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Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht. Bd. 21 (2016) – Annuaire suisse de droit ecclésial. Vol. 21 (2016)

Herausgegeben im Auftrag der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht – Edité sur mandat de l’Association suisse pour le droit ecclésial

von Dieter Kraus (Band-Herausgeber:in)
©2017 Dissertation 404 Seiten

Zusammenfassung

Inhalt: Wolfgang Lienemann: Theologische Grundlagen und Entwicklungen des heutigen Kirchenrechts in evangelischer Sicht – Christian R. Tappenbeck: Die Weiterentwicklung des bernischen Verhältnisses «Kirche – Staat» nach dem Entwurf des Landeskirchengesetzes. Gedanken aus der Perspektive der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn – Christoph Winzeler: Der Nutzen von Religion – rechtliche Orientierungen

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Editorial (Red.)
  • Aufsätze
  • Theologische Grundlagen und Entwicklungen des heutigen Kirchenrechts in evangelischer Sicht : Wolfgang Lienemann
  • Die Weiterentwicklung des bernischen Verhältnisses «Kirche – Staat» nach dem Entwurf des Landeskirchengesetzes. Gedanken aus der Perspektive der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn : Christian R. Tappenbeck
  • Der Nutzen von Religion – rechtliche Orientierungen : Christoph Winzeler
  • Rechtsprechung
  • Religionsrechtlich bedeutsame Entscheide des Bundesgerichts im Jahre 2016 (Dieter Kraus)
  • Mitteilungen
  • Jahresbericht 2016 der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht (Der Vorstand)
  • Berichte
  • Graubünden: Sorgfältiges und wegweisendes Urteil der Bündner Rekurskommission zur Frage der Wählbarkeit als Mitglied des Kirchenvorstandes (Jakob Frey)
  • Neuchâtel: Neues Projekt eines Gesetzes über die Anerkennung von Religionsgemeinschaften (Red.)
  • Solothurn: Totalrevidierte Kirchenordnung der Evangelisch-Reformierten Kirche Kanton Solothurn (Verena Enzler)
  • SEK/FEPS: Zum Entwurf einer neuen Kirchenverfassung für die «Evangelische Kirche Schweiz» (Christian R. Tappenbeck)
  • Rezensionen und Buchanzeigen
  • Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, 2. Aufl. Zürich/St. Gallen 2015, XVIII + 561 S., mit Kurzbiografien und Biobibliografien, Personen- und Sachwortregister (Christoph Winzeler)
  • Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Zürich/Basel/Genf 2014, XIV + 552 S., mit Kurzbiografien und einem Personenregister (Christoph Winzeler)
  • Gerhard Schwarz/Beat Sitter-Liver/Adrian Holderegger/Brigitte Tag (Hg.), Religion, Liberalität und Rechtsstaat. Ein offenes Spannungsverhältnis, Zürich 2015, 248 S. (Rolf Weibel)
  • Amélie Barras/François Dermange/Sarah Nicolet (éd.), Réguler le religieux dans les sociétés libérales. Les nouveaux défis. Genève 2016, 202 p. (Rolf Weibel)
  • Weitere Hinweise
  • Bibliografie
  • Bibliografie 2016 zum schweizerischen Kirchen- und Religionsrecht (Red.)
  • Dokumentation
  • Gesetz (Entwurf) über die bernischen Landeskirchen (Landeskirchengesetz; LKG): Vernehmlassungsentwurf des Regierungsrates vom 7. September 2016 / Projet de loi sur les Eglises nationales bernoises (Loi sur les Eglises nationales; LEgN): Projet de consultation du Conseil d’Etat, du 7 septembre 2016 : Bern
  • Totalrevidierte Kirchenordnung der Evangelisch-Reformierten Kirche Kanton Solothurn vom 5. November 2016 : Solothurn
  • Verfassungsentwurf für die Evangelische Kirche Schweiz (Vernehmlassungsentwurf des SEK-Rates vom 6. Juli 2016 zuhanden der Mitgliedskirchen) / Constitution (projet) pour l’Eglise protestante de Suisse (EPS) (projet de consultation du Conseil de la FEPS, du 6 juillet 2016, à l’adresse des Eglises membres) : SEK/FEPS
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Bandes
  • Anschriften der Herausgeber des Jahrbuchs

Editorial

Band 21/2016 des Schweizerischen Jahrbuchs für Kirchenrecht

Mag unsere Perspektive in jedem einzelnen Band zunächst nur eine zeitgenössische sein können, so wird mit grösserem zeitlichen Abstand und in der Abfolge der Bände deutlicher, in welcher Weise das Jahrbuch seine Zeit wie in einem Spiegel abbildet, Verzerrungen möglichst vermeidend und stets in Funktion der jeweiligen Ereignisse und Entwicklungen, und wie es bei alledem zugleich rückspiegelt in die religionsrechtliche sowie kirchenpolitische Aktualität und diese beeinflusst.

