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Denken im Gegensatz: Hugo Ball

Ikonen-Lehre und Psychoanalyse in der Literatur der Moderne

von Daniela Paola Padularosa (Autor:in)
©2016 Dissertation 359 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch fokussiert die tiefe und dennoch problematische und gegensätzliche Beziehung der Ikonen-Lehre zur Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Das Auftreten von modernen Ikonen wird zum bedeutenden Ausdruck der Renaissance der Mystik in der Kunst, der Wissenschaft und Philosophie der Zeit, die sich oft als Debatte über die Sichtbarwerdung des Unsichtbaren artikuliert.
Vor diesem Hintergrund analysiert die Autorin das Werk von Hugo Ball, einem der außergewöhnlichsten und raffiniertesten Interpreten der literarischen und künstlerischen Szene der Zeit. Ausgehend von Balls dadaistischen Lautwerken bis hin zu seinen zum Teil unveröffentlichten Artikeln zur Psychoanalyse und Religion vertritt das Buch die These, dass die Ikone Christi und die Figur des Heiligen der rote Faden in seinem Œuvre sind: Erinnert Balls kubistisches Kostüm an eine byzantinische Ikone, erscheinen in den Schizophrenen Sonetten andere heilige Gestalten in der Form «umgedrehter Ikonen». Sein faszinierendstes Buch, Das byzantinische Christentum, versucht schließlich durch das wiederkehrende Bild der Himmelsleiter ein neues Verhältnis zur Heiligkeit herzustellen und den Heiligen zum neuen Held der Moderne zu erheben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Hugo Ball und die Moderne
  • 1.1 Zerstörung und Wiederaufbau: Die politische und künstlerische Krise im 20. Jahrhundert
  • 1.1.1 Nietzsches Nihilismus und avantgardistischer Vitalismus
  • 1.1.2 Von der Sprachkrise und dem Fragment-Charakter der Kunst zur Lautpoesie und zum Gesamtkunstwerk
  • 1.2 Die Mystik-Renaissance in der Moderne und ihre Beziehung zum Rationalismus, oder Das Sichtbare und das Unsichtbare
  • 1.2.1 Die Vielfalt der religiösen Erfahrung
  • 1.2.2 Das Unsichtbare wird sichtbar
  • 1.3 Die Wort-Bild-Beziehung in der Moderne. Über die Ikonen-Renaissance im 20. Jahrhundert
  • 1.3.1 Die Figur Christi in Balls Werk
  • 1.3.2 Die Ikonen-Renaissance in der Moderne
  • 1.3.3 Die Ikonen-Malerei und ihre Beziehung zur Volks- und primitiven Kunst
  • 1.4 Synästhetisches Gesamtkunstwerk und byzantinisches Christentum. Die Ikonen-Lehre im Spannungsfeld zwischen poetischer und bildender Kunst
  • 2. Die Reise nach Dresden
  • 2.1 Hugo Ball zwischen Avantgarde und Tradition
  • 2.1.1 Dadaismus und Zeitkrankheit
  • 2.1.2 Das Wort und das Bild
  • 2.2 Synästhesie und Kult
  • 2.2.1 Das Cabaret Voltaire
  • 2.2.2 Hugo Ball: Magischer Bischof oder Pantokrator-Ikone? Zum Inkarnationsmotiv in der Kunst der Avantgarde
  • 3. Hugo Balls lyrisches Intermezzo: Über die Schizophrenen Sonette
  • 3.1 Die Zerrissenheit der Moderne und die Melancholie des Künstlers
  • 3.1.1 Religiöse und psychoanalytische Motive in Balls Nachkriegswerken
  • 3.1.2 Die Therapie der Kirche: „Exorzismus und Psychoanalyse“
  • 3.2 Der Geisteskranke als mystische Avantgarde
  • 3.3 Die Schizophrenen Sonette: 1923–1924
  • 3.3.1 Der Verfall der Aura und der Sturz des Engels
  • 3.3.2 Der gefallene Cherub und Der Schizophrene
  • 3.3.3 Gefallene Engel und himmlische Hierarchien
  • 4. Am Anfang war der Traum. Das Byzantinische Christentum
  • 4.1 Hugo Balls Byzanz-Buch
  • 4.1.1 Das Byzantinische Christentum: Heiligenlehre und Psychoanalyse
  • 4.1.2 Die Umwertung der Antike
  • 4.2 Von der Zerrissenheit zur Himmelsleiter. Die Ikonen-Lehre zwischen Platonismus und Christentum
  • 4.2.1 Balls byzantinische Kunst-Theologie
  • 4.2.2 Dionysius Areopagita
  • 4.3 Die Christus-Ikone: Vom Urbild zum verkörperten Abbild
  • 4.3.1 Die Theorie der „unähnlichen Ähnlichkeit“
  • 4.3.2 Die Ikone der Himmelsleiter. Das Urbild und seine latente Existenz
  • 4.4 Die Himmelsleiter in Balls Byzantinischem Christentum
  • 4.4.1 Traumbild und Kunstbild
  • 4.4.2 Ein Rückblick auf die Psychologie des Religiösen: William James, Rudolf Otto und Sante De Sanctis
  • 4.5 Schlussfolgerungen
  • Nachwort
  • Abbildungen
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffrance.

