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Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung

von Annika Hildebrandt (Band-Herausgeber:in) Charlotte Kurbjuhn (Band-Herausgeber:in) Steffen Martus (Band-Herausgeber:in)
Sammelband 374 Seiten

Zusammenfassung

«Die Antike» als eine der zentralen Referenzen der deutschen Aufklärung ist keineswegs homogen, sondern zeichnet sich durch ihre Pluralität aus. Namen und eben auch Lokalitäten implizieren auf kompakte Weise ästhetische Konzepte, anthropologische Programme, ethisch-moralische Normen, Gesellschaftsmodelle, politische Orientierungen oder Ideale literarischer Kommunikation. Die antike Tradition verfügt über eine interne Topographie mit verschiedenen anspielungsreichen Orten; und sie wird von bestimmten Orten aus adressiert und vereinnahmt. In Poetiken und Vorreden, in Bildprogrammen von Titelkupfern und Vignetten oder in Entscheidungen für Gattungen, Sujets und Motive trägt der Rekurs auf die Antike dazu bei, wiedererkennbare Profile zu etablieren. Dabei interagieren literarische Projekte mit einer Vielzahl von Faktoren, die sich aus den regionalen Bedingungen herleiten.
Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Ordnungen, die dieser Pluralität der Antike im 18. Jahrhundert zugrunde liegen. Sie fragen danach, wie die literarische Aufklärung auf das vielfältige Angebot der Überlieferung zugreift, um Positionen in den Konkurrenzen und Allianzen des literarischen Feldes zu kennzeichnen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung Einleitung (Annika Hildebrandt / Charlotte Kurbjuhn / Steffen Martus)
  • I. Europäische Topographien
  • Klassiker Ein Jahrhundertdiskurs und seine topographischen Topoi (Daniel Fulda)
  • Sparta vs. Athen Topographien der Antike im französischen und deutschen Geschichtsdiskurs des 18. Jahrhunderts (Elisabeth Décultot)
  • II. Repräsentative Antike
  • „Dreßden wird nunmehro Athen für Künstler“ Zur antiken Topographie des nachmaligen Elbflorenz um 1750 (Martin Dönike)
  • Das klassische Hundegrab im Weimarer Ilmpark Hofadel, Mätressen und „republikanische“ Freiheit (Michael Niedermeier)
  • III. Antike Szenen – Topographien der Bühne
  • Erhabene Schöpfung Ein von Boileau an Racine erarbeiteter Topos und seine deutschen Verortungen (Alexander Nebrig)
  • Von Paris über Leipzig nach Kopenhagen? Dystopien des Klassizismus bei Johann Christoph Gottsched und Johann Elias Schlegel (Albert Meier)
  • „Hier sei denn ihr Athen!“ Zur politischen Funktion des Rekurses auf die Antike im Hamburger Theater des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Theaterprologen (Bernhard Jahn)
  • Titus in Prag Mozarts Krönungsoper als politisch-ästhetische Provokation (Astrid Dröse)
  • IV. Andere Antiken
  • Göttinger Primitivismus Christian Gottlob Heynes wilde Antike (Jörg Robert)
  • Die ,Verurtümlichung‘ Homers – ein Beispiel transnationaler Antiketransformation: Die Rezeption des homerischen ,Barden‘ in Großbritannien und Deutschland im 18. Jahrhundert (Maike Oergel)
  • Von Barde zu Barde Die Wiener Aufklärung in Michael Denis’ Topographie der deutschen Literatur (Annika Hildebrandt)
  • Konfuzius und die chinesische Antike im Europa der Aufklärung (Georg Lehner)
  • V. Regionale Transformationen
  • Ästhetische Transformationen der Antike: „Der Tempel der wahren Dichtkunst“ und die „Freundschaftlichen Lieder“ im Kontext Halles (Charlotte Kurbjuhn / Steffen Martus)
  • Topographie der Antike in Lessings Berliner „Schrifften“ (1753–55) (Dirk Niefanger)
  • Antonomastische Indienstnahmen antiker Dichter im Halberstädter Dichterkreis um Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Achim Aurnhammer)
  • Wirtshausschild gegen Kriegerschild Die alternative Kulturtopographie der Antike in der Wiener Aufklärung – exemplifiziert an Aloys Blumauers „Virgils Aeneis, travestirt“ (Norbert Christian Wolf)
  • Zwischen Rom und Alemannien Topographien der Antike bei Johann Peter Hebel (Joachim Jacob)
  • Weimarer Klassik in der Berliner Stadtschule: Karl Friedrich Beckers vergessene Antike-Moderne-Typologie als Sublimierungstheorie der Literatur (Iwan Michelangelo D’Aprile)
  • VI. Anhang
  • Siglen
  • Auswahlbibliographie
  • Zu den Autorinnen und Autoren
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

