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Vom bürgerlichen zum sozialen Trauerspiel Gerhart Hauptmanns

von Marc J. Schweissinger (Autor:in)
Monographie VIII, 236 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Buch geht der Autor der Frage nach, inwiefern sich die beiden Dramen Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang Gerhart Hauptmanns von ihren Vorgängern unterscheiden und wie sie sich literaturgeschichtlich einordnen lassen. Die beiden Schauspiele wurden von Hauptmann zur Zeit der ersten deutschen Demokratie der Weimarer Republik verfasst und behandeln neben den individuellen Umständen einzelner Figuren die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Im Mittelpunkt steht das etablierte Bürgertum. Verbindungslinien zum bürgerlichen Trauerspiel Lessings, Schillers, Lenz, Klingers usw. und dem sozialen Trauerspiel Helds und Halbes verdeutlichten, dass Hauptmann sich durchaus an seinen Vorgängern orientiert. Er schafft mit seinem sozialen Trauerspiel aber eine ganz eigenwillige Dramenform, die dem Bürgertum seiner Zeit unangenehme Fragen stellt und unbequeme Wahrheiten vor Augen führt. Schweissinger weist nach, dass die beiden Dramen Hauptmanns weder als klassische Tragödien noch als bürgerliche Trauerspiele oder soziale Dramen klassifiziert werden können, stattdessen nach eigenen Definitionen verlangen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Das Modell des bürgerlichen Trauerspiels
  • Kapitel 2: Das soziale Trauerspiel im historischen Kontext
  • Kapitel 3: Dorothea Angermann
  • Kapitel 4: Vor Sonnenuntergang
  • Kapitel 5: Die bürgerliche Gesellschaftsform auf dem Prüfstand
  • Bibliographie
  • Register
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Das Thema soziales Trauerspiel hat mich schon seit einer langen Zeit beschäftigt, weil ich bereits vor vielen Jahren beim ersten Lesen der beiden Schauspiele Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang den Eindruck gewann, dass diese Dramen sich fundamental von ihren Vorgängern unterschieden. Zu dieser Zeit konnte ich nur gefühlsmäßig von einer Entwicklung des dramatischen Stils Gerhart Hauptmanns sprechen, noch ohne die notwendige Sachkenntnis und das theoretische Rüstzeug zu besitzen, um in einer begründeten Analyse, unterstützt von Studien im Archiv, meine Überlegungen darzulegen. Heute, nach vielen Jahren der Hauptmann-Forschung, hat sich dies geändert. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance erhalten habe, die Besonderheiten des hauptmannschen Dramenstils in diesen Dramen, die weitgehend zur Zeit der ersten deutschen Demokratie entstanden, darzustellen.

Danken möchte ich den Mitarbeitern im Handschriftenlesesaal der preußischen Staatsbibliothek in Berlin, die mir dabei halfen, lange nicht geöffnete Bücher und Handschriften aus Gerhart Hauptmanns Bibliothek und Besitz zu finden und nachzuschlagen. Dadurch konnte ich meine Thesen mit begründeten Analysen absichern, die sich nicht zuletzt aus Gerhart Hauptmanns beeindruckender Bibliothek speisten, in der sich schließlich über 9.000 Werke befinden, ein zum Teil noch immer ungehobener Schatz.

Dank gilt auch Frau Linde Beilfuß für das mehrfache rigorose Korrekturlesen meines Manuskripts. Ohne ihre begründeten Fragen und Vorschläge hätte mein Buch nicht die notwendigen Überarbeitungen erfahren. Darüber hinaus möchte ich Herrn Alexander Martin Pfleger danken, dessen Nachfragen, Hinweise und Änderungsvorschläge von außerordentlicher Wichtigkeit waren.

Schließlich möchte ich ganz besonders der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft und ihrem ehemaligen Vorsitzenden, Herrn Dr. Klaus ← vii | viii → Hildebrandt, sowie Herrn Prof. Hoefert und Herrn Prof. Sprengel danken. Viele sachdienliche Hinweise, Kritik und Verbesserungsvorschläge dieser drei Herren sorgten dafür, dass das Buch schließlich die vorliegende Gestalt annahm.

