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Narrative der Krise

Literatur und Kino in Italien, Griechenland, Deutschland (2000–2015)

von Sergio Corrado (Band-Herausgeber:in) Anastasia Antonopoulou (Band-Herausgeber:in) Uta Felten (Band-Herausgeber:in) Tanja Schwan (Band-Herausgeber:in) Franziska Andraschik (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 478 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 46

Zusammenfassung

Aus komparatistischer Perspektive korreliert und kontrastiert der vorliegende Band aktuelle literarische Texte und Filme aus Griechenland und Italien – zwei Ländern Südeuropas, die von der Wirtschaftskrise 2008 am härtesten betroffenen waren – mit Krisennarrativen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Beiträge beleuchten die ästhetischen, philosophischen, soziologischen und medienspezifischen Codierungen der Krise(n) und fragen im Rekurs auf geeignete Krisentheorien nach je länderspezifischen Krisennarrativen, aber auch nach Überlappungen von Krisendiskursen und ihrer Positionierung zueinander.
Der Band versammelt die Erträge eines an den Universitätsstandorten Neapel, Athen und Leipzig gemeinsam realisierten transdisziplinären Forschungsprojekts, das vom DAAD gefördert wurde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Die Sprachen der Krise und das metamorphische Potenzial der Literatur. Eine Einführung (Sergio Corrado)
  • Philosopheme der Krise
  • Die Gefahr und das Rettende. Edmund Husserl zur Krisis der europäischen wissenschaftlichen Kultur (Georgios Xiropaidis)
  • Die Hegemonie des Ökonomischen und die ethische Dimension der Krise (Rossella Bonito Oliva)
  • Ästhetiken der Krise. Strategien zur Überwindung eines kollektiven kritischen Zustandes (Elena Tavani)
  • „Ich sterbe als Land“: Krise(n) und kein Ende. Dimitriadis – Koselleck – Habermas (Katerina Karakassi)
  • The Neoliberal (Counter)Revolution: Its Parabola and Decline (Massimo De Carolis)
  • Filmische Narrative der Krise
  • Krisen und Risse der Wahrnehmung: Monica Vittis flânerie als Kontradiskurs zum boom economico (Uta Felten)
  • Marta am Kreuzweg – Räume und,Medien‘ der Krise in Alice Rohrwachers Corpo celeste (2011) (Tanja Schwan)
  • Krisenlandschaften und autoreflexive Poiesis im spanischen Film des neuen Jahrtausends (Giulia Colaizzi)
  • Der Kurzfilm Christus kam nur bis Gyzi (2013) von Amerissa Basta vor der Folie von Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli (1945) (Elli Carrano)
  • Il mondo deve sapere: Krisendiskurse in der zeitgenössischen italienischen Literatur und im Film (Franziska Andraschik)
  • Narrative der Flüchtlingskrise in Literatur und Film – Der Roman Gehen, Ging, Gegangen (2015) von Jenny Erpenbeck und der Film Seefeuer (2016) von Gianfranco Rosi (Ilse Nagelschmidt)
  • Literarische Narrative der Krise
  • Uwe Timms Kopfjäger als Illustration und Analyse des „profitfreundlichen ideologischen Abwehrsystems“ (Monika Albrecht)
  • Verlorene Posten. Krise und Zeit in Goetz’ Johann Holtrop und Timms Vogelweide (Sergio Corrado)
  • Zur Wahrnehmung und Darstellung der Krise am Beispiel von Christoph Heins Roman Weiskerns Nachlass (Giusi Zanasi)
  • Symptome einer latenten Krise. Kathrin Röggla zur Medieninszenierung von Katastrophen (Lorenzo Licciardi)
  • Mythisierung und Entmythisierung der Krise im Roman Die äußerste Erniedrigung (2015) von Rhea Galanaki (Anastasia Antonopoulou)
  • „Es wird nicht mehr aus Liebe gemordet“. Petros Markaris und die Krise in Griechenland (Evi Petropoulou)
  • Literatur über die Krise noch vor der Krise. Zum Werk von Christos Ikonomou (Titika Dimitroulia)
  • Krise in Werken der jüngeren Schriftstellergeneration Griechenlands (Erika Theochari)
  • Zynismus und Zärtlichkeit in den Krisen-Romanen Gott ist mein Zeuge (2013) von Makis Tsitas und Letzte Ausfahrt Stymfalia (2014) von Michalis Modinos (Alexandra Antonakaki)
  • Krise – nicht nur – des Managements in Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931) (Simela Delianidou)
  • Migration als Krisenphänomen in der zeitgenössischen Literatur (Sarina Thiele)
  • „Estás en mi corazón aunque estoy lejos de ti“ – Transnationalität und Transkulturalität als poetologische und politische Krisendiskurse im zeitgenössischen kubanischen Roman (Anne-Berenike Rothstein)
  • Literatur in Krisenzeiten: Griechenland
  • Literatur in Krisenzeiten. Stellungnahmen griechischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum Thema „Literatur und Krise“ (Petros Markaris, Christos Ikonomou, Christos Asteriou, Sofia Avgerinou, Vasia Tzanakari, Makis Tsitas, Kallia Papadaki)
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Einleitung