ANNIKA HILDEBRANDT, CHARLOTTE KURBJUHN, STEFFEN MARTUS


Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung Einleitung*

Drei antikisch gewandete Hirten stehen in einer südlichen Landschaft vor einem steinernen Grabmonument und versuchen, darauf die Inschrift „ET IN ARCADIA EGO“ zu entziffern, während ihnen eine stattliche Frauengestalt, möglicherweise eine Allegorie der Malkunst, über die Schulter sieht: Diese Darstellung des idyllischen Arkadien eines Goldenen Zeitalters, 1639 gemalt von Nicolas Poussin und heute im Louvre zu betrachten, ist jedem bekannt. Je nach Deutung der Ellipse lässt sich die Inschrift entweder als ein Hinweis darauf lesen, dass auch der hier Bestattete einst glücklich lebte, oder, grammatisch wahrscheinlicher, dass auch inmitten des Idylls der Tod weile.1 Neuere, durchaus plausible Deutungen beziehen das EGO jedoch auf die Malerei, die in der Neuzeit kein Handwerk mehr darstellt, sondern eine Kunst, deren neu erfundene ‚zehnte‘ Muse mithin im Bilde zu sehen wäre.2 In ihrer Gegenwart entdeckten dann die Hirten im Schatten, der an der Fingerspitze des tastend Lesenden auf die Inschrift fällt, den Ursprung der Mimesis, der bildenden Kunst – die zugleich über die im Grabmonument drohende Todesverfallenheit hinwegzutrösten vermag, indem sie ideelle Unsterblichkeit sichert. Die Bildaussage lautete demnach: „Auch mich, die Malerei, gibt es in Arkadien“, in der antiken Idealwelt der Künste. ← 9 | 10 →

Deutlich weniger bekannt ist ein Kupferstich, der am sanft abfallenden Ufer einer baumumstandenen Seenlandschaft rechts im Vordergrund eine Frauengestalt zeigt, die auf einen efeuumrankten Obelisken mit der Inschrift „ALUNT CYGNOS ET FLUMINA NOSTRA“ („Auch unsere Flüsse nähren Schwäne“) weist. Durch Attribute wie Bücher, Masken, Musikinstrumente und einen Lorbeerkranz ist die Figur als Muse der Dichtkunst (und Musik) gekennzeichnet. Im linken Bildhintergrund schwimmen zahlreiche Schwäne auf einer ausgedehnten Seenlandschaft, um die Inschrift zu beglaubigen. Mit Ausnahme eines stolz heranschwimmenden und eines sich putzenden Tiers im Vordergrund fällt auf, dass diese Schwäne außerordentlich soziale Wesen sind und sich bevorzugt in Gruppen zusammengefunden haben, als tauschten sie sich aus. Inmitten dieser Idylle befremdet nur eines: Den Sockel des Obelisken ziert ein Relief, auf dem der brutalste Künstlermythos der Antike dargestellt ist, nämlich die Szene, in der Apoll den Satyr Marsyas häutet zur Strafe für dessen Anmaßung, den Gott der Dichtkunst und Musik zum künstlerischen Wettstreit herausgefordert zu haben (worin er naturgemäß unterlag).3 Apoll setzt auf dem Relief energisch das Messer an den Leib des kopfüber an einem Baum aufgehängten Marsyas; die Lyra des Gottes ruht am Fuße des Baums.

Muse und Gott der Dichtkunst machen die Inschrift und die zahlreichen ‚Dichterschwäne‘, die dem Apoll als Symbole der Poesie zugeordnet sind, zunächst als Behauptung lesbar, auch in der dargestellten Gegend herrschten günstige Bedingungen für Literaten. Der sich am Obelisk emporrankende Efeu verweist – wie auch die Posaune – auf den Ruhm, der sich bei seiner Entfaltung auf das antike Monument stützt. Indem gerade diese Form des Denkmals gewählt wurde, reiht sich die Anthologie zudem in einen Kultur-transfer von pluralen Altertümern ein, denn Obelisken wurden in der Antike aus Ägypten zur Ausstattung römischer Plätze überführt. Dass zugleich auf Horaz’ poetologisches ‚Pyramiden‘-Gedicht Exegi monumentum verwiesen wird, unterstreicht diese Dimension sowie den damit verbundenen Überbietungsanspruch, denn die poetische Größe des Dichters verdankt sich einer Transformation der Antike: der Übertragung griechischer Lyrik in die römische.