In diesem Sinne befasst sich dieser einundzwanzigste Band des Jahrbuchs – wie schon die Bände 14/2009 und 18/2013 – ausführlich mit der institutionellen Fortentwicklung der evangelisch-reformierten Strukturen auf gesamtschweizerischer Ebene1. Wiederum konnte Christian R. Tappenbeck gewonnen werden, um die seitherigen Ereignisse und Entwürfe vorzustellen und zu kommentieren2.

Aber auch in anderer Hinsicht grundsätzliche Fragen kommen im vorliegenden Band nicht zu kurz, wie etwa ein Blick auf den Aufsatz von Wolfgang Lienemann zu den theologischen Grundlagen und Entwicklungen des heutigen Kirchenrechts in evangelischer Sicht zeigt3.

Red.

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1       Im Band 14/2009 siehe das Editorial sowie die Beiträge von Fritz Gloor, Warum der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (k)eine neue Verfassung braucht, S. 11 ff.; Ueli Friederich, Formen der Zusammenarbeit zwischen den reformierten Landeskirchen der Schweiz, S. 37 ff.; Peter Schmid-Scheibler, Die Reformierten reformieren! Der Reformprozess des SEK, S. 81 ff. – Im Band 18/2013 siehe den Aufsatz von Christian R. Tappenbeck, Zum Vorentwurf einer „Verfassung der Evangelischen Kirche in der Schweiz“, S. 65 ff.

2       Siehe im Berichtsteil S. 252 ff. («Zum Entwurf einer neuen Kirchenverfassung für die ‚Evangelische Kirche Schweiz‘»), mit Abdruck des neuen Verfassungsentwurfs für die Evangelische Kirche Schweiz vom 6. Juli 2016 (Vernehmlassungsentwurf des SEK-Rates zuhanden der Mitgliedskirchen) auf S. 384 ff.

3       Siehe S. 11 ff.

SJKR /ASDE 21 (2016), S. 11–51

Aufsätze

Theologische Grundlagen und Entwicklungen des heutigen Kirchenrechts in evangelischer Sicht1

von Wolfgang Lienemann (Bern/Sils Maria)

Einleitung

«Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht.» Analog zu diesem vielfach zitierten und diskutierten Satz von Otto Mayer (1846–1924)1 könnte man notieren: Rechtstheologie vergeht, positives Kirchenrecht besteht. Aber die Suggestion sowohl jenes Dictums als auch dieser Analogie trügt. Im 20. Jahrhundert sind in den europäischen Staaten sowohl das Verfassungs- wie das Verwaltungsrecht einem enormen Wandel unterlegen, und dasselbe gilt ebenfalls für die Entwicklungen der zahlreichen Gestalten des Kirchenrechtes wie auch für die Beiträge zu einer theologischen Grundlegung des Rechtes der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Mehr noch: So wie es zwischen dem Verfassungsrecht und seinen Entwicklungen einerseits, dem Verwaltungsrecht und seiner permanenten Anpassung an die sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen und Aufgaben andererseits eine Vielzahl von komplexen Wechselwirkungen gibt – man denke nur an die Bedeutung menschenrechtlicher Standards für das Verwaltungsrecht –, so bestanden und bestehen auch zwischen den ekklesiologischen und rechtstheologischen Erörterungen der Grundlagenfragen und den praktischen ← 11 | 12 → Gestaltungen des Kirchenrechts und kirchlicher Ordnungen vielfältige Beziehungen. Wenn man sich klar macht, dass es in den letzten 100 Jahren zwei umfassende Kodifizierungen des kanonischen Rechts der römisch-katholischen Kirche gegeben hat (und wenn man den Codex der katholischen Ostkirchen gesondert betrachtet, sogar drei), wenn man bedenkt, zu welchen grundlegenden Neuorientierungen der Wegfall des «landesherrlichen Summepiskopats» mit der Revolution von 1918/19 die evangelischen Kirchen in Deutschland gezwungen hat oder welche Konsequenzen die (partnerschaftliche) Trennung von Staat und Kirche seit dem Jahr 2000 in Schweden hat2, dann ist der Schluss naheliegend, dass beide Seiten, die theologisch begründete «Verfassung» wie das «positive Recht», beständig aufeinander einwirken.