1. Das DAAD-Projekt „Narrative der Krise“ (Leipzig, Athen, Neapel)

Als wir im Sommer 2015 das Projekt „Narrative der Krise / Narrazioni della crisi / Αφηγήσεις της κρίσης“ mit dem Untertitel „Literatur und Kino in Italien, Griechenland, Deutschland (2000–2015) / Letteratura e cinema in Italia, Grecia, Germania (2000–2015) / Λογοτεχνία και κινηματογράφος στην Ιταλία, Ελλάδα, Γερμανία (2000–2015)“ ins Leben riefen, durchlebten die Länder Südeuropas – Griechenland, Italien (hier besonders Süditalien), Spanien, Portugal – gerade die akuteste Phase ihrer ökonomischen Krise. Die Auswirkungen dieser seit der Nachkriegszeit wohl verheerendsten Krise, die die wirtschaftliche und soziale Situation der genannten Länder auch in den folgenden Jahren prägten, sind bis heute zu spüren. Am stärksten davon betroffen war Griechenland: Noch immer haben wir die desolaten Bilder aus Athen vor Augen, dessen Straßen und Plätze zu Schlachtfeldern vehementer Protestdemos wurden, aber auch plötzlich verarmten Menschen, die sich keine Wohnung mehr leisten konnten, Unterschlupf boten – wie das Coverbild unseres Bandes zeigt.

Angesichts dieser dramatischen Momente wartete man Tag für Tag voller Hoffnung, Pessimismus oder Groll auf ein entscheidendes Wort der europäischen und/oder lokalen Institutionen; das Schicksal der Krisenländer schien von der Flexibilität oder Unerbittlichkeit dieser Politikerin oder jenes Politikers bzw. von der EU-Kommission abzuhängen. Dennoch war an der nahezu apokalyptischen Atmosphäre bereits damals abzusehen, dass jene Ereignisse nur der Beginn einer langwierigen Krise sein würden, die noch Jahr um Jahr Ökonomie und Lebensqualität dieser Länder beeinträchtigen sollte. Heute, einige Jahre später, sind zwar die Bankkonten nicht mehr gesperrt; an den Bankautomaten bilden sich keine Schlangen mehr, um limitierte Geldbeträge abzuheben ‒ und dennoch: Nicht alle haben ein Konto, auf den Straßen Athens schlafen noch immer zahlreiche Obdachlose, und viele Einzelhändler konnten ihre Geschäfte nie wieder aufnehmen; in Griechenland wie in Süditalien und auch auf der iberischen Halbinsel bewegt sich die Arbeitslosenquote (vor allem die der Jugend) nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau, so dass viele, insbesondere junge und qualifizierte Menschen nach Nordeuropa oder in wirtschaftlich besser gestellte Regionen der eigenen Länder migrieren müssen, um Arbeit zu finden.

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Die Verspätung, mit der dieser Band erscheint, hat einen überraschenden Effekt, denn inzwischen, im mittlerweile dritten Jahr der Covid-Pandemie, hat das Thema „Krise“ nichts von seiner Aktualität verloren. Dies gilt in ganz besonderem Maße, da es sich auch im aktuellen Fall um eine Krise handelt, die – neben dem Gesundheitswesen – die gesamte Weltwirtschaft trifft. Auch das reiche Nordeuropa, die USA und Kanada leiden an der Pandemie, zählen ihre Opfer und durchleben dramatische Phasen; doch die Länder, die bereits unter der 2008 ausgebrochenen Krise gelitten haben, müssen den wirtschaftlichen Konsequenzen eines erneuten Zusammenbruchs entgegentreten, und zwar gerade in dem Moment, da sie versuchten, die lang andauernden Effekte der damaligen Krise zu bewältigen.

Die Pandemie hat in diesen Ländern einen weiteren wirtschaftlichen Rückschritt verursacht, so dass die Krise, die am Ende der ersten Dekade der 2000er Jahre ihren Anfang nahm, sich bis in die Gegenwart ausdehnt. Diese Dynamik bestätigt heute die damals geäußerten Befürchtungen über die Dauer der Krise und deren schwer abzuschätzende Auswirkungen. Denn in der Regel lodert eine Krise nicht nur kurz auf, um dann wieder zu verpuffen, umfasst also nicht nur einen knappen Zeitraum, in dem ein zuvor erreichtes Gleichgewicht aus den Fugen gerät; es handelt sich vielmehr um ein langwieriges Phänomen, das sich im Laufe der Zeit fortentwickelt und weit über die virulente Phase hinaus andauert, in der es die gierige Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. In der anschließend einsetzenden Phase ihrer verschwiegenen Permanenz kann sich eine Krise dann mit anderen Krisen (wie der Pandemie) verbinden und so ihre Effekte vervielfachen. Insofern scheint uns der vorliegende Band gerade angesichts der aktuellen pandemischen Situation leider aktueller denn je.