Der Kupferstich von Bernard Picart (vgl. Abb. 1), der in seinen künstlerischen Anfangsjahren bereits nach Poussin gearbeitet hatte, bildet das Frontispiz zur Poesie der Nieder-Sachsen: einer der frühesten und wichtigsten Antho ← 10 | 11 → logien der Frühaufklärung, die Christian Friedrich Weichmann 1721 in Hamburg herausgibt. Mit umfangreichem Titel präsentiert sich diese Sammlung als Poesie der Nieder-Sachsen, oder allerhand, mehrenteils noch nie gedruckte Gedichte von den berühmtesten Nieder-Sachsen, sonderlich einigen ansehnlichen Mit-Gliedern der vormals hieselbst in Hamburg blühenden Teutsch-übenden Gesellschaft […] auch mit einer ausführlichen Vorrede versehen, darin unter andern die Würde der Teutschen Sprache wider den angemasseten Vorzug der Französischen […] vertheidiget wird. Welcher noch beygefüget Hrn. B. H. B. Untersuchung von den ganz verschiedenen Reim-Arten, sonderlich der Ober- und Niedersachsen […].

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Abb. 1.

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In der Zuschrift an den Dichter und städtischen Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes inszeniert Weichmann „unser Hamburg so wohl wegen seiner Annemlichkeit/ als insonderheit wegen der Menge seiner vielwissenden Gelehrten“ als „einen Haupt-Sitz der Nieder-Sächsischen Musen“, dessen „Nieder-Sächsischen Apollo“ zweifelsohne Brockes selbst darstelle.4 Bei dieser Inszenierung der Hansestadt als Musensitz muss Weichmann das kleine topographische Problem überspielen, dass Apoll und die Musen üblicherweise auf dem griechischen Berg Parnass zusammenkommen, das flache Hamburg aber kein akzeptables Pendant dazu vorzuweisen hat. Aus diesem Grund schreitet er in der Vorrede in eine andere antike Landschaft:

    Es öffnet sich also in diesem Buche das Nieder=Sächsische Tempe / dessen Bluhmen / bey ihrem lieblichen Geruch / zugleich mit den annehmlichsten Farben spielen.5

Mithilfe der Poesie verwandelt sich die norddeutsche Tiefebene also durch eine kulturelle Assimilation zu einem literarischen locus amoenus, dem griechischen Tempe-Tal. Und dass im Norden die Dichtkunst floriert, wiederholt unter der Vorrede Weichmanns nochmals die Inschrift des Obelisken im Titelkupfer Alunt Cygnos et flumina nostra, die nun der Deutlichkeit halber zusätzlich mit einem Epigramm übersetzt wird: „Es wird durch dieses Buch im Ueberfluß bewähret/ | Daß Nieder-Sachsen auch beliebte Schwäne nähret.“

Titelkupfer und Vorrede geben ein Beispiel für das, was sich in der deutschsprachigen Literatur der Aufklärung unter einer Topographie der Antike – und ihren neuzeitlichen Transformationen6 – verstehen lässt. Der niedersächsische Reichkreis,7 dessen bedeutende infrastrukturelle Position im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation der Hinweis auf die Flüsse markiert, wird als ‚Literaturregion‘ von der Sprache her aufgefasst; dieser geographisch sehr weit gedachte, aber durch die gemeinsame Sprache definierte Bezirk profiliert sich unter einigermaßen großzügiger Assimilation der ← 12 | 13 → antiken Vorbilder als deren neuzeitliches Äquivalent – hier tritt Hamburgs Binnenalster an die Stelle des Parnass, der flugs im norddeutschen Tempe-Tal verortet wird. Dabei geht es um die lokale und regionale Positionierung, um die topographischen Bezüge, die damit zusammenhängen, und um die in sich differenzierte Landkarte der Antike als Referenzkultur, die sehr konkret als soziale, politische und kulturelle Konstellation aufgerufen werden kann, aber auch im übertragenen Sinn mit dem gesamten topischen Gewicht, das sich im Lauf der Transformationsgeschichte angesammelt hat.