(Charles Baudelaire, Bénédiction)

1.

„Mein Denken bewegt sich im Gegensatz. Ich wollte gerade sagen, dass alles Denken sich im Gegensatze bewegt“.1 Mit diesen Worten beschreibt Hugo Ball die Widersprüche, die sein Wesen, seine Weltanschauung, sowie die künstlerische und geistige Szene seiner Epoche bestimmen. Man kann in den Wandlungen seines Denkens die deutlichen Spuren einer radikalen philosophischen und künstlerischen Transformation erkennen, die das frühe 20. Jahrhundert prägt.

Es ist schwer, sich Hugo Balls Leben und Werk zu nähern. Zum einen hat er zahlreiche Fragmente, Aphorismen und unvollständige Werke hinterlassen; zum anderen schwankt sein Denken ständig zwischen unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Haltungen. Als Gründer des Zürcher Dadaismus im Jahr 1916, als politischer Journalist, byzantinischer Hagiograph und Psychoanalytiker, wird er selbst zu einer Figur des Paradoxes. Dieses Schwanken manifestiert sich in seinen Werken, die den unterschiedlichen Phasen seiner geistigen Entwicklung, vom Dadaismus, über die revolutionäre Zeitkritik bis zum Studium der Kirchenväter, des antiken Christentums und der psychoanalytischen Theorien, folgen. Mit seiner Bekehrung zum katholischen Glauben nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wendet sich Hugo Ball nur scheinbar von Nietzsches Philosophie, die sein Denken in den avantgardistischen Jahren bestimmt hat. Vielmehr nimmt er sie in seine christliche Weltvorstellung auf und verwertet sie dadurch unter einer neuen Perspektive. ← 11 | 12 →

Balls Oeuvre ist kein einheitlicher Organismus, weil es sich als ein lebendiges und dynamisches Werk erweist, das sowohl vom Autor als auch vom Empfänger bestimmt wird und das sich jedem Versuch entzieht, es mit einer eindeutigen und einseitigen Sinngebung zu interpretieren. Seine Werke schwanken ständig zwischen anarchistischem Denken und orthodoxer Spiritualität, zwischen avantgardistisch-destruktivem Anspruch und christlichem Glauben. Sie erweisen sich als eine Aufeinanderfolge von intellektuellen Wendepunkten und inneren Verwandlungen, entfalten sich allerdings immer aus einem gleichen Grundmotiv und einem gleichen Grundimpuls, nämlich die soziale Krise der Epoche zu überwinden und eine Antwort auf die politische, historische und künstlerische Dekadenz zu finden. Wenn Ball in seinem Spätwerk von der „Zeitkrankheit“ als der „Neurose einer ganzen Epoche“ spricht,2 ist die Frage nach der Fragmentierung und der individuellen, künstlerischen und gesellschaftlichen Zerrissenheit gerade der Grundgedanke, der sein Werk bestimmt. Insofern kann man im Werk des Autors die herrschenden Züge der Epoche erkennen, die auf unterschiedlichen Wissensgebieten den philosophischen Dualismus, der Geist und Materie, Irrationalismus und Rationalität trennt, hat überwinden wollen.