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Einleitung

In diesem Buch wird der Frage nachgegangen, inwieweit Gerhart Hauptmanns späte Dramen Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang sich von ihren Vorgängern unterscheiden; gerade weil sie auch heute noch nicht so in dem Bewusstsein der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, wie sie es eigentlich verdienen würden, sowohl von einem theoretischen literaturwissenschaftlichenschaftlichen Standpunkt als auch von einem dramaturgischen Gesichtspunkt aus. Die Theater spielen überwiegend immer noch die frühen naturalistischen Dramen und auch die Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten doch immer noch sehr auf diese frühe Periode von Hauptmanns Schaffens konzentriert. Im Grunde genommen sind seit Neville E. Alexanders Studien zum Stilwandel im dramatischen Werk Gerhart Hauptmanns, der eindeutig zwischen Naturalismus, Übergang zur Neuromantik, neuromantischen Dramen und klassizistisch antikisierenden Dramen unterscheidet, nur wenige Untersuchungen veröffentlicht worden, durch die man eindeutige weitere Entwicklungen und Zwischenschritte im Werk Gerhart Hauptmanns zu erkennen vermag. Alexanders Sprung vom neuromantischen Drama Elga von 1896 bis zu der klassizistisch antikisierenden Atridentetralogie zwischen 1940 und 1943 war für seine Zeit ein ungeheurer Entwicklungsschritt, weil er klare Trennlinien und Entwicklungsschritte für einzelne Schaffensperioden Hauptmanns zu geben vermochte,1 ist jedoch für unsere Zeit nicht mehr differenziert genug. So werden sowohl Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang noch immer eindeutig dem Naturalismus zugerechnet, nur dass der Stil der Dramen realistischer sei, wird gelegentlich kurz erwähnt.2 Zwar muss das nicht falsch sein, man kann hier heute aber nicht mehr stehen bleiben, wenn man dem kundigen, erfahrenen Dichter Gerhart Hauptmann ← 1 | 2 → Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Subtile Unterschiede können herausgearbeitet werden, die auf Entwicklungstendenzen innerhalb des dramatischen Schaffens Haupmanns eingehen. So mag ein noch heterogenes Bild entstehen, als wir es heute schon besitzen. In diesem Buch geht es allerdings weniger um den Stil, wie noch bei Alexander, sondern mehr um den gesellschaftlichen Bezug der Dramen von den sozialen und frühen naturalistischen Dramen hin zum sozialen Trauerspiel.

In dieser Hinsicht gibt es inzwischen einige weiterführende Untersuchungen. Hoefert merkt dazu unmissverständlich an, dass Hauptmann mit Hanneles Himmelfahrt die Grenzen des Naturalismus überschritten hat3 und insbesondere Peter Sprengel hat mit weiteren Darstellungen zu Hanneles Himmelfahrt, Die versunkene Glocke,4 Michael Kramer und Die Ratten deutlich gemacht, dass sich schon früh eine Tendenz in Hauptmanns Dramen abzeichnet, die weit über obige klassische Vierteilung Alexanders hinausgehen.5 Es finden sich in diesen Werken neuromantische, klassizistische, ja selbst impressionistische Elemente, die zwar nicht auf eine völlige Abkehr vom Naturalismus hinweisen, aber doch Hauptmanns Intention, sein dramatisches Werk durch andere Stilrichtungen zu bereichern, kenntlich machen. Nun wäre es aber falsch anzunehmen, dass Hauptmanns Entwicklung damit abgeschlossen gewesen wäre; nicht nur erfährt das Künstlerdrama eine Aufwertung vom Michael Kramer zu Gabriel Schillings Flucht, weil hier der schaffende Künstler selbst in das Zentrum der Untersuchung gerückt wird, sondern auch das historische Drama erlebt eine spezielle Neugestaltung und Umgestaltung. Hauptmann entfernt sich von dem Gedanken, große historische Ereignisse oder Figuren wie den Bauernkriegsführer Florian Geyer oder gar Karl den Großen in den Mittelpunkt des dramatischen Geschehens zu rücken. In dem historischen Drama Die Schwarze Maske wird der zerstörerische Geist der Epoche des ← 2 | 3 → Dreißigjährigen Krieges durch historisch „unbedeutende“ Figuren, die aber durch ihre Handlungen unmittelbar den Geist jener Epoche verständlich machen,6 eindeutiger, als die großen Gestalten der Geschichte dies könnten, dargestellt. Im Grunde genommen wird hier ein Bürgertum präsentiert, das verzweifelt darum ringt, eine bürgerliche Ordnung wiederherzustellen, die durch den Krieg fast unwiederbringlich verloren gegangen zu sein scheint. Hauptmann gestaltet eine bürgerliche Gesellschaft, die ganz ohne Adel existiert und sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung noch nicht so recht bewusst zu sein scheint, unsicher ob sie das Maß an Verantwortung schon übernehmen kann, das ihr die gesellschaftliche Situation zuspielt. Der Gedanke einer bürgerlichen Gesellschaft in gesellschaftlicher Verantwortung beschäftigt Hauptmann zur Zeit der Entstehung von Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang. Auch in diesen dramatischen Werken wird die bürgerliche Gesellschaft als etablierte und überkommene Gesellschaftsform dargestellt, der es weder an Selbstwusstsein noch an Macht fehlt, um ihre Angelegenheiten selbstständig zu ordnen. Dass das dargestellte gesellschaftliche Gefüge aber nicht einer Mustergemeinschaft entspricht und bestimmte Figuren ein tragisches Ende nehmen, macht diese Dramen zum sozialen Trauerspiel, wie gezeigt werden wird.