Für unser Beispiel, die ‚niedersächsische‘ Transformation der Antike, bleibt die Frage, warum das norddeutsche Dichteridyll ausgerechnet durch die verstörende Gewaltdarstellung mit Apoll und Marsyas einen Riss bekommen muss. Vielleicht ist es aber gar kein Riss, sondern eine Rückbindung der Poesie an die zeitgenössische politische Topographie der Stadt Hamburg: Zwei Jahre bevor die Poesie der Nieder-Sachsen erschien, waren die seit längerem schwelenden konfessionellen, sozialen und politischen Konflikte in der Hansestadt eskaliert, als von aufgebrachten protestantischen Kirchgängern am 10. September 1719 die katholische Kapelle, die sich der kaiserliche Gesandte auf dem Botschaftsgelände in Hamburg errichtet hatte, samt dessen Haus dem Erdboden gleichgemacht wurde.8 Die dadurch ausgelösten diplomatischen und politischen Konflikte, in denen neben dem Kaiser auf Seiten der Katholiken auch der britische König zugunsten der norddeutschen Protestanten intervenierte, währten lange. Ursache dafür waren nicht zuletzt Hamburgische Verzögerungsstrategien, um die von Karl VI. geforderten Strafzahlungen und eine öffentliche Abbitte zu vereiteln. Wie wichtig dieser Zusammenhang für das Gesamtkonzept der Anthologie war, zeigt die Inschrift des Widmungskupfers, das die Dedikation an Barthold Heinrich Brockes einleitet: „SpLenDIDVs BIanDVs AtqVe CanorVs“ (vgl. Abb. 2).

Löst man die Großbuchstaben in Zahlen auf, ergibt sich in der Summe 1721. Und dies war genau das Jahr, als Großbritannien seine Unterstützung Hamburgs so weit zurücknahm, dass sich die Stadtregierung gezwungen sah, im Mai eine Delegation nach Wien zu schicken und sich beim Kaiser doch noch zu entschuldigen. Im Juni wurde in diskretem Rahmen Abbitte vor dem Kaiser geleistet, und bei Hofe gefielen besonders die Verse, die der neu gewählte Senator Brockes – seit 1720 Senator der Stadt Hamburg und in der ← 13 | 14 → Zuschrift der Poesie der Nieder-Sachsen euphorisch als Hamburgischer „Apoll“ vorgestellt – zu diesem Anlass beigesteuert hatte.9

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Abb. 2.

Indem das Titelkupfer also im Sockel des Obelisken den energisch durchgreifenden Gott Apoll gleichsam als Wappenfigur der Unternehmung profiliert, wird deutlich gemacht, dass es sich hier um Poesie handelt, die zivilisierende Funktion für die „Nieder-Sachsen“ insgesamt haben soll:10 eine Kunst, die Ordnung und Ruhe schafft. Brockes wird somit propagiert als ← 14 | 15 → Dichter, der auch einmal zupacken muss und kann, um soziale und politische Probleme zu bewältigen – und zwar durch seine Poesie.

Auch dass Brockes Mitbegründer der Teutsch-übenden Gesellschaft (1715) war, deren Erträge in der Anthologie die städtische Führungsschicht als kulturelle Elite präsentierten, und dass der Ratsherr als solcher die Dichtung gefördert und darüber hinaus in einen institutionalisierten sozialen Kontext eingebunden hatte, illustriert das Titelkupfer mit den einander zugewandten, scheinbar konferierenden Schwänen. Dabei ist symptomatisch, dass die griechisch-römische Antike als Orientierungsgröße und Konvergenzpunkt für eine doch große und kulturell äußerst heterogene ‚Sprachgemeinschaft‘ fungiert,11 wie sie Weichmann in der Vorrede etabliert – außer den gebürtigen „Nieder-Sachsen“ und ‚plattdeutsch‘ Dichtenden gemeindet er potentiell auch die deutschsprachigen „Schweden, Liefländer[ ] und Dänen“ ein. Dieser Rekurs auf eine Vergangenheit mit dem Versprechen universaler Anschlussfähigkeit brachte schließlich den Vorteil mit sich, dass keine der adressierten Teilgemeinschaften sich zurückgesetzt fühlen musste; die Antike konnte als gemeinsamer Nenner dienen, um dem eigenen Patriotismus12 gemäß zu kultureller Größe zu gelangen.

