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Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Zürich 2015

Exil als Schicksalsreise. Alfred Döblin und das literarische Exil 1933–1950

von Sabina Becker (Band-Herausgeber:in) Sabine Schneider (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 370 Seiten

Zusammenfassung

Einerseits gehörte Alfred Döblin nicht zu jener Gruppe von Autoren, die das Exil als einen ‚Weg ohne Rückkehr‘ oder gar als Chance erfuhr. Er ist andererseits aber auch nicht zu jenen Schriftstellern zu zählen, die in der Emigration völlig verstummten. Aufgrund seiner Bedeutung für die literarische Epoche des Exils ist eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Exilpositionen und -werken dieses Autors perspektivenreich. Döblins Werke werden im Kontext der Themen, Genres, Projekte, politischen Ausrichtung und kulturellen Tendenzen des gesamten Exils diskutiert, sein Wirken im Umfeld der Debatten und weiteren Aktivitäten der Exilierten verortet.
Der Band dokumentiert das 20. Internationale Alfred-Döblin-Kolloquium, das 2015 zum Thema „Exil als Schicksalsreise. Alfred Döblin und das literarische Exil 1933–1950“ in Zürich tagte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Edition und biographische Forschung
  • Nachruf auf Josef Breuer (Von Alfred Döblin)
  • Döblin als Psychotherapeut und sein Nachruf auf Josef Breuer (Von Christina Althen)
  • Alfred Döblins medizinische Ausbildung dargestellt anhand von Quellen (Von Christina Althen)
  • Martha Ruben. Zur Biographie einer Geliebten Alfred Döblins in Saargemünd (Von Ralph Schock)
  • Exil als ‚Schicksalsreise‘. Alfred Döblin und das literarische Exil 1933–1950 (Von Sabina Becker, Sabine Schneider)
  • Exilbekanntschaften
  • Flugstunden Alfred Döblin und Mendele Mojcher Sforim (Von Marion Brandt)
  • Unversöhnliche Feindschaft, sogar im Exil Salamon Dembitzer und Alfred Döblin (Von Joris Duytschaever)
  • „Der Dichter hatte das sechzigste Lebensjahr bereits überschritten, war aber wandelbar geblieben.“ Alfred Döblin und Manès Sperber im Pariser Exil (Von Mirjana Stancic)
  • Interkulturalität im Exil
  • „Ich liebe dich doch“ – ‚Amerika‘ in Döblins Schicksalsreise (Von Arndt Lümers)
  • Kulturelle Profilierung und Zivilisationskritik Zu den intertextuellen Resonanzen in Döblins Exil-Roman Amazonas (Von David Midgley)
  • Das Exil und die jüdische Frage
  • Jüdische und Postkoloniale Diaspora-Diskurse in Alfred Döblins Amazonas (Von Caspar Battegay)
  • „Wie lange noch, jüdisches Volk-Nichtvolk?“ Alfred Döblin und der Neuterritorialismus (Von Elcio Loureiro Cornelsen)
  • Neuterritorialismus, Geopolitik und die jüdische Frage Alfred Döblins Amazonas als Gattungsintervention (Von Robert Leucht)
  • Schreiben im Exil
  • Döblins Babylon Narrative und Modelle des Exils (Von Andreas Kilcher)
  • „Den Toten die Münder öffnen“ Alfred Döblins Beitrag zur (Exil-)Debatte über den historischen Roman (Von Katharina Grätz)
  • Keine Vertreibung der Gespenster November 1918 als geschichtlicher Fluchtpunkt der Exilperspektive (Von Alexander Honold)
  • „Er lachte helle Tränen.“ Komik und Humor in Alfred Döblins autothematischem Exilroman Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall (Von Moritz Wagner)
  • Döblins „Mutterlauge“ vom Expressionismus bis zur Schicksalsreise Laufbahn einer interdisziplinären Denkfigur (Von Carl Gelderloos)
  • „Waldgedanken“ Natur/Geschichte in Südamerika-Darstellungen bei Alfred Döblin und Paul Zech (Von Linda Maeding)
  • „Was nützt uns das Theater spielen!“ Konsum, Kunst und (Un-)Konvention in Comteß Mizzi (Von Geraldine P. Suter)
  • Bibliographien
  • Von Quellen und Gefäßen Die neue Alfred Döblin-Bibliographie (Von Laura Marie Pohlmann)
  • Bibliographie der Neuerscheinungen zum Werk Alfred Döblins (XI) (Von Gabriele Sander)
  • Personenregister
  • Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
  • Reihenübersicht