Als das Projekt 2015/2016 vom DAAD im Rahmen des Finanzierungsprogramms „Hochschuldialog mit Südeuropa“ gefördert wurde, war die Südeuropa-Krise zu einem der Hauptthemen der politischen Debatte avanciert; sowohl im akademischen als auch im populärwissenschaftlichen Bereich häuften sich dem Thema gewidmete Publikationen, Netzwerke wurden gegründet, Forschungsprojekte beantragt und Tagungen organisiert. Es ist bezeichnend, dass Henning Grunwald und Manfred Pfister bereits 2007, als die Wirtschaftskrise in Südeuropa noch nicht in Sicht war, in einem interessanten Sammelband die Verwendbarkeit des Terminus „Krisis“ (in der altgriechischen Wortform) in Zweifel zogen, weil dieser schon damals seine Funktion als operationaler Begriff eingebüßt zu haben schien, so dass die Herausgeber von einer „Krise der Krise“, d.h. von einer Krise des Krisendiskurses sprachen.1 Wenn wir trotzdem auf die ←10 | 11→Idee kamen, eine Forschungsgruppe zum Thema „Narrative der Krise“ ins Leben zu rufen, dann weil wir fanden, dass unser Projektentwurf hinsichtlich zweier Aspekte eine neue und besondere Perspektive eröffnen konnte: Wir hatten vor, in unsere Arbeit auch die Dot.com-Krise zu Beginn des neuen Jahrtausends miteinzubeziehen, die u.a. in Deutschland heftige Auswirkungen gezeigt hatte. Dies sollte es uns ermöglichen, einen weiteren Zeitbogen zu umspannen und gemeinsame Aspekte der Dot.com-Krise und der ein knappes Jahrzehnt später in Südeuropa einsetzenden Krise herauszuarbeiten. Ebenso wichtig war es uns in unserer trinationalen Forschungsgruppe, mithilfe eines komparatistischen Ansatzes verschiedene kulturelle Perspektiven (aus/auf Griechenland, Deutschland und Italien) miteinander zu konfrontieren, in der Überzeugung, dass diese Krise und ihre Narrative aus einem einzigen Blickwinkel allein nicht gänzlich zu entziffern wären.

Auf diese beiden Punkte kommen wir weiter unten zurück. Zuerst sei jedoch betont, dass die hier versammelten Beiträge mehrheitlich einen konstruktivistischen Ansatz teilen, denn wir gehen von einem konstruierten Charakter der Krise als diskursives Produkt aus. Dass alle zentralen Kategorien des soziologischen, anthropologischen oder überhaupt kulturwissenschaftlichen Denkens,Erfindungen‘ sind, lässt sich wohl nur noch schwer bestreiten – nicht zufällig taucht kaum ein Wort auf den Titelseiten von Veröffentlichungen aus diesen Bereichen in den letzten Jahren häufiger auf als das Wort „Erfindung“. Dies gilt auch für den Begriff „Krise“: Was eine Krise ist, wie sie zu definieren sei, welche Para- meter angelegt werden, um eine Zeitspanne als Krisenzeit zu labeln, hängt von den narrativen Strategien ab, die sich im wissenschaftlichen, medialen, literarischen und ästhetischen Diskurs insgesamt durchsetzen.2

In der Forschung zur Finanzkrise, die im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts das Leben von Millionen Menschen verändert, wenn nicht zerstört hat, wird diese häufig nicht nur als ein Ereignis betrachtet, dessen Phänomenologie und Ätiologie mit einer branchenspezifischen Methodologie nachzuvollziehen sind; ins Blickfeld geraten vielmehr auch deren anthropologische und kulturelle Auswirkungen. So stehen Krisen zunehmend im Zentrum des kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresses und werden aus einer typologischen und genealogischen Perspektive untersucht, indem man ihre diskursive Beschaffenheit hervorhebt. Von der Schwierigkeit ausgehend, einen allgemeingültigen Krisenbegriff wissenschaftlich zu definieren, hat der kulturwissenschaftliche Ansatz immer wieder den Konstruktcharakter der Krise unterstrichen – so etwa Ansgar ←11 | 12→Nünning: „Man braucht kein radikaler Konstruktivist zu sein, um der Auffassung zuzustimmen, dass die mediale Redeweise von ‚Krisen‘ bestimmte Situationen und Geschichten überhaupt erst zu Medienereignissen macht“.3 In zahlreichen theoretisch ausgerichteten Arbeiten über das Thema „Krise“ bzw. in einzelnen Fallstudien geht man demzufolge den jeweiligen diskursiven Konstruk- tionsstrategien nach, wobei sich folgende Fragen stellen: Wie reden wir von Krisen? Mithilfe welcher Kategorien werden Diskontinuitäten statuiert und bestimmte Perioden im kontinuierlichen Zeitverlauf scharf konturiert, damit sie als „Krisenzeiten“ abgesondert und etikettiert werden können? Welche Bewertungspolitik wohnt derartigen Portionierungen der Zeit inne?

Solche auf Hayden Whites Metahistory4 rekurrierenden Ansätze operieren mit einem Krisenbegriff, der „ein narratives Potential, inklusive stabiler Topoi und wiederkehrender Plotlinien“, entwickelt, denn „als Verlaufsbegriff ist die ‚Krise‘ narrativ verfasst“.5 So konnten die in wissenschaftlichen Diskursen verschiedener Provenienz (vor allem im wirtschaftlichen, aber auch im soziologischen und politischen Diskurs) gebräuchlichen Narrative in jüngster Zeit immer deutlicher profiliert werden. Man hat die Medien zunächst aus sprachwissenschaftlicher Perspektive untersucht, denn der Krisenbegriff ist „auf mediale Repräsentationen angewiesen“.6 Dabei trat die zunehmende Verwendungshäufigkeit des Terminus „Krise“ in allen Medien zutage, und zwar nicht nur als Bezeichnung für die Finanzkrise 2008 und deren Dynamiken, sondern gewissermaßen als Passepartout-Formel, die alle Wissens- und Lebensfelder überwuchert – unter dem Begriff „Krise“ werden in der Folge die unterschiedlichsten sozialen, ökonomischen, kulturellen und psychologischen Phänomene subsumiert. Während also in Griechenland seit Jahren „die“ Krise und diverse von ihr verursachte kritische Situationen im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen (zuletzt allerdings mit deutlich weniger dramatischen Akzenten, wie übrigens auch in Italien, Spanien oder Portugal), spricht man in Deutschland ebenfalls ständig von irgendeiner Krise, denn Deutschland sei – so Nünning – „seit geraumer Zeit […] zum inoffiziellen Tabellenführer der weltweiten Krisenliga […] avancier[t]“, und zwar aufgrund der „mediale[n] Proliferation von immer neuen Krisen“.7