Das skizzierte Hamburger Beispiel stellt keinen Einzelfall dar. Die Referenzen der deutschen Aufklärung auf die kulturellen Traditionen, die meist summarisch als „die Antike“ gefasst werden, sind jedoch keineswegs homogen, sondern zeichnen sich durch ihre Pluralität aus, die der sozialen, religiösen und politischen Heterogenität und Komplexität der einzelnen Städte, Regionen und Fürstentümer entspricht. Die Autoren haben die Wahl zwischen einem Spektrum von antiken Autoritäten, die gleichermaßen allgemeine Verbindlichkeit versprechen, diese jedoch auf ganz unterschiedliche Weise einlösen. Auf der Ebene der Kultur bietet sich zunächst eine Alternative zwischen Rom und Griechenland an, der ab ungefähr 1750 weitere Optionen zur Seite treten (etwa das nordische und hebräische Altertum; der Orient in verschiedenen Facetten; die frühen Kulturen der Neuen Welt). Die poetische Überlieferung dieser Altertümer verzweigt sich weiter entlang des Gattungssystems sowie in verschiedene Paradigmen etwa der Ode, des Epos ← 15 | 16 → oder der Tragödie. Die Schwäne zum Beispiel wurden topisch Homer als

Schwan mäonischer Dichtung zugeordnet (Hor. Carm I,6), aber auch Vergil als mantuanischem oder Pindar als thebanischem Schwan.13 Die Implikationen dieser Angebote beschränken sich dabei nicht auf dichtungstheoretische und -programmatische Fragen. In vielen Fällen sind sie bereits im Zuge vorausgegangener Transformationen der Antike in der europäischen Literatur der Frühen Neuzeit zusätzlich diskursiv angereichert und aufgeladen worden. Weichmann etwa arbeitet in seiner Einleitung insbesondere mit den Paradigmen „Italien“ und „Frankreich“, die er (personell und generisch genau differenziert) unterschiedlichen antiken Referenzen zuordnet:

    Jene lieben das Metaphorische / tiefsinnige und Majestätische Wesen / wie etwa Lucanus / Statius und Claudianus vormals geschrieben; diese aber legen sich auf einen leichte / wolfliessende und liebliche Ticht=Kunst / die eine Prose nicht gar unähnlich; dergleichen wir mehrentheils beym Ovidius / und Horatius in seinen Briefen und Satyren antreffen.

In der Anthologie finden sich laut Weichmann Beispiel für beide „Schreibarten“, so dass jeder Leser seine geschmacklichen Vorlieben bedient findet, „dafern er nur nicht durch ganz unnatürliche und abgeschmackte Dinge zu sehr verwöhnet worden“.14

Durch ihre konkrete Rückbindung an regionale Kontexte dienen Referenzen auf die Antike im 18. Jahrhundert stets auch der Positionierung in aktuellen Debatten und Diskursen: Sie implizieren und markieren auf kompakte Weise u. a. Anthropologien, ethisch-moralische Normen, Gesellschaftsmodelle, politische Strukturen oder Formen literarischer Kommunikation. Daher akzeptiert Weichmann keine anonymen Veröffentlichungen, weil er verdeckte Autorschaft mit „Unordnung[ ]“ gleichsetzt; „garstige / oder auch nur solche Dinge / dadurch einige ernsthafte und zärtliche Ohren ← 16 | 17 → könnten beleidiget werden“, bleiben ebenfalls ausgespart; zudem folgt die Poesie der Niedersachsen nicht nur den „Regeln der gesäuberten Poesie“, sondern insgesamt den Normen der „Christlichen Wohlanständigkeit“.15 Jeder einzelne dieser Aspekte spielt auf die Hamburger Konfliktgeschichte an, in der nicht zuletzt anonyme Flugschriften16 und Polemiken von Seiten der Geistlichen die Eskalationsdynamik befördert haben.