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Danksagung

Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse des XX. Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquiums gleichen Titels, das vom 28. bis zum 30. Mai 2015 an der Universität Zürich stattfand. Die Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die freundliche und tatkräftige Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen, denen hiermit bestens gedankt werden soll: Der Schweizerische Nationalfonds finanzierte durch einen namhaften Betrag die Einladung zahlreicher Referentinnen und Referenten aus Europa, USA und Südamerika; diese wiederum selbst lieferten mit ihren spannenden Beiträgen die wissenschaftliche Grundlage der anregenden und weiterführenden Diskussionen. Der Züricher Universitätsverein und die Universität Zürich leisteten weitere finanzielle Unterstützung. Die Organisation der Tagung wurde wesentlich getragen von den Mitarbeitenden des Lehrstuhls Prof. Dr. Sabine Schneider am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Unser Dank gilt weiterhin den dortigen Assistierenden Jonas Frick und Clemens Özelt für ihre Mithilfe bei der Durchsicht der Beiträge und Merle Ueding und Gertraud Lenz (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) für die redaktionelle Mitarbeit und Einrichtung des Manuskripts.

Professor Dr. Hans-Gert Roloff befürwortete die Aufnahme dieser Tagungsakten in das Jahrbuch für internationale Germanistik, und der Peter Lang Verlag folgte diesem Vorschlag. Allen genannten gilt nochmals unser Dank.

Sabina Becker, Sabine Schneider

Freiburg und Zürich, September 2016 ← 9 | 10 →

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Edition und biographische Forschung

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Erstdruck: Vossische Zeitung, 24.6.1925 ← 13 | 14 →

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Döblin als Psychotherapeut und sein Nachruf auf Josef Breuer

Christina Althen

Abstract: Bei Döblins Mitgliedschaften ist die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie zu ergänzen, die Mitte der 1920er Jahre gegründet wurde, um Therapieformen schulenübergreifend zu diskutieren und auf breiter medizinischer Basis nutzbar zu machen. – Am 24. Juni 1925 verfasste Döblin für die Vossische Zeitung einen in der Werkausgabe nicht enthaltenen Nachruf auf Josef Breuer.

In einem Nachwort zu Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord weist Jochen Meyer darauf hin, dass Döblin die Traumdeutungen, „in denen er am entschiedensten als Schüler Freuds auftritt“, am Schluss seiner Schrift gleich wieder in Frage stelle.1

Döblin hat die Traumnotizen der Mörderin Elli Link dem befreundeten Ignaz Jezower für dessen 1928 bei Rowohlt veröffentlichtes Buch der Träume zur Verfügung gestellt, der sie im Kapitel „Verbrechen und Traum“ abdruckte.2 Jezowers Anthologie versammelt Träume aus aller Welt von Jakobs Traum von der Himmelsleiter bis zu okkulten Fähigkeiten im Traum. Sie enthält auf Seite V die folgende Druckwidmung: „Dieses Werk ist / Alfred Döblin / in freundschaftlicher Gesinnung gewidmet“.

Warum hat Jezower diese Traumanthologie, die als sein bedeutendstes Werk gilt, Döblin und nicht Freud gewidmet? Döblin war kein Traumexperte; er wird in der Anthologie außer als Lieferant der Giftmörderinnenträume nicht weiter erwähnt. Hingegen hebt Jezower Freuds Traumdeutung und seine wegweisenden Verdienste hervor; Freud habe in einer materialistisch denkenden Zeit gelehrt, dass es „seelische Kräfte sind, die sich den Körper bauen“.3 Es gebühre Freud Dank dafür, „in die finsteren Gänge des Seelenlebens hineingeleuchtet zu haben“, aber insbesondere seine Schüler hätten sich auf zu ← 15 | 16 → einseitige Deutungen festgelegt.4 Diese gleichzeitig wertschätzende und kritische Einschätzung Freuds deckt sich mit derjenigen Döblins.