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Dieser Omnipräsenz in den Medien ist es geschuldet, dass der Krisendiskurs seinen ursprünglich öffentlichen – ob sozioökonomischen oder, wie jetzt im Jahre 2022, medizinischen und klimatischen – Rahmen verlässt und auf das Privatleben überschwappt, was ihn für literarische Texte und Filme besonders relevant und anschlussfähig macht. Daraus ergaben sich die Leitfragen unseres Projekts: Wie wird die Krise literarisch und ästhetisch codiert? Mit welchen kontextbedingten länderspezifischen Unterschieden wird die Krise in der deutschen, italienischen und griechischen Literatur und Filmkunst inszeniert? Mittels welcher Narrative wird sie erzählt? Welche Krisendiskurse (wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, biographische, geschlechtsspezifische usw.) überlappen sich darin, und wie positionieren sie sich jeweils zueinander? Mit seinem Versuch, plausible Antworten auf diese Fragen zu finden, versteht sich unser Projekt als Beitrag zu jener „Narratologie der Krise“, deren Ausarbeitung Nünning schon vor circa fünfzehn Jahren einforderte8 und die für den ästhetischen Bereich nur punktuell realisiert wurde.9

2. Die Forschungsgruppe und die drei Tagungen

Wir haben das Spezifische unseres Projekts bereits oben anhand zweier Merkmale skizziert: der Berücksichtigung der Dot.com-Krise und unserer komparatistischen Herangehensweise. Beide Aspekte waren sowohl hinsichtlich der Forschungsthematik als auch der Zusammenstellung des Arbeitsteams relevant, erlaubten sie es uns doch, auch die deutsche Literatur zu einem der Forschungsthemen miteinzubeziehen. Es war also nicht nur das Interesse an der Südeuropa-Krise, das ein Team von Forscherinnen der Universität Leipzig unter Leitung von Uta Felten dazu motivierte, die Finanzierung des Projekts beim DAAD zu beantragen, sondern auch das Bedürfnis, über ein Thema zu forschen, das die Stadt Leipzig und das Land Sachsen direkt anging. Die Wahl der Zeitspanne von 2000 bis 2015 als Untersuchungszeitraum ermöglichte es uns, über die Wirtschaftskrise in Griechenland und Italien hinaus einen Blick auch auf diejenige Krise zu werfen, die Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des neuen Jahrtausends Deutschland getroffen und tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein (vor allem, jedoch nicht nur, der ehemaligen DDR) hinterlassen hat. Die soziale Unsicherheit und die Wahrnehmung des Risikos einer Rezession haben die mit der ←13 | 14→Wiedervereinigung verbundenen Ängste wieder aktiviert und sie in den Alltag und ins Private einsickern lassen.

Letzteres ließ eine Analyse literarischer oder filmischer Codierungen lohnend erscheinen und wurde zum Anlass, Forscher_innen dreier Universitäten aus drei Städten in drei Ländern miteinander zu vernetzen, die in den vorausgegangenen 15 Jahren – wenn auch zeitlich versetzt und unter verschiedenen Bedingungen – von einer sozialen und wirtschaftlichen Krise in besonderem Maße heimgesucht worden waren. Dabei konnte auf das bereits sehr aktive Kooperationsnetz zwischen der Universität Leipzig, der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen und der Universität Neapel „L’Orientale“ zurückgegriffen werden, das sich schon Jahre vor dem Start des Projekts in einem regen Austausch von Studierenden und Dozierenden im Rahmen des Erasmus-Programms konkretisiert hatte. In einem ersten Schritt wurde ein Arbeitsteam zusammengestellt, dessen Kerngruppe nicht nur aus Germanist_innen bestehen sollte, obwohl sie die umfangreichste Gruppe ausmachten, sondern auch aus Romanistinnen und Italianistinnen wie den Leipziger Initiatorinnen. Darüber hinaus wurde die internationale und interdisziplinäre Ausrichtung der Arbeitsgruppe durch den besonderen Charakter der griechischen Germanistik gestärkt, die insofern komparatistisch arbeitet, als sie unter anderem die Vermittlung der griechischen Kultur und den Kulturaustausch mit Deutschland als ihre spezifische Aufgabe betrachtet. Davon zeugte die neogräzistische Kompetenz der Athener Gruppe bei unseren Tagungen.