Mit einem Ausdruck von Gabriele Guerra könnte man Hugo Ball in die umfangreiche und heterogene Strömung der „Mystischen Moderne“ einordnen.3 Das ermöglicht uns, Balls Oeuvre in seiner Gesamtheit zu untersuchen und einem roten Faden zu folgen, der die unterschiedlichen Phasen seiner geistigen Entwicklung trotz ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit verbindet. Das setzt aber die Distanzierung von den traditionellen Deutungsmöglichkeiten voraus. Der Dadaismus und im Allgemeinen die Bewegungen der historischen Avantgarden werden oft als ein (missglückter) ikonoklastischer Versuch verstanden, der sich gegen die Tradition auflehnt, um eine neue Ästhetik zu formulieren.4 Dabei scheint Dada, besonders in seiner anfänglichen Zürcher Phase, keine bloße künstlerische Bewegung, sondern eher eine Entwicklungsstufe des Menschen und der Kunst zu sein, ← 12 | 13 → altertümlich und archaisch.5 „Bevor Dada da war, war Dada da“. In dem Willen, Traumbilder durch Werkzeuge und Mittel aus den primitiven Ritualen wieder zu erwecken, in dem Begier, die Freude, die Weltoffenheit, die kreative Kraft, die die Kinderwelt bestimmen, wiederzuerlangen, in der Unschuld, die zerstören möchte, um wiederaufzubauen, drückt sich das Bedürfnis der Dadaisten aus, zeitlich und räumlich bis auf eine Art Kindheit der Menschheit zurückzugehen und zu regredieren. Marcel Janco hat geschrieben:

Dada war keine Fiktion, denn seine Spuren finden sich in den Tiefen der menschlichen Geschichte. Dada ist ein Stadium in der Entwicklung des modernen Geistes, ein Ferment, die wirkende Kraft des Männlichen. Dada ist unbegrenzt, unlogisch und ewig!6

Das spirituelle und psychoanalytische Element ist im Dadaismus seit seinen Ursprüngen deutlich vorhanden, allerdings nicht als künstlerisches Element, sondern als mythischer und archaischer Vorhof. Man denke hier zum Beispiel an Rudolf Labans Tanzen, an Sophie Taeubers „Dada-Köpfe“, die sich an primitive Masken anlehnen, an Richard Huelsenbecks Phantastische Gebete.

In Hugo Balls Mystizismus aus der Dada-Zeit lassen sich daher verschiedenartige Elemente finden, die er aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen erbt. Wenn Hugo Ball sich in den 1920er Jahren zum Katholizismus bekehrt, lässt sich das spirituelle Element, in dem sich heidnische und typisch christliche Grundzüge vermischen, schon im Hintergrund der ← 13 | 14 → dadaistischen Performances erahnen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Balls Tagebuch Die Flucht aus der Zeit, das die Ereignisse der Jahre 1913–1921 mit einer deutlichen religiösen Tendenz beschreibt, erst 1927 herausgegeben wird. Balls eigene spirituelle Interpretation des Dadaismus ist demnach nicht unvermittelt und spontan, sondern gemäß seiner religiösen Konversion überarbeitet worden.

Der religiöse Grundzug ermöglicht eine transversale Lektüre von Balls Werken, indem man den roten Faden der Figur Christi und deren Ikone verfolgt. Das Wort Ikone kommt bei Ball nur sporadisch vor, während der Autor sich der Begriffe „Urbild“ und „Archetyp“ öfters bedient, die in der orthodoxen Theologie zum Acheiropoieton bzw. zum non-manu-factum werden. Die Ikonen-Lehre eignet sich besonders gut, um Balls paradoxe Haltung gegenüber der künstlerischen und intellektuellen Szene im frühen 20. Jahrhundert zu illustrieren. Die Ikonen-Lehre blüht in diesen Jahren in Europa durch den Einfluss der orthodoxen Spiritualität vieler russischer Künstler, wie Malewitsch oder Kandinsky, wieder auf. Bei Rainer Maria Rilke und seiner Freundin Lou Andreas-Salomé bedingt die Kontemplation der Ikonen-Malerei das Interesse für die russische Mystik und vermischt sich sonderbarerweise mit Nietzsches Philosophie. Die europaweite Verbreitung der theosophischen Schriften von Madame Blavatsky und der orthodoxen Theorien über die Ikonostase von Pavel Florenskij sowie das Aufleben der Grecomanie unter den deutschen Expressionisten oder bei Picasso und Zuloaga, unterstreichen den tief geistigen und archaischen Charakter dieser modernen Epoche. Die Ikonen-Lehre begründet schließlich ein philosophisches Gebiet, das in den 1950er und 1960er Jahren die Begriffe von „Sichtbarem“ und „Unsichtbarem“ ergründen möchte.