Warum Jezower (1878–1942) den gleichaltrigen Döblin so sehr schätzte, dass er ihm Das Buch der Träume widmete, zeigt sich in der kurzen Einleitung zu seiner Anthologie, die offenkundig inspiriert ist von metaphysischen Denkansätzen, wie Döblin sie zu jener Zeit in Das Ich über der Natur und Unser Dasein formuliert. Es geht um die Auffassung von Beseelung und Verwandtschaft alles Seienden und um die Transzendenz der Dualismen Innen-Außen, Leib-Seele, Du-Ich. Die Druckwidmung kann daher verstanden werden als Hommage an einen Denker, Schriftsteller und Mediziner, der psychophysische Phänomene wie den Traum einem kohärenten Menschen- und Naturverständnis einordnet, die wissenschaftliche und kulturelle Vielfalt einem (Ur-)Sinn zuordnet, Beschaffenheit und Finalität der organischen und anorganischen Natur einem geistigen Prinzip entspringen sieht. Döblin fordert in Das Ich über der Natur eine „Wiedergeburt der Hauptwissenschaft Theologie“, weil er den Wissenschaften vorwirft, übergeordnete Zusammenhänge zu ignorieren; man bleibe „in Methoden verkrampft“.5

Es wäre genauer zu untersuchen, welche Wechselwirkung Döblins Philosophie und seine medizinische Tätigkeit haben. Jedenfalls schlugen sich seine Kenntnisse als Naturwissenschaftler und Labormediziner in seinem Verständnis des Patienten nieder: „Die Wirkungsweise schon eines einfachen Fermentes ist nur in einer komplizierten Logarithmenkurve darstellbar; was denkt man von einer Zelle, von vielen Zellen, von einem Organismus, vom Menschen.“6 In seinem 1928 entstandenen Artikel Dichtung und Seelsorge unterstreicht Döblin: „Es gibt in der menschlichen Seele eine Ordnung, eine Hierarchie […] Der Psychotherapeut weiß nichts davon und kann da nichts leisten, weil er peripher hineinarbeitet.“7

Döblin suchte in den Methodendebatten seinen eigenen Weg. Lebenslang rezipierte er eine große Bandbreite an „seelenkundlicher Literatur“. ← 16 | 17 → 8 Recherchen zu Döblins Studien (s. voriger Beitrag) bestätigen Thomas Anz’ Auffassung, dass der Einfluss des Doktorvaters Alfred Hoche auf Döblin nicht zu hoch eingeschätzt werden sollte.9 Für Sigmund Freud und Josef Breuer gilt Analoges, wie im Folgenden zu zeigen ist.

Kontrovers wurde u. a. die Frage der Hypnotherapie diskutiert, von der Freud sich abgewendet hatte. Döblin wendete diese für den Arzt anstrengende und zeitaufwendige Therapieform durchgängig an. Klaus Döblin erinnerte sich, dass die Sprechstunde seines Vaters bei Hypnose länger gedauert habe.10

Wie viele andere Kollegen befasste Döblin sich nach 1918 intensiver mit Psychotherapie, weil Frontsoldaten in epidemischer Anzahl neurotische Symptome zeigten. Diese Massenerscheinung ließ Vorbehalte gegenüber Methoden der Psychoanalyse in den Hintergrund treten, wobei diese Entwicklung vorrangig von Praktikern ausging, wie Uwe Zeller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in einer medizinhistorischen Studie Psychotherapie in der Weimarer Zeit darlegt, auf die ich mich im Folgenden stütze. Wenn zum Beispiel ein Leutnant, dem es in Flandern sprichwörtlich die Stimme verschlagen hatte, infolge von Hypnose wieder sprach, so führte dies dazu, dass diese „wenig gut beleumundete“ Therapieform wieder verstärkt angewandt wurde.11 Bei der Professionalisierung der Psychoanalyse in und nach dem 1. Weltkrieg wurde Zeller zufolge auch klar, dass neurotische Symptomatik nicht ausschließlich sexuellen Ursprungs sei.12 Nicht Dogmen der psychiatrischen oder psychoanalytischen Lehrgebäude standen für die Ärzte im Mittelpunkt, sondern „die wissenschaftlichen Grundlagen und auch sozialen Aspekte einer allgemeinen Psychotherapie“.13 Döblin bezeichnete sich auch deswegen wahlweise als Psychiater, Psychoanalytiker oder Psychotherapeut, weil Facharzt–Spezialisierungen sich erst herausbildeten. Außerdem strebte er ← 17 | 18 → an, wie Gabriele Sander feststellt, „die Grenzen von Fachdiskursen zu durchbrechen“.14

Er tat dies, was in der Döblin–Biographie bislang unbekannt ist, auch mit dem Beitritt zu der europaweit angelegten „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ (AÄGP). Dies ist ein wichtiger Aspekt für die Forschung, weil er zeigt, dass es im Spannungsfeld von Psychiatrie und Psychoanalyse das für Döblins ärztliche Tätigkeit entscheidende Tertium gegeben hat.