Eines der zentralen Anliegen des Projekts war es denn auch, die – sieht man einmal von Petros Markaris ab – außerhalb Griechenlands wenig bekannte zeitgenössische griechische Literatur und Filmkunst vorzustellen, und zwar im Rahmen des für unsere Perspektive prioritären Vergleichs der kulturellen Kontexte, einer bisher noch nicht in dieser Weise praktizierten Triangulation. In dieser Hinsicht bildete die im vorliegenden Band dokumentierte Podiumsdiskussion mit griechischen Schriftsteller_innen am Ende der Athener Tagung einen der Höhepunkte des gesamten Projekts; von besonderem Interesse, gerade für das nicht-griechische Publikum, war darüber hinaus die Vorführung des Kurzfilms Ο Χριστός σταμάτησε στου Γκύζη (Christus kam nur bis Gyzi, 2013) von Amerissa Basta und einiger Auszüge aus dem Film Tungsten (2011) von Giorgos Georgopoulos – in Anwesenheit beider Regisseur_innen, die anschließend zusammen mit Antonis Papadopoulos, dem Direktor des Griechischen Kurzfilmfestivals, an der Diskussion teilnahmen.

Ein weiteres Ziel unseres Projektes bestand in der Beteiligung von Nachwuchsforscher_innen der drei Universitäten, war es für uns doch von Anfang an entscheidend, ein Forum zu bieten, bei dem die griechischen, deutschen ←14 | 15→und italienischen Doktorand_innen, Post-Doktorand_innen und jüngeren Forscher_innen zusammentreffen und miteinander in Austausch treten konnten.

In die Kerngruppe wurden sodann weitere Forscher_innen aufgenommen, die z.T. an anderen Universitäten tätig sind, was zur Interdisziplinarität des Projekts, zur Pluralität der methodologischen Ansätze und zur Erweiterung des Forschungsfeldes beitrug. Blieben die Narrative der Krise in Literatur und Filmkunst der drei Länder im Fokus, so wurden bei den drei Tagungen der Projektgruppe (in Neapel im März, in Athen im Juni und in Leipzig im November 2016) auch Krisenszenarien im heutigen Spanien und Rumänien sowie im Indien der 1970er Jahre berücksichtigt, darüber hinaus aber auch Themen, die direkt oder indirekt eng mit wirtschaftlichen Krisen verbunden sind, wie die Migrationsproblematik, die Prekarisierung der Arbeitswelt, die technologie-gestützte Überwachung von Städten oder die Transformation ostdeutscher Industrielandschaften. An theoretischen Fundierungen haben sich nicht zuletzt Genderperspektiven auf krisengeschädigte Kontexte sowie Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurse als fruchtbare Ansätze erwiesen. Eminent wichtig war auch die Beteiligung von Forscher_innen aus den Bereichen der Philosophie und Ästhetik, die daran mitgewirkt haben, das Projekt auf eine solidere Basis zu stellen und den theoretischen Gesamtrahmen präziser zu definieren, innerhalb dessen der kulturwissenschaftliche Ansatz in einen produktiven Austausch mit dem literarisch-hermeneutischen, linguistischen und medienwissenschaftlichen gesetzt werden konnte.

3. Die Struktur des Bandes und die Beiträge

Die Zeit, die zwischen den drei Tagungen und der Publikation des vorliegenden Bandes vergangen ist, hat es uns ermöglicht, deren Erträge neu zu überdenken, weshalb wir uns gerade angesichts der komplexen Vernetzung von Themen, theoretischen Ansätzen, Forschungsgebieten und interkulturellen Beziehungen für einen möglichst linearen Aufbau des Bandes entschieden haben. Dementsprechend sind die Beiträge, denen eine Einführung von Sergio Corrado zum Thema Literatur und Krise vorangestellt ist, in vier leicht überschaubare Sektionen gruppiert: Die einleitende Sektion liefert den theoretischen Rahmen für den Krisendiskurs in seiner Gesamtheit und beleuchtet diesen aus einer politischen, ethischen sowie ästhetischen Perspektive; ihr folgen zwei jeweils dem Film und der Literatur aus den drei Ländern gewidmete Sektionen; eine abschließende Sektion versammelt Stimmen von griechischen Schriftsteller_innen und spiegelt die sehr rege Podiumsdiskussion bei der Athener Tagung wider.

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Schwerpunkte der ersten Sektion Philosopheme der Krise sind: philosophische Narrative der europäischen Krise, Ökonomisierung des Lebens und Ethik, Ästhetik des Kunstraums, Probleme der Governance und Krise des neoliberalen Modells, Krisentheorien.

Georgios Xiropaidis stellt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen Edmund Husserls zwischen 1934 und 1937 entstandene Spätschrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Die Krise betrifft Husserl zufolge trotz des Titels nicht allein die Wissenschaften, sondern ganz Europa und mit ihm die europäisierte Menschheit. Die Rettung der sich in höchster Gefahr befindenden modernen europäischen Kultur wäre eine neue Konzeption von Vernunft, die es ermöglichen würde, Wissenschaft und lebensweltliche Erfahrung miteinander zu versöhnen. Husserls Konzeption der Krise steht in engem Zusammenhang mit seiner Auffassung einer Wissenschaft, die sich in der Neuzeit von ihren griechischen Wurzeln entfernt hat. Der Beitrag argumentiert, dass Husserl kein Philosoph der Dekadenz sei; seine Phänomenologie der Lebenswelt gehöre vielmehr in die Tradition der Aufklärung, da sie auf einen neuen kritischen Rationalismus mit humanen Zielsetzungen abhebt.