Das soziale Trauerspiel als eigentümliche Gattung ist heute noch ein weitgehend unerforschtes Feld. Zur Zeit der Blüte des naturalistischen Dramas haben Max Halbe mit Ein Emporkömmling und Franz Held mit Manometer auf 99! soziale Trauerspiele geschaffen, die in vielem als Vorläufer des sozialen Trauerspiels Gerhart Hauptmanns betrachtet werden können. Gerade Max Halbe ist von außerordentlicher Wichtigkeit für das Werk Gerhart Hauptmanns, denn es befand sich ja nicht nur Halbes Ein Emporkömmling in Gerhart Hauptmanns Bibliothek sondern auch seine Abwandlung des bürgerlichen Trauerspiels Das tausendjährige Reich, welches Hauptmann mit vielen Anmerkungen versehen hat und intensiv analysierte. In diesen drei Dramen Franz Helds und Max Halbes kommt ein spezifischer Klassengegensatz zur Sprache, der die Verwandschaft des ← 3 | 4 → bürgerlichen mit dem sozialen Trauerspiel kenntlich macht, allerdings nur in Das tausendjährige Reich auf gesellschaftlich und gesetzlich überkommenen Traditionen beruht. Es ist nachweisbar, dass Hauptmann sich sehr intensiv mit Halbes Das tausendjährige Reich beschäftigte. Dies ist ein Werk, bei dem die Verwandschaft mit dem bürgerlichen Trauerspiel unverkennbar ist. Dieses Buch wird verdeutlichen, inwieweit Gerhart Hauptmann bei der Gestaltung seines sozialen Trauerspiels von dieser spezifischen Dramenform beeinflusst worden ist.

Auf einer nicht sogleich offensichtlichen Ebene kann man nämlich in Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang die Einflüsse des bürgerlichen Trauerspiels wahrnehmen, denn das Bürgertum – man kann darüber streiten, ob es bewusst oder unbewusst geschieht – schafft sich in beiden Dramen seine eigenen Klassengegensätze. Hier geht es nicht mehr um den Klassengegensatz zwischen Adel und Bürgertum, wie er dem Muster des bürgerlichen Trauerspiels, sei es nun Lessings Emilia Galotti oder Schillers Kabale und Liebe, eingeschrieben ist. Es geht vielmehr um die bürgerliche Gesellschaft. Sie selbst wird zum Gegenstand der Kritik. Ihre sozialen Mechanismen, ihre Abgründe werden in Augenschein genommen und die Fehlbarkeit des Individuums in einer Gesellschaftsform, die auf Macht und Einfluss durch die öffentliche bürgerliche Stellung beruht, kenntlich. Gerade in Vor Sonnenuntergang lassen sich über die Analyse der Figuren und nicht nur allein der Paula Clothilde Clausen wichtige Übereinstimmungen mit den Dramen Schillers finden. Das bezieht sich nicht nur auf das bürgerliche Trauerspiel Kabale und Liebe, sondern auch auf den Don Carlos, der schließlich im Übergang zur Klassik enstand.7 Es handelt sich um die Briefintrige, deren Bedeutung für das Drama, ob nun in Komödie oder Tragödie, seit der Zeit Shakespeares von unübersehbarer Bedeutung ist. Hauptmann nimmt dieses bekannte Motiv auf und variiert es in seinem sozialen Trauerspiel auf seine Weise.