Wenn er 1948 resümiert: „mein ärztliches Fach war die Psychotherapie“,15 ordnet er sich damit auch einer bedeutsamen Sammlungsbewegung niedergelassener Ärzte und Kliniker für ein schulenübergreifendes Instrumentarium zu. Der in München tätige Neurologe und Psychiater Wladimir Eliasberg (1887–1969) hatte federführend ein Einladendes Komitee aus 73 Kapazitäten zur Vorbereitung von Kongressen organisiert; der erste “Allgemeine Ärztliche Kongress für Psychotherapie“ fand vom 17. bis 19. April 1926 in Baden-Baden statt. Daran nahmen über 500 Ärzte aus allen Teilen des Deutschen Reichs, der Schweiz, Österreichs, Schwedens, Hollands, Ungarns, Spaniens und der Tschechoslowakei teil. Es ging darum, die „Beziehungen der Psychotherapie zu anderen medizinischen Fächern wie Psychiatrie, Innere Medizin, Gynäkologie, Kinderheilkunde, Dermatologie und auch zur nichtmedizinischen Disziplin der Psychologie“ darzustellen.16

Etliche waren wie Eliasberg Ärzte in Hospitälern mit hirnverletzten Soldaten gewesen, so etwa Willy Helpach, Nervenarzt, Sozialpsychologe und DDP-Politiker, oder Kurt Goldstein, Direktor der Frankfurter Neurologie, der als Vater einer psychosomatischen Neurologie gilt. Vorsitzender der AÄGP war der renommierte Psychiater Robert Sommer (1864–1937), Direktor der Gießener Psychiatrie, Schüler des Leipziger Psychologen Wilhelm Wundt und bekannt für sein Konzept der Psychohygiene. Ernst Kretschmer,17 Direktor der Marburger Nervenklinik, wurde auf dem IV. Kongress 1929 sein Nachfolger, C. G. Jung 1931 sein Stellvertreter. Von Anfang an engagierten sich auch der Döblin bekannte Ernst Simmel im Vorstand, der eine „abgewandelte ← 18 | 19 → psychoanalytische Therapie“ zur Behandlung der Kriegsneurosen entwickelt hatte,18 und der Neurologe Viktor von Weizsäcker (1886–1957) bei der Organisation der Kongresse; letzterer gewann den Internisten Gustav von Bergmann (Sohn von Döblins Lehrer Ernst von Bergmann) als Teilnehmer.19 In den Vorständen waren außerdem tätig Benno Hahn, Hermann Heymann, Walter Cimbal, Johannes Heinrich Schultz, Arthur Kronfeld, Friedrich Mauz, Leonhard Seif, Paul Schilder, Leendert Bouman, A. A. Friedländer.

Eliasberg würdigte in seiner Eröffnungsrede20 sowohl Freud, der in diesen Tagen seinen 70. Geburtstag feiere, als auch eine Reihe anderer Ärzte, deren wissenschaftlichen Leistungen die Psychotherapie ihren Aufschwung verdanke, darunter u. a. Charcot, Wilhelm Wundt und Felix Krueger (Ganzheitspsychologen der Leipziger Schule), den Entwicklungspsychologen William Stern oder Fritz Mohr (bekannt für sein Werk Psychophysische Behandlungen). Es gelte, sich von Kurpfuschern abzugrenzen, die Mediumismus, Spiritismus und Okkultismus betrieben.

„Es war etwas früher und später kaum Wiederholtes, daß Professoren und Praktiker, Kliniker und Psychotherapeuten sich zu so gemeinsamem Beginnen vereinigten“; den Gründern sei wichtig gewesen, dass jeder seinen persönlichen Weg gehen könne; „alle suchten zu lernen, wo sie lernen konnten“.21 Psychoanalytiker der verschiedenen Schulen, aber auch die Psychoanalyse ablehnende Ärzte wie Gustav Aschaffenburg („Vater einer auf Prinzipien der Psychologie aufbauenden forensischen Psychiatrie“22) und der Berliner Nervenarzt Albert Moll kamen zu lebhaftem Austausch in der AÄGP zusammen. Viele waren wie Döblin Internisten und Neurologen, aber auch Pädiater oder Dermatologen. Es ging darum, im Hinblick auf das große Spektrum an psychischen Erkrankungen die Erkenntnisse der Psychiatrie, Psychoanalyse, Individualpsychologie, Psychagogik und anderer Ansätze für alle Bereiche der Medizin nutzbar zu machen und eine breite Verständigungsbasis für Psychotherapeuten zu schaffen. ‚Allgemein‘ bedeutete: „alle wissenschaftlich arbeitenden Richtungen ← 19 | 20 → innerhalb der Psychotherapie ohne Ausnahme und ohne irgendein Monopol für eine bestimmte Richtung.“23