Rossella Bonito Oliva hinterfragt die ethische und anthropologische Dimension der Krise, indem sie diese mit der Ökonomisierung des Menschenlebens verknüpft: Betrachtet im Lichte seiner Reduzierung auf statistisch zu registrierende Quantitäten, zeigt sich die Wirtschaftskrise nicht als Ereignis, sondern als kontinuierliches, die Existenz der Menschen und deren Alltag unterminierendes Phänomen, wodurch die Krise „zum Inhalt der Narration unserer Zeit schlechthin“ wird. Da diese Verabsolutierung des Ökonomischen Nebenkosten wie Unbehagen, Entfremdung oder Widerstand nach sich zieht, operiert die Wirtschaft als eine Art „Pädagogik des Humanen“, um durch eine codegesteuerte, anästhesierende und disziplinierende Ethik solche unerwünschten Reaktionen unter Kontrolle zu halten. Dieser Alibi-Ethik setzt Bonito Oliva eine andere, noch zu etablierende Ethik entgegen, die im ältesten Sinne des oikos „das Leben als Gut aller und Ressource jedes Einzelnen unterstützt und sichert“.

Von einem Street-Art-Werk des spanischen Künstlers SpY in Bilbao ausgehend, stellt Elena Tavani die Frage nach dem kritischen Potenzial von Kunstinstallationen und -performances im Kontext der Südeuropa-Krise. Sie analysiert die verschiedenen Modalitäten einer „Ästhetik der Krise“, die „als Experiment mit möglichen Strategien zur Transformation bzw. Lösung eines kritischen Zustandes“ zu verstehen sei. Nach Tavani handelt es sich dabei um eine immersive und relationale Ästhetik, die darauf abzielt, die Raumerfahrung der Teilnehmenden zu transformieren (man denke an die begehbaren Räume in bestimmten Installationen) und deren Beziehungen zueinander innerhalb des ←16 | 17→Kunstraums anders zu organisieren als in der durchcodierten Welt der „harten“ ökonomischen Gesetze (ein Beispiel hierfür wären Flashmobs). Daher kann man in diesen ästhetisch-sozialen Erfahrungen den Versuch sehen, neue, von den hegemonialen Codes befreite Gemeinschaftsformen zu konfigurieren – so etwas wie eine im echten Sinne des Wortes politische Antwort auf die Krise.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Katerina Karakassi steht „Ich sterbe als Land“ von Dimitris Dimitriadis, eine 1978 entstandene Erzählung, die in den Jahren der Krise als prophetischer Text und Identifikationsnarrativ für die griechische Gesellschaft zelebriert worden ist, da der Autor dem Zorn der Griech_innen auf die Korruption der politischen und wirtschaftlichen Eliten eine nach mehr als 30 Jahren immer noch aktuelle Form zu geben wusste. Nach einer kurzen historischen Rekonstruktion des Begriffs „Krise“ stellt Karakassi die Krisentheorien von Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas vor, um sie anschließend auf Dimitriadis’ Text zu beziehen. Dadurch gelingt es ihr, die politische Bedeutung der Finanzkrise in Griechenland aufzuzeigen und die Komplexität des Phänomens „Krise“ zu veranschaulichen.

Dass die Krise von 2008 nach so vielen Jahren immer noch ihren Schatten auf die Gegenwart wirft, zeigt für Massimo De Carolis, dass sie das neoliberale Paradigma der sozialen Ordnung insgesamt betrifft. Die ersten, zwischen der Krise von 1929 und dem Zweiten Weltkrieg entstandenen neoliberalen Theorien, die eine Antwort auf die globale Krise der Modernität anbieten wollten, erkannten, dass die zunehmende Dynamisierung des sozialen Lebens und der sich durchsetzende markttypische Mechanismus des Potenziellen auf Kosten des Realen nicht durch die klassischen Formen der politischen Souveränität kon- trolliert werden konnten. Als die neoliberale Biopolitik von den 1980er Jahren an auf die Maximierung der diffusen Potenzialitäten abzielte, wobei sie sich zu deren Kontrolle immer mehr auf „neutrale“ Algorithmen verließ anstatt auf traditionellere Machtformen, zeigte sich: Je invasiver solche Dispositive werden, desto stärker unterliegt das soziale Leben paradoxerweise illiberalen Machtverhältnissen und großen Machtagglomerationen, und desto mehr schrumpft die Intelligenz zu reiner Verwaltungslogik.

Einerseits richten die Beiträge der zweiten Sektion ihren Fokus auf Filmische Narrative der Krise (Prekarisierung der Arbeits- und Lebenswelt, Migration aus außereuropäischen Kontinenten, Depression im familiären Kontext, Verwahrlosung von Stadtvierteln, generationsspezifische Konflikte) in griechischen, spanischen und italienischen Filmen der Gegenwart (mit einem Rückblick auf das italienische Kino der 1960er und seine Kritik am boom economico); andererseits analysieren sie die poetologische Funktionalisierung der Krise für eine Erneuerung der Filmsprache.

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Die Reflexion von sozialen, ökonomischen und politischen Krisen und epistemologischen Umbrüchen sowie die poetologische Funktionalisierung der Krise für eine Erneuerung konventioneller filmischer Diskurse im Dienst einer willentlich diskontinuierlichen, von Lücken, Leerstellen und Brüchen zersetzten neuen Filmsprache ist seit den 1960er Jahren ein Anliegen europäischer Filmemacher_innen. Demensprechend fokussiert der Beitrag von Uta Felten die historischen Narrative der Krise und die Kritik am boom economico im italienischen Kino der 60er Jahre und setzt hierbei einen Schwerpunkt auf die Analyse der Figur der Monika Vitti, die im Kino von Michelangelo Antonioni für einen vehementen Umbruch bisher gültiger Wahrnehmungsmodi steht und als donna flâneuse im Film L’eclisse dem hektischen Treiben des boom economico eine radikale Leere und Stille entgegensetzt.