Allerdings scheint die Gegenwart nicht die Zeit für umfassende neue Grundlegungsarbeiten auf dem Gebiet des Kirchenrechts zu sein. (Die Frage, ob und wieweit die orthodoxen Kirchen in dieser Hinsicht einen grossen Nachholbedarf haben, lasse ich hier offen.) Die «Mühen der Ebene» (Bertolt Brecht) prägen die kirchenrechtliche Alltagsarbeit. Die Zeit der grossen Pathosformeln ist wohl vorbei.

Dazu zwei Beispiele: Das Vorwort von Erik Wolfs «Ordnung der Kirche» beginnt mit diesen Sätzen: «Ordnung der Kirche entspricht Glauben der Kirche. Das Recht der Kirche folgt der Lehre der Kirche. Nur im Recht ist ihr Glaube ein ordentlicher (fides ordinata), nur im Glauben ihre Ordnung gerechtfertigt (ordo iustificatus). Rechte Kirche hat Kirchenrecht.»3 Hans Dombois schrieb: «Das Kirchenrecht ist die grosse Leidenschaft einer Verneinung wert […]. Eine noch grössere Leidenschaft fordert die positive Lösung.» Mehr noch: «Von der Bewältigung der Kir ← 12 | 13 → chenrechtsfrage hängt nicht weniger als die geschichtliche Existenzberechtigung des Protestantismus ab.»4

Ich kritisiere das nicht, sondern halte diese apodiktischen Thesen für legitime und auslegungsbedürftige Zuspitzungen von gründlich ausgeführten Positionen. Der von Wolf betonte innige Bezug von Glauben, Lehre und Kirchenrecht mag sich auch heute als eine heilsame Provokation erweisen. Und dass das Kirchenrecht «ökumenisch» sein müsse, ergab sich für Dombois, Wolf und manche ihrer Vorgänger und Zeitgenossen daraus, dass es, nicht in empirischer Beobachtung, sondern in der Sicht des evangelischen Glaubens und der Bekenntnisse der Kirche, nur eine Kirche Jesu Christi gibt und geben wird5, unbeschadet ihrer mannigfaltigen sozialen Gestalten in Geschichte und Gegenwart und der Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche dies so nicht zu sehen vermag.

Im Folgenden spreche ich nicht vom evangelischen Kirchenrecht, sondern vom Kirchenrecht in evangelischer Sicht, d.h. in der Perspektive einer evangelischen Theologie. Eine solche ist kein konfessionskirchliches Unternehmen, sondern, wie Karl Barth zurecht betont hat, der menschliche Versuch, eine dem Evangelium entsprechende Theologie zur kritischen Darstellung zu bringen:

        «Mit ‚evangelisch‘ soll hier sachlich die ‚katholische‘, die ökumenische (um nicht zu sagen: die ‚konziliare‘) Kontinuität und Einheit all der Theologie bezeichnet werden, in der es inmitten des Vielerlei aller sonstigen Theologien und (ohne Werturteil festgestellt) verschieden von ihnen darum geht, den Gott des Evangeliums, d.h. den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen. Wo es sich ereignet, dass er der Gegenstand menschlicher Wissenschaft und als solcher deren Ursprung und deren Norm wird, da ist evangelische Theologie.»6 ← 13 | 14 →

Theologie ist nach diesem Verständnis eine kritische Wissenschaft im Raum und Dienst der Kirche Jesu Christi. Als «menschliche Wissenschaft» ist sie irrtumsanfällig und revisionsbedürftig, aber darum um nichts weniger das Bemühen um eine sachlich kohärente und systematisch konzise Argumentation und Darstellung. Soweit die Kirche, als die durch das Evangelium und seine vielfältige Bezeugung geschaffene Gemeinschaft von Menschen, in der Geschichte soziale, politische, auch wirtschaftliche, jedenfalls geordnete Gestalt gewinnt, betreten wir den Boden der sichtbaren Kirche und damit ihres Kirchenrechts.