Die Kongresse führten am 1. Dezember 1927 auch formal zur Gründung einer „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ (AÄGP).24 Die AÄGP nahm bis 1933 einen enormen Aufschwung; die Organisation in Landesgruppen und in Ortsgruppen (u. a. in München, Berlin und Wien) diente der wissenschaftlichen Detailarbeit, der Verständigung zwischen den einzelnen psychotherapeutischen Schulen, der Verbindung mit der offiziellen Psychiatrie und den Gesundheitsbehörden sowie Fragen der Ausbildung zum Psychotherapeuten.25

Im sowohl geografisch als auch alphabetisch geordneten Gesamtmitgliederverzeichnis finden sich viele bekannte Namen, darunter Alfred Adler, Karl Birnbaum, Magnus Hirschfeld, Felix Deutsch, Georg Groddeck oder Hans Prinzhorn.

Der Psychiater Arthur Kronfeld (1886–1941), Dr. med. et phil., international bekannt für seine frühe systematische Kritik an Freud,26 Psychopathologe, Sexualwissenschaftler und Psychagoge war schon im ‚Einladenden Komitee‘ 1926 und 1927 aktiv und gründete auch die Ortsgruppe Berlin. Er kam „aus der die psychiatrische Welt nach so vielen Richtungen hin bewegenden Heidelberger Schule, die sich unter Wilmanns versammelt hatte und besonders phänomenologische Anregungen von Max Scheler für die Psychiatrie verwertete“.27 Am 5. März 1928 fand die Berliner Eröffnungssitzung statt. Döblin trat der Gesellschaft unmittelbar nach Gründung bei; jedenfalls findet sich sein Eintrag im ersten Mitgliederverzeichnis der AÄGP: „Döblin, Dr. Alfred, Berlin ← 20 | 21 → O 34, Frankfurter Allee 340“.28 Kronfelds Eröffnungsvortrag im Hörsaal der Psychiatrischen Klinik der Charité begann mit den Forderungen zweier Lehrer Döblins, v. Bergmann und Hoche, nach Sorgfalt in somatologischer Diagnostik und klinischer Arbeit.29 Es dürfe in der Psychotherapie, so Kronfeld, nicht um Moden und überspannte Ansprüche gehen, eher um „‚Intuition‘ im Sinne Sauerbruchs“.30 Kronfeld beruft sich auf die Tradition von Johann Christian Reil, des Arztes der Frühromantik, und Hermann Lotzes „unübertroffene“ Medizinische Psychologie (1852). In der Gegenwart nennt er als vorbildlich Karl Birnbaum sowie Arbeiten aus der Schule Adlers, Eliasbergs, Schultes, Sterns, Lipmanns und Bogens. Die Psychoanalyse habe er an sich selber durchgemacht, um sie beurteilen zu können; er wisse um die Echtheit ihres Anspruchs und Möglichkeit zu katarthischer Kraft. Aber es sei auch Freud klar gewesen, dass sein Verfahren bei weitem nicht für jeden Kranken geeignet sei und es daher niemals therapeutisches Gemeingut aller Ärzte werden könne. Es gehe darum, „daß man in der Psychotherapie jeden Weg gehen könne, wie man wolle, wofern man nur wisse, was man psychologisch tue“.31 Ob man nun eine ethische oder wie v. Weizsäcker eine metaphysische Fundierung annehme, auf jeden Fall beruhe das „Apriori allen Arztseins“ in der im Menschlichen gründenden Beziehung; jeder „echte Arzt“ lehne eine aufs Technische reduzierte Behandlung ab, auch wenn es, wie in der zeitgenösisschen Gesellschaft oft notwendig, um die Überwindung von Leistungstiefs gehe.32 Der kommende ärztliche Typus des – individuellen und sozialen – ‚Trainers‘ gehöre in die Domäne der Psychotherapie.