Die Unterscheidung zwischen Trauerspiel und Tragödie, wie sie in diesem Buch vorgenommen wird, orientiert sich an Walter Benjamins ← 4 | 5 → maßgebendem Ansatz, dessen Differenzierung hier wieder aufgenommen wird. Zunächst, sich an Schopenhauer orientierend, kommt Benjamin zu der Schlussfolgerung, dass die klassische Tragödie Leiden und Tod von Königen zeige, die Charaktere im Trauerspiel oder bürgerlichen Trauerspiel hätten nicht dieselbe Fallhöhe; der Chor in der griechischen Tragödie hingegen erwähne den hohen Rang seiner Protagonisten ständig.8 Darüber hinaus gehe es in der klassischen Tragödie um den Kampf des Genius oder Königs wie Ödipus gegen das dämonische Gesetz, während es im Trauerspiel um Trauer gehe, der Effekt des Trauerspiels sei nun tatsächlich Trauer.9 Der Schrecken der klassischen Tragödie wird durch Trauer ersetzt. Wie diese Untersuchungen zeigen sollen, ist der Übergang vom bürgerlichen Trauerspiel des späteren Lessings oder Schillers zum sozialen Trauerspiel Hauptmanns nur unbedeutend im Vergleich zur Unterscheidung zwischen Tragödie und Trauerspiel. Er ist aber umso entscheidender, weil sowohl Dorothea Angermann als auch Vor Sonnenuntergang dem bürgerlichen Trauerspiel viel näher stehen als dem sozialen Drama oder den naturalistischen Dramen der frühen Phase Hauptmanns, denn auch in diesen Dramen geht es wie in der Ausprägung des bürgerlichen Trauerspiels in seiner eindeutigsten Form um Klassenschranken und Gegensätze, die zu überwinden versucht werden und nicht wie im sozialen Drama um utopische soziale Konzepte oder Klassenkampf 10 oder einfach um die Darstellung des vierten Standes.11 ← 5 | 6 →

Die beiden Dramen Hauptmanns rufen nun in der Tat Trauer hervor: nicht Schrecken, weil die Protagonisten mehr noch als die Helden in der klassischen griechischen Tragödie liebenswerte Bürger sind und für sich einzunehmen wissen. Der Held mit kleinen Fehlern ist in dieser Form des Trauerspiels nahezu vollständig durch einen beinah fehlerlosen, tugendhaften Protagonisten, mit dem Sympathie zu empfinden nicht schwerfällt ersetzt worden. Das hat das soziale bis zu einem bestimmten Grade mit dem bürgerlichen Trauerspiel gemein, beiden gelingt es unser Mitleid zu erregen und diese schmerzliche Empfindung im Laufe des Geschehens schrittweise zu verstärken.12 Die Kritik richtet sich also in erster Linie gegen die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft selbst, weniger gegen individuelle Figuren; insofern kann die Analyse des Trauerspiels auch nicht bei der Bestimmung einzelner Figuren und ihrer individuellen Eigenschaften stehenbleiben. Die dargestellten gesellschaftlichen Mechanismen müssen selbst in Augenschein genommen werden. Es wird zu fragen sein, ob die Katastrophe des Selbstmords, wie sie in dieser Form des Dramas – ganz egal ob es sich nun um Halbe, Held oder Hauptmann handelt – auf überkommene längst erstarrte Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen ist.

Gewiss ist die These haltbar, dass Hauptmann schon bei der Gestaltung seiner frühen sozialen Dramen die bürgerliche Gesellschaft zum Gegenstand der Kritik wählt. Hier aber, besonders in den frühen Werken, gibt es noch ein eindeutiges Täter–Opfer-Schema, sowohl Dreißiger in Die Weber als auch Loth oder Hoffmann in Vor Sonnenaufgang sind als Täter auszumachen, deren Handlungen moralisch fragwürdig sind und deren Charakter Radikalismus, Ausbeuterei und bewusste Vorteilsnahme einschließt. Darüber hinaus kann man bei den Webern in der Tat von kommunistischem ← 6 | 7 → Klassenkampf sprechen.13 Diese Charaktergestaltung wandelt sich. In Hauptmanns späteren Dramen, eigentlich schon in Einsame Menschen,14 sind die Charaktere zwar verantwortlich für ihr Unglück, aber doch nicht schuldig, indem sie bewusst falsche Tatsachen vorspiegeln würden wie Loth oder Dreißiger. Allerdings ist auch dies kein dauernder Zustand, Hauptmann gestaltet immer wieder Charaktere, die moralisch fragwürdig handeln oder Verbrechen begehen, zum Beispiel in Die Ratten oder Rose Bernd. Dort gibt es Figuren, die aus niederen Beweggründen handeln, sei es nun Habgier, Rachsucht, sexuellem Verlangen oder gar Lust am Verbrechen.