In diesem Beitrag geht es vor allem darum, über einige ausgewählte Entwicklungen in der Diskussion der theologischen Grundlagen des Kirchenrechts zu berichten. Dabei soll besonders die ökumenische Relevanz in den Blick kommen, und zwar sowohl hinsichtlich der Grundlagen als auch der (möglichen) Konsequenzen. Beides scheint mir in etlichen neueren Diskussionen und Beiträgen an den Rand geraten zu sein7. Wenn ich die letzten zehn Jahrgänge der «Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht» durchblättere, finde ich praktisch nur Beiträge deutscher Autoren aus den Gliedkirchen der EKD zu kirchenrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Fragen, wie sie sich im deutschen, allenfalls noch deutschsprachigen Kontext stellen. Wenn es um Grundlegungsfragen geht, wird mehr oder weniger formelhaft auf die Arbeiten von Johannes Heckel, Erik Wolf und Hans Dombois verwiesen, um dann freilich nicht mit diesen eine kritische Auseinandersetzung zu führen, sondern sie still auf die Seite zu rücken und zu den praktischen, dringlichen Fragen hier und jetzt ← 14 | 15 → zu kommen8. Die heutige ökumenische Wirklichkeit und sehr unterschiedliche Entwicklungen der Kirchen weltweit spielen kaum eine Rolle. Die Stimme der Orthodoxie kommt so wenig zur Sprache wie die Fülle von Positionen und Texten aus der anglikanischen oder presbyterianischen Welt, vom «global south» der heutigen Weltchristenheit ganz zu schweigen9. Da hat es die römisch-katholische Kirche natürlich leichter und besser, denn ihre dogmatische Lehre und ihr darin gründendes Kirchenrecht stehen von A bis Z (auch) im Dienst der kirchlichen Einheit, einer Einheit freilich, die teilweise durch eine verengte «römische» Sicht beeinträchtigt ist.

Im Folgenden setze ich drei Schwerpunkte: Zuerst skizziere ich eine ökumenisch offene, der Intention nach sogar inklusive Darlegung ekklesiologischer Grundlagen eines evangelischen Kirchenrechts (I). Sodann versuche ich, die vielstimmigen Debatten um den Kirchenbegriff und den Rechtsbegriff des Kirchenrechts ein wenig zu analysieren und zu entmystifizieren (II), um schliesslich einige prognostische Vermutungen zu künftigen Herausforderungen eines ökumenischen Kirchenrechts anzuschliessen (III). Theologisch bewege ich mich dabei in grosser Nähe zu Karl Barth, was einschliesst, dass ich mit einer theologischen Lehre von der Kirche (Ekklesiologie) einsetze und Kirchenrecht in der Folge durchgehend als ius humanum verstehe10. ← 15 | 16 →

Die Gliederung könnte freilich auch umgekehrt werden, indem ich mit einer selektiven Beschreibung der Praxis des Kirchenrechts beginnen und danach fragen könnte, welche juristischen und theologischen Grundannahmen, explizit oder implizit, dabei eine wichtige Rolle spielen. Da aber einerseits die meisten Praktiker bestimmte oder unbestimmte juristische und theologische Vorverständnisse immer schon mitbringen und andererseits aus noch so guten theoretischen Überlegungen keine jederzeit gültigen, eindeutigen Regeln für die Praxis abgeleitet werden können, gilt hier (für die Reihenfolge der Argumentationsschritte): methodus est arbitraria. Faktizität und Legitimität des Rechts wie des Kirchenrechts sind stets aufeinander bezogen und zugleich sorgfältig zu unterscheiden. Der anfangs erwähnten, leicht defätistischen These Otto Mayers soll hier mit Blick auf das Kirchenrecht und seine Grundlegung mit einer konstruktiven Konzeption begegnet werden.