Kronfelds Rede umreißt Themen der AÄGP Berlin, zu der Döblin mit 45 weiteren Mitgliedern gehörte. Ebenfalls dabei waren Karen Horney, bekannt auch wegen ihrer Ablehnung des Ödipuskomplexes, der Kriminalpsychologe Karl Birnbaum, Fritz Künkel, der die Individualpsychologie in Berlin etablierte, und Johannes Heinrich Schultz, Erfinder des autogenen Trainings, „führender ← 21 | 22 → Vertreter einer nichtanalytischen Psychotherapie“ und „sehr wichtig für die Genese der AÄGP“.33 Viele Anregungen habe er durch die AÄGP bekommen, so der Analytiker und Begründer der Psychohygiene Heinrich Meng, der Anfang der 1920er Jahre mit Döblin „engen Kontakt“ und eine Analyse an einem Patienten gemeinsam durchgeführt hatte.34

Immer wieder wurde betont, dass Psychotherapie kein Vorrecht der Begüterten sein dürfe. Als Aufgabe betrachtete man, „die verschiedenen Richtungen und Schulen, die im Gebiet der Psychotherapie und der Psychoanalyse vorhanden sind, zu einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenwirken“ zu bringen.35 „Aufbauende Kritik“, wie Kronfeld und Wanke sie etwa an Freud übten,36 prägte das Miteinander der Ärzte so unterschiedlicher Provenienz. Neben den Kongressbänden erschien auch eine eigene Zeitschrift, in deren Geleit es heißt, man wolle beitragen zu „einer induktiven, rationellen, klinischen Psychotherapie, die zu den speziellen psychotherapeutischen Methoden, der Psychoanalyse, Individualpsychologie u. a. in dem gleichen Verhältnis steht wie die innere Klinik zur physiologischen Chemie. Die Psychotherapie soll die wirklichen klinischen Probleme bewältigen lernen.“37 Nach sechs internationalen Kongressen von 1926 bis 1931 konnte der für April 1932 in Wien geplante siebte Kongress zum Schwerpunktthema ‚Psychotherapie der jugendlichen Altersstufen‘ und ‚Hysterie‘ nicht mehr stattfinden. Der Nationalsozialismus brach die erfolgreich in Gang gesetzte Entwicklung ab, die meisten Kollegen gingen ins Exil. Kronfeld, der sich wie kein Zweiter redegewandt und kompetent für eine schulenunabhängige Psychotherapie eingesetzt hatte, emigrierte über die Schweiz in die Sowjetunion, konnte dort seine erfolgreiche Tätigkeit fortsetzen, suizidierte sich aber 1941 beim Einmarsch der Wehrmacht.

Wie sehr Döblin sich als Mediziner an praktischen Bedürfnissen orientierte, zeigt das Selbstzeugnis des Patienten Robert Minder. Dieser litt im November 1937 an einer Depression nach dem Tod seiner Frau infolge einer falschen Diagnose. In seinem Beitrag zur authentischen Lebensgeschichte unterstreicht Minder, dass Döblin ihn „als hervorragender Arzt, bald mit Spritzen, Pillen, ← 22 | 23 → Bädern, bald mit psychologischen Mitteln“ behandelt habe.38 Diese Geschichte einer erfolgreichen Behandlung (auch ohne Approbation in Frankreich) scheint typisch für Döblin als Arzt zu sein.

Er hat offenkundig auf die jeweilige Befindlichkeit des Patienten bezogene Therapiemethoden entwickelt, wie sie seit der Antike den guten Arzt kennzeichnen und wie sie die von ihm unterstützte AÄGP in Form der ‚kleinen‘ oder ‚pragmatischen‘ Psychotherapie weiterentwickelte. Dass 1992 der „Facharzt für Psychotherapeutische Medizin“ in die Weiterbildungsordnung für Ärzte eingeführt wurde, verdankt sich auch dem Zusammenschluss und den Aktivitäten der AÄGP in den Zwanziger Jahren,39 zu deren Pionieren Alfred Döblin gehörte. Das auch an Döblins ehemaligen klinischen Wirkungsstätten heute selbstverständliche Neben- und Miteinander von stationären und ambulanten, psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden wurde von den in der AÄGP aktiven Ärzten z.T. damals schon praktiziert und in die Wege geleitet. Das große Netzwerk der AÄGP, das produktive Miteinander von Psychiatern, Analytikern und Psychotherapeuten unterschiedlicher Fokussierung lässt darüber hinaus viele Äußerungen Döblins zu Veröffentlichungen von Kollegen, wie sie die Kleinen Schriften dokumentieren, in einem neuen Licht erscheinen.