Peter Sprengel bezeichnet Rose Bernd als Nachtrag zur Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels, das hier gewissermaßen seine Fortsetzung ins bäuerliche oder Landarbeiter-Milieu erfahre.15 Folgt man diesem Gedanken, müsste man den Gutsherrn Flamm als adeligen Großgrundbesitzer oder einfach Großgrundbesitzer betrachten. Flamm glaubt es sich leisten zu können, Rose Bernd als Mätresse zu halten und nicht zuletzt deshalb, solange er im Distrikt Standesbeamter ist, die Hochzeit zwischen August Keil und Rose zu verschieben.16 Man findet in diesem Schauspiel bestimmte Figuren, die eindeutig für das tragische Geschehen verantwortlich gemacht werden können. Wie zum Beispiel den Gutsherrn Flamm oder Arthur Streckmann, der Rose sexuell erpresst mit seinem Wissen von der ← 7 | 8 → außerehelichen Affäre zwischen Flamm und ihr. Im sozialen Trauerspiel reduziert sich dieser Gestaltungswille jedoch zusehends. Weder in Dorothea Angermann noch in Vor Sonnenuntergang lässt sich ein ausgesprochener Hauptverantwortlicher ausmachen. Man kann stattdessen von bestimmten überkommenen bürgerlichen Moralvorstellungen sprechen, die das Handeln der Figuren entscheidend beeinflussen. Selbst wenn diese nur vorgeschoben sind, um die wahren Beweggründe für die Handlungen der Figuren zu verbergen, gelten sie doch als altväterliche Prinzipien, die zur Legitimation unrechtmäßiger Maßnahmen herhalten können. Es gibt keine eindeutige Täterfigur, die man als Alleinverantwortlichen herausstellen könnte. Ganz im Gegenteil: die bürgerlichen Protagonisten, sei es nun Dorothea Angermann selbst oder Matthias Clausen, sind eher Opfer als Täter. Daher ist hier auch der Titel Trauerspiel treffend, denn ihr Selbstmord ruft Trauer hervor. Es handelt sich bei ihnen nicht um übermenschliche Gestalten, die mit einem dämonischen Geschick ringen wie in der klassischen Tragödie; sie sind den Gestalten des bürgerlichen Trauerspiels viel ähnlicher, denn auch bei ihnen geht es in erster Linie um Privates, um Liebe, Gefühle und menschliche Beziehungen. Genauso wenig sind sie mit den Protagonisten des sozialen Dramas zu vergleichen, die sozialistische Reformen, utopische Ideale verfolgen wie Loth und Vockerat oder Klassenkampf führen wie Dreißiger und Jäger. Nicht ohne Grund fügt Hauptmann selbst seinen beiden Werken den neutralen Untertitel Schauspiel bei und verzichtet darauf, sie als soziale Dramen zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Warren H. Maurer den Untertitel von Vor Sonnenaufgang falsch übersetzt und behauptet, dass Drama sei „somewhat misleadingly subtitled a ‚Social Tragedy‘“.17 Maurer behauptet dann und erläutert, es sei vielmehr ein Charakterdrama. Das ist sicher richtig. Dieses frühe naturalistische Drama ist in der Tat keine Tragödie. Die Charaktere agieren in diesem Schauspiel, das Hauptmann selbst soziales Drama oder auch Drama nennt, nicht unbedingt tragisch, weil sie sich sehr wohl bewusst sind, was sie tun und wie sie handeln. Darüber hinaus ist es leicht zu erkennen, dass weder Hoffmann noch Loth, ← 8 | 9 → die man durchaus als Protagonist und Antagonist bezeichnen könnte, ausgesprochene Sympathieträger sind. Es gibt auch keinen unmittelbaren tragischen Konflikt, der am Ende gelöst werden könnte, weil die Charaktere weder ihre Fehler einsehen noch ihre Handlungsweise ändern.18