Der Beitrag von Tanja Schwan bietet eine plurale Lektüre des Krisendiskurses im Spielfilmdebut der zeitgenössischen Regisseurin Alice Rohrwacher, Corpo celeste. Die Vielschichtigkeit der Krise zeigt sich in diesem Coming-of-Age-Drama in der abgründigen Inszenierung einer Adoleszenzkrise vor der Folie des katholisch geprägten Milieus Süditaliens. Zu Filter, Chiffre und,Medium‘ der filmischen Wahrnehmung wird dabei der gleichsam ethnologisch verfremdete Blick der jungen Protagonistin auf die Brüchigkeit und Ruinosität christlicher Rituale, die längst in Konkurrenz zum omnipräsenten neokapitalistischen Medienspektakel getreten sind. Auch wenn Wirtschafts- und Migrationskrise im Film oftmals nur als Hintergrundrauschen präsent sind, in beiläufigen Gesprächsfetzen oder vorbeiflimmernden Fernsehbildern, bleiben sie doch geradezu ostentativ ausgespart, so dass sich in den Leerstellen selbst überdeutlich artikuliert, was sie verschweigen – und sie somit als die eigentlichen „Narrative der Krise“ lesbar werden.

Mit dem Beitrag von Giulia Colaizzi schließt sich eine weitere Analyse einer Krise weiblicher Adoleszenz an: Im Film La última polaroid der katalanischen Regisseurin Mar Coll, die im gleichen Alter ist wie Alice Rohrwacher, wird diese Adoleszenzkrise komplementär zur filmischen, durch willentliche Lücken und Leerstellen bestimmten Poetik der Krise inszeniert. Wie Corpo celeste erweist sich auch dieser Film als opera aperta im Sinne Umberto Ecos, führt die Suche der Protagonistin doch nicht an ein definitives Ende, sondern stellt sich im Durchgang durch Verluste und Traumata als Parcours mit offenem Ausgang dar, der einen neuen, wenn auch ungewissen Horizont der Befragung und Selbstdefinition eröffnet.

Mit Repräsentationen der Krise im zeitgenössischen griechischen Film beschäftigt sich der Beitrag von Elli Carrano. In den letzten Jahren erfährt das griechische Kino eine Blüte, die dem Phänomen „Krise“ hartnäckig trotzt. ←18 | 19→Carrano beschreibt diese Tendenzen anhand des Kurzfilms Ο Χριστός σταμάτησε στου Γκύζη (Christus kam nur bis Gyzi, 2013) der jungen griechischen Regisseurin Amerissa Basta und untersucht ihn vor dem Hintergrund des italienischen Romanklassikers Cristo si è fermato a Eboli (Christus kam nur bis Eboli, 1945) von Carlo Levi. Der Film zeigt die ausweglose Situation einer im heruntergekommenen Athener Stadtteil Gyzi lebenden Familie, die mit dem Selbstmord des arbeitslosen Vaters beginnt. Der Beitrag berücksichtigt die medienästhetischen Voraussetzungen des Kurzfilms und korreliert Elemente des realistisch erzählten Filmplots mit Daten des griechischen Amtes für Statistik. Der im Film leitmotivisch wiederkehrende Bezug auf Levis Exilroman wirft einen langen Schatten auf die gegenwärtige Krise.

An der Schnittstelle von Literatur und Film bewegt sich auch der Beitrag von Franziska Andraschik. Wie der ihm vorangestellte von Carrano widmet auch er sich der literarischen und filmischen Reflexion prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse insbesondere der jungen Generation in Südeuropa, die in Italien als Generazione mille euro gilt. Diese beinahe schon sprichwörtlich gewordene Bezeichnung geht zurück auf den gleichnamigen, im Beitrag behandelten Film von Massimo Venier, der neben anderen filmischen und literarischen Beispielen (u.a. dem autobiographisch motivierten Roman Il mondo deve sapere von Michela Murgia) herangezogen wird, um die Situation hochqualifizierter Akademiker_innen zu beleuchten, die trotz exzellenter Abschlüsse keine adäquate Beschäftigung auf dem italienischen Arbeitsmarkt finden und sich stattdessen noch jenseits der Dreißig von Praktikum zu Praktikum, von Nebenjob zu Nebenjob und von Callcenter zu Callcenter hangeln müssen.

Die Sektion schließt mit dem Beitrag von Ilse Nagelschmidt ab, der seinerseits ein filmisches (Gianfranco Rosis Fuocoammare) mit einem literarischen (Jenny Erpenbecks Gehen. Ging. Gegangen) Beispiel in Beziehung setzt und zugleich den Bogen zur Beschäftigung mit der zeitgenössischen deutschen Literatur in der nachfolgenden Sektion schlägt. Thematisch eröffnet Nagelschmidt mit den „Narrative[n] der Flüchtlingskrise“ ein neues Feld innerhalb der Krisendebatte, die in Politik und Gesellschaft argumentativ geführt und in Literatur und Film erzählerisch reflektiert wird. Die damit einhergehenden Krisensituationen bringen eine zunehmende Politisierung ästhetischer Positionen mit sich und bergen, so Nagelschmidt, vielfältige Potenziale zur Neubestimmung und -ausrichtung Europas nach innen wie nach außen. Anhand etwa von Rosis im Zwischenraum von Dokumentation und Fiktion angesiedeltem filmischem Plädoyer für Menschlichkeit und Empathie, das den Geflüchteten eine Stimme gibt, geht die Autorin der Frage nach, welche Art von Katharsis Narrationen von Flucht und Migration bewirken können.