Drei Hauptphasen von Balls Oeuvre lassen sich unter dem Aspekt der Ikonen-Theorie erklären: Die Gründung des Dadaismus im Jahr 1916, die Ausarbeitung einer auf der byzantinischen Theologie beruhenden modernen Ästhetik in der Nachkriegszeit, und schließlich das Studium der religiösen Psychologie und Psychoanalyse. Sowohl im dadaistischen Projekt, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das die Beziehung zwischen Nachahmung und Originalität in Frage stellt, als auch in der Schrift Byzantinisches Christentum, in der das wiederkehrende Bild der Himmelsleiter die Komplementarität der himmlischen und der irdischen Welt bzw. des Urbilds und der unterschiedlichen künstlerischen Abbildungen zeigt, verwendet Hugo Ball Bilder und Motive der christlichen Tradition und des Platonismus, um sie umzuwerten und zu aktualisieren. ← 14 | 15 →

Balls Werk lässt sich also als ein repräsentatives Modell für eine ganze Epoche verwenden, die den westlichen Dualismus überwindend auf der Auffassung der Gegensätze als komplementärer und reversibler Phänomene beruht. Die Psychologie des Religiösen, die zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts blüht, ist ein weiteres Beispiel für diese Tendenz, die das Bedürfnis befriedigen möchte, eine wissenschaftliche Deutung aller unerklärbaren, träumerischen, irrationellen und unbewussten Phänomene darzulegen, um dadurch eine Brücke zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Wirklichkeit herzustellen. Dieser eigenständige Zweig der experimentellen Psychologie zeigt deutlich den intellektuellen Perspektivenwechsel der Zeit und wird demnach zur neuen Orientierungsachse der künstlerischen und philosophischen Debatte. Anlässlich seiner italienischen Reise im Jahr 1925 hat sich Hugo Ball selbst mit Fragen der religiösen Psychologie beschäftigt, während er bei dem römischen Arzt Sante De Sanctis gearbeitet und dessen Werk Die religiöse Konversion rezensiert hat. Es ist heute allerdings schwer, Balls Verhältnis zur religiösen Psychologie sowie seine Entwürfe einer eigenen Psychoanalyse treulich zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktionen sollen daher gegenüber allen Vorschlägen und Deutungsperspektiven offen bleiben. Besonders nach seiner religiösen Bekehrung und nach dem Ende des Kriegs ist Balls Sprachgebrauch freilich von der psychoanalytischen Mode stark beeinflusst und bedingt.

In den 1920er Jahren, nachdem er das Cabaret Voltaire verlassen, sein politisches Engagement aufgegeben hat und konvertiert ist, beginnt er also gleichzeitig, sich mit Fragen der modernen Psychoanalyse auseinanderzusetzen. Schon in diesen Wendejahren entwirft er einige erste Ideen über das Verhältnis zwischen Exorzismus und Psychoanalyse, die der Grundlage für ein geplantes Buch über die „Therapie der Kirche“ hätten dienen sollen. Die moderne Gesellschaft soll Balls Ansicht nach von der Zerrissenheit befreit werden, die sich aus dem Geist der Romantik von einer individuellen Pathologie zu einer sozialen Pandemie entwickelt hat. Die ersten Entwürfe dieser Theorien reifen anlässlich Balls italienischer Reise, während der Autor einerseits die antike exorzistische Lehre in der Vatikanischen Bibliothek studiert, andererseits die psychoanalytische Praxis im Laboratorium von Sante De Sanctis miterleben kann.

Das Jahr 1923 ist ebenso wichtig für Balls intellektuellen Werdegang. Er veröffentlicht sein Werk Byzantinisches Christentum und schreibt die Sieben Schizophrenen Sonette, die er seinem Freund Hesse schenkt. Diese zwei Werke können als zwei Phasen eines langen geistigen Reifungs- und ← 15 | 16 → Entwicklungsprozesses des Autors gelesen werden, der 1916 im Cabaret Voltaire mit der Aufführung der Klanggedichte und mit der Verklärung Balls von einem Narren in einen „magischen Bischof“ angefangen hat. Obschon die Schizophrenen Sonette dem Byzantinischen Christentum mit einigen Monaten Abstand nachfolgen, lassen sie sich als die abgründige Vorphase verstehen, welche für die im Byzanz-Buch angedeutete geistige Sublimierung notwendig gewesen ist.