Hier wird die These vertreten, dass im sozialen Drama die Protagonisten selbst mit dem gesellschaftlichen Zustand nicht einverstanden sind. Das kann aus ganz unterschiedlichen Gründen geschehen. Immer – sei es nun Loth in Vor Sonnenaufgang, Robert Scholz in Das Friedensfest oder Johannes Vockerat in Einsame Menschen – handeln sie alle jedoch aus innerem Antrieb und rütteln dadurch an gesellschaftliche Zustände, die ihrer Natur widerstreben. Das gilt nicht mehr für das soziale Trauerspiel. Hier findet sich eine bürgerliche Gesellschaft, die sich mit ihrer Gesellschaftsform im Einklang befindet, Gefahr und Bedrohung kommt nur von außen. Das gilt sowohl für Dorothea Angermann als auch für Vor Sonnenuntergang. Die Figuren stellen ihre eigene Gesellschaftsform nicht mehr in Frage wie noch im sozialen Drama, sie empfinden aber Gestalten als bedrohlich und Bedrohung, die in ihre behütete und wohleingerichtet abgeschlossene Bürgerlichkeit eindringen möchten. Die Form wird zum sozialen Trauerspiel, weil diese Bedrohung ja nur eine eingebildete und künstliche ist, die letztlich das fragile Gebilde einer sich kaum in Gleichgewicht befindlichen Gesellschaft zerstört. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang in die Nähe der klassischen Tragödie gerückt werden könnten, denn es ist fraglich, ob sich Dorothea oder der Geheimrat Clausen am Ende eigener tragischer Verfehlungen bewusst werden oder auch nur einen Anflug von Einsicht zeigen. Die beiden Hauptfiguren unterscheiden sich eindeutig von ihren Vorgängern, weil sie im Grunde genommen Sympathieträger sind, die wie im bürgerlichen Trauerspiel gerecht zu handeln suchen. Guthkes Hinweis am Ende seines Standardwerkes über das bürgerliche Trauerspiel, dass Hauptmann sich auf Lessing als Befürworter eines nicht heroischen Dramas berufe, ist hier vielsagend. Guthke stellt die Verbindung her zwischen bürgerlichen ← 9 | 10 → und sozialen Trauerspiel und stellt Hauptmanns Belesenheit heraus.19 In seiner Dramaturgie bestätigt Hauptmann diese Aussage und erläutert, dass Lessing sich gegen abstrakte und ideale Helden wende, besonders gegen den makellosen Helden im christlichen Trauerspiel.20 Zweifellos behagt dieses Vorgehen Hauptmann, für den die Handlung weniger wichtig als die Charaktere seiner Dramen sind.21 Weder Dorothea noch Matthias Clausen sind makellos.

Unter anderem weist Schulz auf das Primat der Charaktergestaltung vor der Handlung im Naturalismus hin;22 er verdeutlicht aber auch, dass Hauptmann noch 1908 geschrieben habe, die Handlung sei entweder eine innere oder sie sei nicht da.23 Diese Tendenz, die Handlung der Figurengestaltung zum Opfer zu bringen, findet sich noch weitaus eindeutiger im sozialen Trauerspiel ausgestaltet. Handlung in dem Sinne, dass eine der Figuren bedeutende politische oder soziale Umwälzungen vornehmen möchte, gibt es nicht. Im Vordergrund steht der Charakter in allen seinen Schattierungen, Schwächen und individuellen Eigenheiten. Die Charakterorientierung hat das bürgerliche mit dem sozialen Trauerspiel gemeinsam. Gerade hier aber gelingt Hauptmann eine künstlerische Neugestaltung, die bis heute weitgehend unbemerkt geblieben ist.24 Allzu eindeutig unterscheidet man nämlich gern zwischen Bürgertum und ← 10 | 11 → Proletariat, man kann aber diese späten Dramen Dorothea Angermann und Vor Sonnenuntergang nicht einfach dem sozialen Drama zurechnen. Eine Abgrenzung zwischen Bürgertum und Proletariat, wie sie sich in Die Weber findet, existiert nämlich so nicht in den beiden Dramen. Figuren, die mehr oder minder radikal auf gesellschaftliche Umwälzung abzielen, finden sich auch nicht. Sprengel hat schon 1984 dargelegt, dass sich die Gesellschaft in der wilhelminischen Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts aufspaltet. Dabei wurden scharfe Unterscheidungen zwischen oberem Mittelstand, dem Bürgertum, bestehend aus Professoren, Pfarrern, Apothekern, Medizinern, Rechtsanwälten und den Kleinbürgern, Handwerkern, Kleinbauern, Gärtnern, Lohnarbeitern getroffen.25 Hauptmann thematisiert diese Aufspaltung in seinen sozialen Trauerspielen. Theoretischen Überlegungen über eine brüchige, in sich durchaus nicht einheitlich geschlossene bürgerliche Gesellschaftsform zu Beginn des 20. Jahrhunderts fließen in subtiler Form in die Gestaltung seiner Figuren ein, die zu diesem Zeitpunkt seines Schaffens auf einer beharrenden und bewahrenden Gesellschaftsform bestehen. Dabei ist gesellschaftliche Ausgrenzung und Abgrenzung überall zu finden, wie man sie in diesem Ausmaß in seinen frühen naturalistischen und sozialen Dramen noch nicht finden kann. Das erst macht sie zu sozialen Trauerspielen und verdeutlicht die Verwandtschaft zum bürgerlichen Trauerspiel aus dem 18. Jahrhundert, wenn auch unter ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Grundbedingungen.