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Die Beiträge der dritten Sektion Literarische Narrative der Krise konzentrieren sich hauptsächlich auf die deutschsprachige und griechische Literatur der Gegenwart, insbesondere auf Autor_innen wie Uwe Timm, Rainald Goetz, Christoph Hein, Kathrin Röggla, Rhea Galanaki, Petros Markaris, Christos Ikonomou, Makis Tsitas, Michalis Modinos, sowie auf Schriftsteller_innen der jüngeren Generation wie Lena Kitsopoulou, Kallia Papadaki, Giannis Tsirbas und Vasia Tzanakari; ein Blick auf Gabriele Tergits Berlin-Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 und ein Exkurs zu den Narrativen der Krise in der kubanischen Kultur bereichern die Sektion. Folgende Narrative werden dabei entfaltet: die Dot.com-Krise in Ostdeutschland und die Krise des prekären ostdeutschen Akademiker_innenmilieus, Luxusverzicht und Zeitgewinn, die Funktion der griechischen Mythologie und des Kriminalromans für die Erzählung der Krise, Katastrophenbilder und Latenz der Krise, Krise und Ökonomisierung der Existenz, Krise und Selbsterkenntnisprozess.

Monika Albrecht liest Uwe Timms Kopfjäger. Bericht aus dem Inneren des Landes vor dem Hintergrund einer Forderung Timms aus den 1970er Jahren, wonach Literatur sich „zwischen Unterhaltung und Aufklärung“ zu positionieren habe. Ihr Beitrag zeigt auf, inwieweit auch der Roman Kopfjäger sich in diesem Spannungsfeld verorten lässt. Anhand der Analyse Albrechts wird deutlich, dass dieser Roman aus dem Jahr 1991 bereits eine hellsichtige Vorhersage der Wirtschaftskrise ab 2007/2008 formuliert.

Sergio Corrado untersucht, wie die beiden Hauptfiguren in Uwe Timms Vogelweide und Rainald Goetz’ Johann Holtrop im Zuge einer persönlichen wie auch kollektiven Krise ihre Zeiterfahrung umgestalten. Während Timms Prot- agonist die Chance nutzt, nach dem Konkurs seiner Software-Firma mit einer neuen, nicht von Konkurrenz und Gewinnmaximierung gezeichneten Zeitdimension zu experimentieren, verhält sich Holtrop angesichts der Auswirkungen der Dot.com-Krise auf die Medienfirma in der ehemaligen DDR, deren CEO er ist, völlig anders: Er reagiert mit einem noch gesteigerten Arbeitsrhythmus und mit Leistungswut. Unter Berufung auf Habermas’ und Vogls Krisendiskurs sowie auf Blumenbergs phänomenologischen und Weinrichs narratologischen Zeitdiskurs reflektiert Corrado anhand dieser zwei Romangeschichten über das metamorphische Potenzial der Krise, das die Möglichkeit eröffnet, sich „dem Zwang zu Zeitoptimierung und Produktivität zu entziehen, eine andere Zeitqualität für sich zu entdecken“.

Nach einleitenden theoretischen Betrachtungen zum Krisendiskurs, in dem sich verschiedene semantische Felder vernetzen, sowie zu den literarischen Darstellungsmodalitäten von Krisen befasst sich Giusi Zanasi mit Christoph Heins Roman Weinkerns Nachlass, in dem ein in prekären Verhältnissen lebender ←20 | 21→Literaturwissenschaftler, dessen akademische Karriere infolge der rigiden staatlichen Kontrolle in der DDR schon Jahre zuvor ein abruptes Ende gefunden hat, in die Krise gerät. In den existenziellen wie ökonomischen Schwierigkeiten dieses Gescheiterten spiegelt sich die Krise der intellektuellen Elite unserer Zeit, die Hein aus der ostdeutschen Perspektive wiedergibt. Zanasis Urteil über Heins Roman fällt nicht milde aus: So überzeuge zwar Heins Kritik an der Ökonomisierung unserer Gesellschaft, doch stelle er mit seinen oft plakativen und vereinfachenden Darstellungen der kritischen Lebenslage des Protagonisten die „festen Denkmodell[e] und normativen Diskurs[e]“ über die Krise keineswegs in Frage.

Details

Seiten
478
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631890462
ISBN (ePUB)
9783631890479
ISBN (Hardcover)
9783631889190
DOI
10.3726/b20212
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 478 S., 1 Tab.

Biographische Angaben

Sergio Corrado (Band-Herausgeber:in) Anastasia Antonopoulou (Band-Herausgeber:in) Uta Felten (Band-Herausgeber:in) Tanja Schwan (Band-Herausgeber:in) Franziska Andraschik (Band-Herausgeber:in)

Sergio Corrado ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Neapel L’Orientale. Anastasia Antonopoulou ist Professorin für deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Uta Felten ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft und Kulturstudien an der Universität Leipzig. Tanja Schwan ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Romanistik der Universität Leipzig. Franziska Andraschik ist im Kulturamt Leipzig tätig.

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Titel: Narrative der Krise
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