Die Beiträge dieses Bandes widmen sich somit den Ordnungen, die der komplexen Topographie der Antike im 18. Jahrhundert zugrundeliegen. Sie fragen danach, wie die literarische Aufklärung auf dieses vielfältige Angebot von antiken Modellen zugreift, um regionale Standpunkte in den Konkurrenzen und den Allianzen des literarischen Feldes im 18. Jahrhundert zu kennzeichnen. So ist zu beobachten, dass sich in den Zentren der literarischen Aufklärung (etwa Berlin, Dresden, Halle, Hamburg, Leipzig, Wien, Zürich) jeweils spezifische antike Referenzsysteme ausbilden. In den Poetiken und Vorreden, in den Bildprogrammen von Titelkupfern und Vignetten sowie in den Entscheidungen für Gattungen, Sujets und Motive trägt der Rekurs auf die Antike dazu bei, wiedererkennbare Profile zu etablieren. Dabei interagieren die literarischen Programme mit einer Reihe von Faktoren, die sich aus den regionalen Bedingungen herleiten. So verstehen sich die Autoren jeweils als Repräsentanten eines Standorts auf der Landkarte der literarischen Aufklärung, an dem die Antike auch außerhalb der Literatur präsent ist. Ins Spiel gebracht werden etwa die theologischen und philosophischen Positionen, die an den Universitäten vertreten werden, die Repräsentationsund Festkulturen der Höfe oder die politische Konstellation, in die eine Region im Alten Reich oder in Europa eingebunden ist und die sich wiederum literarisch interpretieren lässt.

Um nur ein Beispiel anzuführen: Gotthold Ephraim Lessing verbindet während des Siebenjährigen Kriegs in den Briefen, die neueste Literatur betreffend (ab 1759), die sich von Berlin aus an einen fiktiven preußischen Offizier richten,17 die deutsche Faust-Tradition mit dem englischen Theater Shakespeares sowie mit Sophokles’ Ödipus als Paradigma der griechischen Tragö ← 17 | 18 → die (‚17. Literaturbrief‘).18 Damit wendet er sich gegen die in Sachsen von Christian Felix Weiße betreute Bibliothek der schönen Wissenschaften, der auf die von Lessing herausgegebenen Preußischen Kriegslieder (1758)19 mit Amazonen-Liedern (1762),20 mithin einer alternativen Antiketransformation reagiert. Zugleich verabschiedet Lessing mit dem in Sachsen arbeitenden Literaturtheoretiker und Dramenautor Johann Christoph Gottsched Frankreich als kulturelle Leitnation und die damit assoziierte römische Antike, und er bestätigt das jüngst geschlossene Bündnis zwischen Preußen und Großbritannien, indem er den englischen und deutschen Geschmack mit griechischen Vorzeichen versieht. Lessing antwortet damit in nuce auf die Frage nach der historischen Orientierung (Welches Altertum? Welche Antike?), auf die Frage nach der internationalen Orientierung (Wie verhält sich die deutsche Literatur zu den konkurrierenden klassizistischen Großmächten Frankreich und England?) sowie nach der nationalen Orientierung (Welche Allianzen geht ein in Preußen arbeitender Autor ein?) und bildet genau jene Koalitionen im europäischen Machtgefüge ab, die das politische Geschehen nach der großen diplomatischen Revolution des Jahres 1756, dem sogenannten Renversement des alliances bestimmen.21

Die Beiträge des vorliegenden Bandes untersuchen die Antikendiskurse der Aufklärung als verdichtete (Form-)Semantiken. In exemplarischen Studien verfolgen sie deren Genese und arbeiten sowohl heraus, in welche Diskursordnungen sich die Bezugnahmen eingliedern, als auch, welchen strategischen Intentionen die Autoren dabei konkret folgen. Oft lässt sich nur mit einer europäischen Perspektive adäquat rekonstruieren, welche Position die lokalen Antikereferenzen einerseits im Verhältnis zu synchronen Transformationsalternativen, andererseits zu diachronen Transformationsketten markieren. ← 18 | 19 →

Zur Orientierung in diesem topographisch weiten und historisch vielschichtigen Forschungsgebiet dienen folgende Leitfragen: Auf welche Weise greifen die Autoren der deutschen Aufklärung auf das pluralisierte Angebot der antiken Traditionen zu, um regionale Referenzsysteme zu etablieren oder zu modifizieren? Wie interagiert diese Regionalität mit der Internationalität der Aufklärung? Wie verhalten sich die innerdeutschen Konkurrenzen zum internationalen Wettbewerb mit Frankreich und England? Und welche Berührungspunkte zwischen dem Eintreten für zum Beispiel französisch oder englisch kodierte Programmatiken im Kontext der jeweiligen politischen Situation lassen sich beobachten? In den Fokus rückt nicht nur das Verhältnis von Regionalität und Internationalität, sondern auch das zur Nationalität. Während die Literaten aus regionaler Perspektive argumentieren, erheben sie mit ihren poetologischen Konzepten oft – nicht zuletzt mithilfe der Antike – den Anspruch darauf, eine nationale Literatur zu vertreten. Wie lässt sich dieses Verhältnis zwischen Regionalität und Nationalität fassen, und welche Funktion übernimmt dabei insbesondere das Plädoyer für eine spezifische Antike?