Die Edition eines Nachrufs auf Joseph Breuer vom 24. Juni 1925 ergänzt Döb­lins essayistische Äußerungen zur Psychoanalyse. Schon der Titel seiner 1909 verfassten Fallstudie Aufmerksamkeitsstörungen bei Hysterie über die 32-jährige Lina W. klingt an Breuers und Freuds Studien über Hysterie (1895) an; Döblin zitiert hier sowohl Freud als auch Breuer.40 Im Nachlass Döblins fand sich die ← 23 | 24 → Kopie eines Zeitungsartikels mit dem Titel „Josef Breuer †“. Während Veronika Füchtner den Text schlicht unter ‚Nachlass‘ bibliographierte,41 war Anthony W. Riley schon früh überzeugt von Döblins Autorschaft, nahm ihn aber nicht in die Kleinen Schriften auf, weil der bibliographische Nachweis nicht zu erbringen war. Im Zuge der Digitalisierung der Vossischen Zeitung war dies nun möglich.

Monty Jacobs, der Leiter des Feuilletons der Vossischen Zeitung (der einen Vorabdruck von Berlin Alexanderplatz ablehnte42 und später zum Kreis um Döblin gehörte43), veröffentlichte neben einer Kurzfassung der Rede zu Freuds 70. Geburtstag am 5. Mai 192644 auch die meisten anderen Beiträge Döblins zum Thema Psychoanalyse.

Warum wählte Monty Jacobs aus der Fülle der Berliner Analytiker Döblin für den Nachruf auf Breuer? Warum wählte ihn die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft zu einem der Festredner im Hotel Esplanade bei der Berliner Freud-Feier? Denn es war ja bekannt, dass Döblin zwar in psychoanalytischen Kreisen verkehrte, aber doch „nicht eigentlich Analytiker“ war.45 Offenbar war Döblin gefragt wegen seiner schulenübergreifenden Kompetenz, intellektueller und rhetorischer Brillanz und wegen seines originellen Angangs an strittige Themen, der nicht einmal die öffentliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Zahnarzt scheute. Döblin wurde den Lesern der Vossischen Zeitung als ein Autor empfohlen, der „aus den Erfahrungen eines Praktikers“ referiere, wie es im Vorspann der Redaktion heißt.46

Döblin erwähnt im Nachruf, dass Breuer (wie Freud) Schüler am Institut des Physiologen Ernst Brücke war. Ernst Brücke war das Pendant von Rudolf Virchow in Wien und forschte u. a. zu Protoplasma. Brücke und seine Mitarbeiter „befreiten die Biologie von religiösen und vitalistischen Erklärungen“.47 In Freuds eigenem Nachruf auf Breuer wird der gemeinsame Lehrer Brücke übrigens nicht erwähnt.48

Döblins Nachruf ist keine traditionelle laudatio funebris. Zum Nekrolog als bestimmtem Typ der Biographie gehört es, Herkommen und Familie, Persönlichkeit, Lebenslauf und Wirken zu beschreiben. So tat es Döblin auch ← 24 | 25 → an anderer Stelle, etwa bei seinem Nachruf auf Bernhard Kellermann.49 Bei Breuer aber geht Döblin in medias res mit einer Jahreszahl, 1893, und da war der Verstorbene bereits 51 Jahre alt. Die Jahresangabe markiert die sogenannte Geburtsstunde der Psychoanalyse, als im Neurologischen Zentralblatt Breuers und Freuds gemeinsame Veröffentlichung Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene erschien, wie Döblin anführt.

Es geht also ausschließlich darum, Breuers Verdienste bei der Etablierung der Psychoanalyse hervorzuheben; das umfangreiche übrige Wirken als Physiologe wird nur lapidar erwähnt. Im Plauderton rekapituliert Döblin exakt die parallele Entwicklung in Paris und Wien und Breuers Leistung, hysterische Symptome nicht auf anatomische Gegebenheiten, sondern auf psychische Ursachen zurückzuführen. Die wichtigsten Erkenntnisse der Psychoanalyse seien in Breuers und Freuds gemeinsamen Studien über Hysterie enthalten: „Das Unbewusste und die Verdrängung gefährlicher Erinnerungen“. Döblin erläutert dann noch kurz die beiden Heilmethoden, die Hypnose – die Freud aufgegeben habe – und das assoziative Wachverfahren.