I.       Ekklesiologische Grundlagen

1.      Kirchenrecht als Aufgabe der Kirche(n)

Jedes Kirchenrecht ist auf eine oder auf verschiedene Kirchen und kirchliche Gemeinschaften oder, in welchem Sinne immer, auf die Kirche insgesamt bezogen und wird von den entsprechenden Organen der Kirche(n) gefunden oder gesetzt, angewendet, weitergebildet und (mehr oder weniger) durchgesetzt11. Aber die jeweiligen Auffassungen von Kirche und, ← 16 | 17 → was nicht dasselbe ist, der Kirchenbegriff verstehen sich keineswegs von selbst. Es gibt vielmehr zahlreiche und teilweise kontroverse Kirchenverständnisse. Schon bei der Aussage, dass Kirchenrecht eine «Funktion des Kirchenbegriffs» sei, sollte man stutzig werden12. Sinnvollerweise kann damit nur gemeint sein, (1) dass jedes Kirchenrecht die wie immer zu bestimmende gesellschaftliche Wirklichkeit der Kirche und der Kirchen historisch und sachlich voraussetzt, und (2) dass vermutlich aus einem (bestimmten) Begriff der Kirche eine (bestimmte) Auffassung von Kirchenrecht folgt, d.h. dass sich aus der Extension und Intension eines je vorausgesetzten Kirchenbegriffs in der Regel auch ergibt, was man unter Kirchenrecht versteht. Da es aber vielfältige Möglichkeiten gibt, die Kirche und die Kirchen wahrzunehmen und begrifflich zu bestimmen, ist heute im Allgemeinen nicht strittig, dass es (3) eines theologischen Verständnisses und Begriffs von Kirche bedarf, um einen angemessenen Begriff von Kirchenrecht zu entwickeln. Unter ‚Theologie‘ wird indes wiederum vieles verstanden. Wenn und soweit es sich dabei um evangelische Theologie in dem eingangs erwähnten, ökumenisch-katholischen Sinne handelt derart, dass diese Theologie darstellend und kritisch bezogen ist ← 17 | 18 → auf die Verkündigung des Evangeliums unter den Menschen, dann ist damit auch (4) gesagt, dass der theologische Kirchenbegriff, auf den ein entsprechender Begriff des Kirchenrechts aufbauen muss, an die Wirklichkeit der Kirche gebunden ist. In diesem Sinne kann und darf man die Theologie in der Geschichte der christlichen Kirchen durchaus als eine «Funktion der Kirche» bestimmen, am besten mit dem Zusatz «im Raum und in der Gemeinschaft der Christenheit». Theologie ist eine Form der Selbstunterscheidung derjenigen Gemeinschaft von Menschen, die wir ‚Kirche‘ nennen, zum Zwecke ihrer kritischen (wissenschaftlichen) Selbstprüfung bezüglich ihrer Existenz, Lehre und Praxis13.

Es ist sofort zuzugeben, dass diese Bestimmungen in gewisser Weise zirkulär sind, insofern jede Antwort auf die (theologische) Frage nach der Kirche und ihrem Recht die Besinnung auf die Wirklichkeit der Kirche voraussetzt, welche ihrerseits ja nicht formlos, sondern auf irgendeine Weise geordnet erscheint. Das schliesst überdies ein, dass es auch andere Erkenntnisinteressen und Disziplinen gibt, aus deren Blickwinkel man die Kirchen und sodann ihre Rechtsordnungen betrachten kann, insbesondere juristische und soziologische Beobachtungen. Diese kommen wiederum nicht umhin, die theologischen Auffassungen und Begriffe von Evangelium und Kirche zu berücksichtigen, auch wenn sie diese selbstverständlich nicht teilen müssen. Kirchen müssen es sich auf der anderen Seite nicht nur gefallen lassen, gleichsam in extern-verfremdenden Perspektiven wahrgenommen zu werden14, sondern sie können für ihre Selbstaufklärung und Selbstbestimmung davon profitieren.

Der theologische Argumentationszusammenhang, in dem eine Kirche normalerweise über sich selbst, aber oft auch über andere kirchliche Gemeinschaften Rechenschaft gibt, ist die Ekklesiologie, d.h. eine biblischexegetisch begründete, historisch informierte und systematisch entfaltete Lehre von der Kirche. Dass es in Geschichte und Gegenwart unterschiedliche institutionelle Gestalten der Kirche und entsprechende teilweise sogar antagonistische Ekklesiologien gegeben hat und gibt, darf und sollte nicht von der weiter gehenden Aufgabenstellung ablenken, einen hier und jetzt zustimmungsfähigen theologisch-ökumenischen Kirchenbegriff zu ← 18 | 19 → entwickeln, auch wenn es sich dabei zunächst um allgemeine und zugleich revisionsoffene Grundbestimmungen handeln wird15, zu denen dann fast unübersehbar viele Näherbestimmungen hinzutreten werden. Es ist nicht zuletzt die Aufgabe einer ökumenisch orientierten Ekklesiologie, Vorschläge und Konzepte zu entwickeln, die die Gemeinsamkeiten der Kirchen betonen, ohne die Differenzen zu unterschlagen, und damit – vielleicht – auch eine Grundlage für so etwas wie ein ökumenisches Kirchenrecht abgeben.

