird damit zu einem determinierenden Faktor bei der Auswertung der Texte. Die Forschung bezeichnet derzeit die Frage nach der Autorschaft von Schulbüchern als einen „veritable blind spot“ (Otto 2018, S. 95). Die Autorzentrierung des frühen 19. Jahrhunderts (vgl. Kap. 1.5) löste sich im Zuge des Kaiserreichs angesichts zunehmender Professionalisierung in ein „invisibling of textbook authors“ „towards collective forms of authoring“ (ebd.) auf. Dies ist bestehenden Analysen deutlich anzumerken, die nur in Einzelfällen (vgl. Zimmer 2006) auf HerausgeberInnen Bezug nehmen und sich oft an AutorInnen und Werken orientieren. Forschung zur „Funktion Herausgeber“ setzt eben erst ein, was zu einem großen Teil auf das Paradigma einer praxeologischen Germanistik zurückzuführen ist, die sich auch in der historischen Forschung weitestgehend den Praktiken der Literaturvermittlung annähert. Erika Thomalla (2020) skizziert erste Züge einer „Geschichte der Herausgeberschaft“, die auch die schulische Literaturvermittlung insofern berührt, als die Geschichte der Philologie ohne eine der (gymnasialen) Literaturvermittlung kaum denkbar ist. Die Bedingungen literarischer Produktion änderten sich auch unter dem Einfluss der Schule (wachsende Bedeutung des muttersprachlichen Literaturunterrichts, vgl. Kap. 1.4) maßgeblich, sodass Thomalla thesenhaft formuliert: „Die Funktion des Herausgebers besteht darin, an der Erzeugung der Autorfunktion mitzuarbeiten und sie zu beglaubigen“ (Thomalla 2020, S. 15). Sie versteht das Verhältnis von AutorIn und HerausgeberIn als eine „Praxisgemeinschaft“ (ebd., S. 17), in der die/der HerausgeberIn durch „konkrete Praktiken und Kulturtechniken des Edierens“ (S. 20) Autorschaft zuerst erzeugt, worunter „Auswahl und Anordnung“ wie auch die „Konstitution des Textes selbst“ (S. 22) zu verstehen sind. Thomalla zeigt in ihrer Untersuchung, wie diese Thesen am Beispiel der schulbezogenen Philologie zu konkretisieren sind: Mit zunehmender Integration muttersprachlicher Literatur in die Gymnasiallehrpläne stieg das Bedürfnis nach günstigen und verlässlichen Klassikerausgaben, deren Auftrag zwischen Professionalität und Popularität zu verorten war (S. 364 ff.); Schillers ungeheure Popularität verlangte nach einer Gesamtausgabe, die zunächst als eine Cotta-Ausgabe durch den Gymnasial-Professor Joachim Meyer für die Schulen angelegt war (S. 403 ff.); mit der Etablierung Goethes als deutscher Dichter im Kaiserreich entstand die Notwendigkeit sittlich „bereinigter“ Texte für den Schulgebrauch, sodass Umarbeitungen des Faust oder der Römischen Elegien für lange Zeit kanonisch wurden.

Details

Seiten
432
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875650
ISBN (ePUB)
9783631875667
ISBN (Hardcover)
9783631862872
DOI
10.3726/b19576
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 432 S., 8 farb. Abb., 10 s/w Abb., 11 Tab.

Biographische Angaben

Christian Dawidowski (Autor:in) Florian Eickmeyer (Autor:in)

Christian Dawidowski ist Professur für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück. Florian Eickmeyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück.

Zurück

Titel: Die Darstellung des Islam im Kaiserreich
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
434 Seiten