2.

Schon bevor Hugo Ball das Cabaret Voltaire 1916 in Zürich gründet, nimmt er aktiv teil an der Blüte vieler avantgardistischer Bewegungen in München und Berlin. Er arbeitet mit Hans Leybold und entwirft zusammen mit Wassily Kandinsky ein nie ausgeführtes Bühnenprojekt. Während sein künstlerischer Werdegang von dieser erregenden europäischen Kunstszene beeinflusst wird, ist dagegen seine intellektuelle Entwicklung der Philosophie Nietzsches geschuldet. 1909–1910 verfasst Ball seine Dissertation über Nietzsches Kultur-Philosophie und über deren Rolle in der Erbauung einer neuen Kultur, die die Dekadenz der Epoche hätte überwinden können. Vier Jahre vor dem Ausbruch des Krieges setzt sich Ball schon mit der Frage nach der bildenden und erlösenden Künstlerrolle in der modernen Gesellschaft auseinander, und sieht in dem „Philosophen-Künstler“ eine Art Demiurgen der Kultur. Sein Denken ist also von Nietzsches Weltanschauung beeinflusst, die ihrerseits von antiker griechischer Philosophie durchtränkt ist. Ball scheint sich mit Nietzsches Augen der Figur Platons zu nähern, wobei Nietzsche seine eigene Philosophie, die dem Künstlerschaffen eine prominente und der Philosophie gleichwertige Rolle zuschreibt, als einen „umgedrehte[n] Platonismus“7 bezeichnet.

In seinem dunkelsten Werk, Byzantinisches Christentum, dem das letzte Kapitel dieser Arbeit gewidmet ist, greift Ball explizit auf diese Idee des umgedrehten Platonismus’ zurück, indem er über eine „Umwertung der ← 16 | 17 → Antike“ in der ostchristlichen Theologie spricht; allerdings kennzeichnet sich sein ganzes Werk durch einen solchen Denkvorgang. Der Dadaismus, der im zweiten Kapitel analysiert wird, lässt sich als eine totale Umwertung der üblichen Werte, sowohl der bürgerlichen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, als auch des antiken klassischen und religiösen Erbes, verstehen. Der Begriff „Umwertung“ verweist nicht auf eine bloße und einseitige Zerstörung der vergangenen Werte, sondern gleichzeitig auf ein Wiederaufbauen neuer Werte und auf die Aktualisierung der alten. Demgemäß begegnen sich im dadaistischen Kunstverfahren Elemente aus der klassischen Tradition mit anderen aus dem religiösen und christlichen Gebiet.

Mit seinem „kubistischen Kostüm“ hat sich Ball ein traditionelles und säkularisiertes Bild einer Heiligen-Figur angeeignet, um es in die verspottende, kubistische, kabarettistische und großstädtische Welt der Moderne hineinzutragen. Dadurch verwandelt sich Ball in seinem dadaistischen heiligen Spiel in eine verkörperte Ikone der Moderne.

Gerade diese Mischung von Heiligem und Profanem wird bezeichnend für die ganze Epoche. In der Profanierung der Kunst und der Sprache hat Ball den innersten Kern und den „heiligsten Bezirk“ des Menschen wiedererlangen wollen. Wenn Walter Benjamin 1936 in seinem Kunstwerk-Aufsatz die Theorie des „Verfalls der Aura“ in der modernen Kunst entworfen hat, ist bei Ball ein ähnlicher Gedanke schon in Die Flucht aus der Zeit und in der Beschreibung seiner dadaistischen Arbeit vorhanden. Ball spricht vom Verlust eines sakralen und geistigen Sinns in der modernen Gesellschaft, den er zuerst in seinen avantgardistischen Gesamtkunstwerken und später in dem Entwurf eines ‚orthodoxen‘ ästhetischen Denkens hat besiegen wollen, um die Kunst in ihren ursprünglichen sakralen Raum zurückzuführen.