2.      Ekklesiologische Grundbestimmungen

Lassen sich heute Grundbestimmungen eines evangeliumsgemässen (d.h. nicht: konfessionellen) Kirchenverständnisses entwickeln, welche Anerkennung und vielleicht umfassende Geltung in den vielfältigen Sozialgestalten der Weltchristenheit beanspruchen können? Die folgenden Elemente eines solchen Verständnisses halte ich für notwendig, unverzichtbar und ökumenisch konsensfähig16:

     Die Kirche ist «Geschöpf des Wortes Gottes» (creatura evangelii)17 und «Werk des heiligen Geistes»18. Sie ist nicht eine Gemeinschaft, die von Menschen zur Verfolgung irgendwelcher (religiösen) Zwecke gegründet ist, sondern sie verdankt sich, als Gemeinschaft von Menschen, – konstitutiv und ausschliesslich – dem «Wort Gottes»19. ← 19 | 20 →

     Die Kirche ist ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung nach «die irdisch-geschichtliche Existenzform» Jesu Christi, in der er als ihr «Haupt» und «Herr» gegenwärtig lebt, erkannt und bezeugt wird20.

     Die Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten ist die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche, die als solche Gegenstand des Glaubens und des Bekennens ihrer Glieder ist.

     Die Kirche ist communio sanctorum, d.h. sie ist in dem Sinne «Gemeinschaft der Heiligen», dass diejenigen, die das Evangelium vernehmen und annehmen, damit als die besondere reale Gemeinschaft der Nachfolger Jesu Christi berufen, gesammelt und gesendet werden.

     Die Kirche ist in einem doppelten Sinne communio, nämlich als «Zeichen und Instrument der innigsten Einheit Gottes» mit den Menschen und der Menschen untereinander21.

     Die Kirche ist das «Licht der Völker»22. Sie ist unter allen Umständen Kirche für die «Welt», also gesandt zu allen Menschen, die dazu berufen ← 20 | 21 → sind, dieser Gemeinschaft anzugehören, ihren Glauben zu teilen und mitzuteilen und entsprechend zu handeln.

     Die Kirche, welche als creatura evangelii unsichtbarer Gegenstand des Glaubens ist, existiert zugleich jederzeit und überall als sichtbarer sozialer Interaktionszusammenhang leibhaftiger, handlungsfähiger Menschen23.

Die vorstehenden Bestimmungen sind nicht im Sinne einer abschliessenden Definition der Kirche zu verstehen. Dergleichen wäre anmassend und sinnlos angesichts der komplexen Befunde tatsächlich existierender kirchlicher Gemeinschaften in Geschichte und Gegenwart. Sie sind so formuliert, dass sie als zusammenfassende, orientierende und einladende Aussagen (1) über die biblischen Befunde24 sowie (2) über wichtige historische Phänomene kirchlicher Existenz und (3) im Blick auf die vielfältigen Gestalten heutiger Kirchen expliziert werden können. Sie können eine heuristische Hilfe sein, wenn man die Möglichkeit eines zugleich zeitlich und personell begrenzten und offenen übergreifenden Kirchenverständnisses ausloten will. Denn jede örtliche Gemeinde existiert im Horizont der Weltchristenheit, ob sie sich dessen bewusst ist oder nicht.

Details

Seiten
404
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783034331111
ISBN (ePUB)
9783034331128
ISBN (MOBI)
9783034331166
ISBN (Paperback)
9783034331104
DOI
10.3726/b11639
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2015
Erschienen
Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 404 S.

Biographische Angaben

Dieter Kraus (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht. Bd. 21 (2016) – Annuaire suisse de droit ecclésial. Vol. 21 (2016)
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