Zudem rücken Bündnisse und Bündniswechsel in den Blick. In der multipolaren Organisation der deutschen Aufklärung existieren bekanntlich klare literaturpolitische Oppositionen (z. B. zwischen Leipzig und Zürich), aber auch eine Reihe von Allianzen (z. B. zwischen Halle und Zürich), die sich als unterschiedlich stabil erweisen. Anhand der konkurrierenden oder verbindenden Antikereferenzen lassen sich solche Konstellationen genauer in den Blick nehmen. Welche Funktion und welche Reichweite besitzen sie? Wie interagieren sie mit politischen Bündnissen und Bündniswechseln?

Darüber hinaus sind die Entscheidungen für eine bestimmte Antike stets im Verhältnis zu ihren potentiellen Alternativen zu sehen, denn die Pluralisierungen von Antike stehen in synchronen und diachronen Referenzsystemen. Jede explizite Entscheidung für eine antike Autorität geht im 18. Jahrhundert mit weiteren impliziten einher. Über längere Zeiträume entwickelte Transformationsketten, die Gattungen, Texte und Motive seit der Frühen Neuzeit – gerade infolge der verschiedenen Querelles – mit spezifischen Diskursen verknüpfen, sind dafür ebenso relevant wie die zeitgleich verfügbaren Transformationsalternativen; beide sind sowohl national als auch international zu situieren. In den Beiträgen des Bandes zeigt sich immer wieder, dass sich an diesen Prozessen komplex vermittelter Antikedeutung und -aneignung auch Modelle kulturellen Wandels analysieren lassen. ← 19 | 20 →

Unter den Faktoren und Facetten des kulturellen Wandels und seiner Modi müssen im 18. Jahrhundert insbesondere die Medialität der jeweiligen Bezugnahmen und ihre Verortung im Medienverbund der Zeit berücksichtigt werden. Denn die Konkurrenzen und Allianzen, die in der Literatur über die Antike verhandelt werden, stehen in enger Verbindung zu medialen Faktoren, die für die Genese von regionalen Referenzsystemen essentiell sind. Darunter sind etwa die Konventionen der Buchgestaltung in bestimmten Orten und Verlagen zu zählen, aber auch die Bezugnahme auf die kulturellen Institutionen in Städten und Höfen, zum Beispiel die musikalische Kultur in Oper und Singspiel sowie die repräsentative Inszenierung des Herrschers. Kommunikations- und Distributionsmodi beeinflussen in hohem Maße die Herausbildung von regionalen Programmen. Das einleitende Beispiel der Poesie der Nieder-Sachsen hat bereits die Interaktion von Text und Bild in der Buchgestaltung illustriert; vor allem aber hat es herausgestellt, welche Rolle dem Buchdruck bei der literaturpatriotisch motivierten Standortbildung zukommt. Der Vermerk auf dem Titel von Weichmanns Sammlung, dass sie bei „Johann Christoph Kißner, im Dom“ erschienen sei, verortet sie ebenso im Zentrum der Hansestadt wie die typographisch hervorgehobene Zuschrift an den Senator, Dichter und „Apoll“ der „Nieder-Sächsischen Musen“ Brockes – auf diese Weise erschließt sich dem Leser „hier im Buche“ ein „Nieder-Sächsisches Tempe“-Tal.