Das Motiv des „Verfalls der Aura“ und der Entheiligung der Kunst und der Welt ist Thema von Balls Schizophrenen Sonetten aus dem Winter 1923–1924 sowie von Balls späterer Dichtung. In einem seiner letzten Gedichten, Gefangen ward ich auf der Himmelsleiter, kommt eben das Bild des entkronten Künstlers vor, das in weiten Teilen an Baudelaires Prosagedicht Perte d’auréole erinnert, das seinerseits die Anonymität und die Entweihung des Künstlers in der Moderne durch das Bild des Verfalls seiner Aureole im Schlamm der Großstadt transportiert. In den Schizophrenen Sonetten tauchen gespenstische und zerrissene Figuren auf, die sich als umgedrehte Ikonen verstehen lassen. Solche umgedrehten oder umgekehrten Ikonen, für die Der gefallene Cherub eine Schlüsselrolle spielt, spiegeln sich in den oben glänzenden heiligen Ikonen wider, so dass das Positive ← 17 | 18 → und das Negative, das Erhabene und das abgründliche, komplementär und reversibel erscheinen. Die Ikonen haben sich in gefallene Ikonen verwandelt, die Heiligengestalten haben ihre Aureole verloren und sind nun zu gespaltenen Figuren geworden, die Engel, statt den Menschen zu schützen, verseuchen ihre ganze Umgebung mit ihrem melancholischen Wesen und ihrer seelischen Versunkenheit: die schwarze Galle, die ihre Wesen überschwemmt, ergießt jetzt in einem „Trauermeer“ von Verzweiflung und Schwermut.

Durch dieses Spiel von Widerspiegelungen, in welchem das Untere mit dem Oberen, der Schutzengel mit dem versunkensten Cherub, der Sturz mit der Emporhebung sich ständig treffen, scheint Ball wieder auf Nietzsches Philosophie eines umgedrehten Platonismus’ zurückgreifen zu wollen. Die Bildwerdung, die Fleischlichkeit, das Künstlerschaffen werden nicht mehr als unvereinbare Gegensätze zum Ideenreich verstanden, sondern als dessen reversible Formen.

In seinen letzten Werken nimmt Ball seine ursprüngliche dadaistische Abneigung gegen den Nachahmungsgrundsatz in der Kunst wieder auf, indem er ihm das Motiv der Verkörperung und der Fleischwerdung gegenüberstellt. Die Gestalt Christi, die im Dadaismus als die Symbolfigur der synästhetischen Einheit von Wort und Bild, von dem unsichtbaren geistigen Urbild und den materiellen Abbildungen betrachtet wurde, gewinnt nach Balls religiöser Konversion eine tiefere Bedeutung, in welcher Moral und Ästhetik einander begegnen. Das Kunstbild, das in der Ikonen-Lehre mit der Christus-Ikone übereinstimmt, lässt sich nicht mehr als ein untergeordnetes Bild gegenüber dem ideellen und archetypischen Bild verstehen, weil es nicht mehr als eine bloße Kopie des Originals, sondern als dessen inkarniertes Spiegelbild verstanden wird, das trotz seiner Andersheit die gleichen Merkmale und die gleiche Kraft des Urbilds noch besitzt. Urbild und Abbild werden nun zu notwendigen Gegenbildern, bzw. zu Spiegelbildern, die voneinander abhängen und deren Identität nur durch die Präsenz des Anderen an Sinn gewinnt.

Details

Seiten
359
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035109221
ISBN (ePUB)
9783035197204
ISBN (MOBI)
9783035197198
ISBN (Paperback)
9783034320450
DOI
10.3726/978-3-0351-0922-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Dadaismus byzantinische Ikonen-Lehre Zeitkrankheit Nietzsche Umwertung der Antike unähnliche Ähnlichkeiten Urbild
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 359 S., 10 s/w Abb.

Biographische Angaben

Daniela Paola Padularosa (Autor:in)

Daniela Padularosa ist Postdoktorandin im Fachbereich «Europäische, amerikanische und interkulturelle Studien» an der Sapienza Universität Rom. Sie unterrichtet außerdem Neuere deutsche Literatur an der Universität Macerata. Neben zahlreichen Aufsätzen zu Hugo Ball, zum Dadaismus und zur Avantgarde hat sie Studien zur deutschen Wendeliteratur, zu Bertolt Brecht, Hermann Hesse und Essad Bey veröffentlicht.

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