Auch sprachlich sind diese Dramen bei allem Realismus keine sozialen Dramen. Vielleicht wäre es angebracht, davon zu sprechen, dass sich hier schon in Hauptmanns Werk tendenziell der Einfluss der neuen Sachlichkeit geltend macht. Die literarische Bewegung, die ihren Ausgangspunkt ungefähr im Jahr 1924 nimmt und bis 1932 andauert, vollzieht einen eindeutigen Bruch mit dem Menschenbild des 19. Jahrhunderts. An die Stelle des gefühlsbewegten Individuums trete der sachliche Mensch, behaupten Kammler und Bogdal, eine nüchterne Lebenseinstellung verbinde sich ← 11 | 12 → mit einer objektiven Haltung zur Wirklichkeit.26 Hauptmann passt sich hier ansatzweise zugleich einem realistischen Stil an, der am Vorabend der Naziherrschaft Bedeutung erlangt. Was Mennemeier für Ödön von Horváth konstatiert, gilt so sicher auch für die beiden Dramen Hauptmanns. Im Unterschied zu Brecht fehlt der Blick auf ein positives geschichtliches Prinzip, von dem aus die Widerspiegelung von Realität mit einer deutlich erkennbaren Zukunftsperspektive versehen werden könne.27 Hauptmann bewundert Brecht und beschreibt sein Drama Mann ist Mann als geistreichen Witz, aber mehr kann er darin nicht finden. Hauptmann geht es in dieser Phase seines Schaffens nicht darum, gesellschaftliche Utopien zu gestalten.28 Im Grunde genommen kann man darauf bestehen, dass sich der gesellschaftskritische Einfluss des Expressionismus in diesen Dramen Hauptmanns in mancher Hinsicht widerspiegelt: Das Unbehagen an den gesellschaftlichen, patriarchalisch strukturierten Lebensverhältnissen,29 wie es sich zum Beispiel in Walter Hasenclevers Drama Der Sohn findet.30 Allerdings verzichtet Hauptmann auf jeden sprachlichen Expressionismus; exaltierte, überhöhte, übersteigerte Sprachwendungen finden sich nicht in diesen Werken.

Details

Seiten
VIII, 236
ISBN (PDF)
9781787070196
ISBN (ePUB)
9781787070202
ISBN (MOBI)
9781787070219
ISBN (Paperback)
9781906165765
DOI
10.3726/978-1-78707-019-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Deutsche Literatur und modernes Drama Gerhart Hauptmann Soziales Trauerspiel
Erschienen
Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien, 2016. VIII, 236 pp.

Biographische Angaben

Marc J. Schweissinger (Autor:in)

Marc J. Schweissinger ist Hochschullehrer an der Universität von Cardiff. Dort arbeitet er an der School of Modern Languages im Fachbereich der Germanistik. Er hat auf Deutsch und Englisch Abhandlungen, Bücher und andere Beiträge im Bereich der modernen deutschen Literaturwissenschaft veröffentlicht.

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Titel: Vom bürgerlichen zum sozialen Trauerspiel Gerhart Hauptmanns
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