Der vorliegende Band nun unternimmt eine Verortung der vielfältigen Transformationen von ‚Topographien der Antike‘ im literarischen Feld der Aufklärung. Die Beiträge gliedern sich in (I.) Untersuchungen zu Positionierungsstrategien der literarischen Aufklärung vor dem Horizont der europäischen Topographien des 18. Jahrhunderts, insbesondere gegenüber der kulturell noch immer vorbildlichen ‚Übermacht‘ Frankreich und im Kontext der Frage nach der normativen oder historisierenden Geltung von Konzepten des Klassischen oder von Klassizismen. (II.) erweist sich in zahlreichen regionalen Kontexten die spezifische repräsentative Funktion von Antikebezügen und deren individuellen Transformationen, die mitunter erhebliche soziale Sprengkraft besitzen. Dabei bilden (III.) die Inszenierungen von Antike auf der Bühne einen eigenen Komplex und nehmen besonderen Stellenwert ein, da sie stärker als der überregional streuende Buchmarkt ein jeweils sehr konkretes, dabei aber lokal auch spezifisch heterogenes Publikum ansprechen. Welches Spektrum an Antiken in einem pluralisierten und sogar globalisierten Sinne sich entfaltet, um auch einem hochdifferenzierten individuellen ‚Antikebedürfnis‘ eine integrative Identifikations- und Orientierungsgröße zu schaffen, zeigen (IV.) die kulturellen Praktiken, mit denen ← 20 | 21 → jenseits von Rom und Griechenland andere Antiken gesucht, konstruiert und profiliert wurden: Keltischen Barden werden ihre preußischen oder Wiener Brüder an die Seite gestellt, zugleich sieht sich die Aufklärung mit der Frage nach der Vorbildlichkeit des ‚antiken‘ China konfrontiert, das nach christlicher Zeitrechnung des 18. Jahrhunderts bereits vor der Erschaffung der Welt seine kulturelle Höhe erreicht hatte. Nach diesen grenz- und kulturraumüberschreitenden Analysen werden (V.) mit Schlaglichtern auf einzelnen Städten und kulturellen Zentren des Alten Reichs individuelle Bezugnahmen auf Topographien der Antike und deren strategische Transformationen differenziert. Dabei verdanken die betrachteten Orte ihr spezielles Profil nicht zuletzt einer konstitutiven spannungsvollen Heterogenität – politisch, sozial, konfessionell, künstlerisch, literarisch, sprachlich –, deren Pluralitätszumutungen sie durch die Allgemeinverbindlichkeit von Antikem produktiv und ordnungsstiftend zu begegnen versuchen. ← 21 | 22 → ← 22 | 23 →


  *   Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren die Ergebnisse einer Tagung, die im November 2015 im Rahmen des Forschungsprojektes B12 mit großzügiger Unterstützung des SFB 644 Transformationen der Antike durchgeführt wurde.

  1    Im 16. und 17. Jahrhundert ist die erstgenannte Bedeutung sukzessive aus der zweiten hervorgegangen. Zu diesem Prozess vgl. die berühmte Analyse von Erwin Panofsky: Et In Arcadia Ego. Poussin and the Elegiac Tradition. In: Meaning in the Visual Arts. Papers in and on Art History, Garden City 1955, S. 295–320, hier S. 296 f., 315 f. sowie Adornos Überlegungen zu Panofsky. In: Th. W. A.: Philosophy and History, GS 20.1, S. 226.

  2    Vgl. Reinhardt Brandt: Nicolas Poussin: Et in Arcadia ego. In: R. B.: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte, Köln 2000, S. 265–282, hier S. 271–277.

  3    Eine so knappe wie wirkmächtige Version des Marsyas-Mythos findet sich in Ovids Metamorphosen (Ov. met. 6,382–400); vgl. auch Ursula Renner, Manfred Schneider (Hrsg.): Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos, Paderborn 2006.

  4    C[hristian]. F[riedrich]. Weichmann: Zuschrift, Hamburg 1721, [o. S.].

  5    Weichmann: Vorrede, [o. S.].

  6    Zu dem Konzept von Transformationen der Antike, das im Gegensatz zu dem der Rezeption die ständige Aktualisierbarkeit der Tradition durch ihren Gebrauch betont, vgl. Lutz Bergemann u. a.: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: H. Böhme u. a. (Hrsg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 39–56.

Details

Seiten
374
ISBN (PDF)
9783034327312
ISBN (ePUB)
9783034327329
ISBN (MOBI)
9783034327336
ISBN (Paperback)
9783034321167
DOI
10.3726/b10700
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
literarische Aufklärung Topographien der Antike
Erschienen
Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 374 S., 1 farb. Abb., 17 s/w Abb.

Biographische Angaben

Annika Hildebrandt (Band-Herausgeber:in) Charlotte Kurbjuhn (Band-Herausgeber:in) Steffen Martus (Band-Herausgeber:in)

Annika Hildebrandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Charlotte Kurbjuhn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Steffen Martus ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Titel: Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung
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