Der Nachruf skizziert auf plastische Weise das Verhältnis von Breuer und Freud. Zunächst „alte Freunde“, dann die gemeinsame Veröffentlichung auf Betreiben Freuds, die häufige Erwähnung Breuers durch Freud zum Erstaunen seiner Schüler, dann der Bruch der Freundschaft, als Breuer sich von der Psychoanalyse verabschiedet hatte.

Füchtner bemerkt, dass Döblins Nachruf „erstaunlich wenig über Breuer selbst zu berichten weiß und erstaunlich viel dagegen über seinen früheren Mitarbeiter Freud“.50 Das klingt so, als habe Döblin nicht mehr zu berichten gewusst; in der Tat wird der Name Freud im Nachruf 14 Mal genannt und der Breuers nur 12 Mal. Natürlich hätte Döblin auch mehr über Breuer zu berichten gewusst. Die Frage ist also, was beabsichtigt er mit dieser ungewöhnlichen Komposition eines Nachrufs?

Der kurze Text ist hintergründiger als es zunächst scheint. Die Geschichte des Nekrologs zeigt eine einschneidende Veränderung in der frühen christlichen Periode bei Hieronymus: Nicht mehr das Curriculum Vitae wie in der Antike, die Entwicklung und der Hintergrund des Verstorbenen, sondern der Zeitpunkt der Taufe (Erwachsenentaufe) wird in den Mittelpunkt der Trauerrede gestellt.51 Herkunft, Familie und Karriere werden bedeutungslos.

Döblins Nachruf hat also durchaus rhetorisch-literarische Vorbilder. Mittelpunkt des Textes, das heißt ‚Glaubenswahrheit‘ sind Freud und die ← 25 | 26 → Psychoanalyse; dahinter steht die Vita des Verstorbenen zurück. Breuer mochte ein glänzender Arzt gewesen sein, aber seine ganz besondere Bedeutung ergibt sich aus seiner, wie Döblin es nennt, „einmaligen Befruchtung“ für Freud. Diese biologische Metapher birgt eine ironische Distanz ebenso wie die stilistisch-didaktische Anleihe bei der frühchristlichen Form des Nekrologs.


1 Meyer, Jochen: Mehr Bericht, mehr Kritik, – weniger „Stil“, weniger Dekoration… In: Alfred Döblin: Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Düsseldorf/Zürich 2001, S. 88–95, S. 95.

2 Träume einer Giftmörderin in der Untersuchungshaft (Träume Nr. 724–734 mitgeteilt von Alfred Döblin). In: Ignaz Jezower: Das Buch der Träume. Berlin 1928, S. 393–395.

3 Ebd., S. 642.

4 Ebd., S. 646.

5 Döblin, Alfred: Das Ich über der Natur. Berlin 1927, S. 242. In diesen Zusammenhang gehört auch die Bemerkung, er habe sich „an der heutigen Medizin nie erfreuen“ können (Alfred Döblin: Persönliches und Unpersönliches. In: Ders.: Schriften zu Leben und Werk. Hrsg. von Erich Kleinschmidt. Olten/Freiburg i.Br. 1986, S. 238–242, hier S. 241).

6 Döblin, Alfred: Über Roman und Prosa. In: Ders.: Kleine Schriften I. 1902–1921. Hrsg. von Anthony W. Riley. Olten/Freiburg i.Br. 1985, S. 226–232, hier S. 231.

Details

Seiten
370
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783034326537
ISBN (ePUB)
9783034326544
ISBN (MOBI)
9783034326551
ISBN (Paperback)
9783034326520
DOI
10.3726/b10936
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Döblin Exil Exilliteratur
Erschienen
Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 370 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Sabina Becker (Band-Herausgeber:in) Sabine Schneider (Band-Herausgeber:in)

Sabina Becker, geb. 1961, Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seit 2011 Präsidentin der Internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft; Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sabine Schneider, geb. 1966, Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich; Forschungsschwerpunkte: u.a. Aufklärung, Weimarer Klassik, 19. Jahrhundert, Wiener Moderne, Literatur der Jahrhundertwende.

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Titel: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Zürich 2015
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