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Simpliciana

Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft- XXXVII. Jahrgang / 2015

©2016 Dissertation 480 Seiten
Open Access
Reihe: Simpliciana, Band 37

Zusammenfassung

Dieser Jahrgangsband der Simpliciana enthält elf Vorträge, die während der Tagung zum Thema Grimmelshausens Der seltzame Springinsfeld Mitte Juni 2015 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Sieben weitere Beiträge ergänzen das neue Jahrbuch. Die Rubrik «Rezensionen und Hinweise auf Bücher» bietet Besprechungen von Neuerscheinungen zum simplicianischen Erzähler, zu anderen Autoren und zur Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Editorial
  • Beiträge der Tagung „Grimmelshausens ,Der seltzame Springinsfeld‘“
  • „[...] es steck(e)t etwas (anders) darhinder [...]“. Die „Lebens-Beschreibung“ des simplicianischen Springinsfeld als Cento
  • Vergebliche Bekehrungsversuche. Zur religiösen Dimension in Grimmelshausens Springinsfeld
  • Nochmals ein Blick auf Erzähler- und Autorfiktionen in den Simplicianischen Schriften und im Pikaro-Roman
  • Die Geschichte der 200 Dukaten. Zählen und Erzählen in Grimmelshausens Springinsfeld
  • Vielstimmiges Erzählen. Über die besondere Bedeutung von point of view und Erzählhaltung in Grimmelshausens Springinsfeld
  • „Obriste Lumpus“ Springinsfelds Erzählen zwischen Authentizitätsanspruch und Exemplarik
  • Wer ist Philarchus Grossus? Simplicianische Autorschaftsmachinationen im narrativen Hintergrund
  • Bewegungsmuster des Sprunghaften in Grimmelshausens Springinsfeld
  • Macht und Ohnmacht des letzten Wortes in Grimmelshausens Der seltzame Springinsfeld
  • Der Wolfsmann und die Wölfe. Zur Bildung sinnträchtiger Zeichen in Grimmelshausens Springinsfeld
  • Quellen-Mikrologie. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Springinsfeld und das Theatrum Europaeum, mit einem Seitenblick auf Wassenbergs Ernewerten Teutschen Florus
  • Weitere Beiträge
  • Zu Struktur und internem Erzählzusammenhang der Kapitel 22 bis 26 in Grimmelshausens Seltzamem Springinsfeld
  • Spielarten des literarischen Manierismus im Werk Grimmelshausens
  • Der Zifferant: Chiffrierte Post aus Grimmelshausens Offenburger Regimentskanzlei 1645
  • „Nun Rabbi Mauschele/ wie wirds bey dir?“ Antijüdische Stereotype in Grimmelshausens Rathstübel Plutonis
  • Noch einmal zum rechtlichen Verhältnis zwischen Autor und Verleger im Kalenderwesen des 17. Jahrhunderts. Mit einem Blick auf Grimmelshausen
  • Miszellen aus der Werkstatt der Grimmelshausen- und Moscherosch-Forschung. Neue Quellen im Nachlaß Ernst Batzer im Stadtarchiv Offenburg
  • Gottes Zeichen am menschlichen Körper und im menschlichen Geist. Christian Lehmanns Chronik Historischer Schauplatz derer natürlichen Merckwürdigkeiten (1699) als regionale Anthropologie der Ausnahmefälle und Kuriositäten
  • Simpliciana Minora
  • Simplicianisches in Gerhard Henschels Jugendroman (2009)
  • Grimmelshausen-Preis 2015 für Robert Seethaler
  • „Poetendaten“ der ALG
  • Fakten-Check. Zu Weckherlins Sonett auf Opitz
  • Regionales
  • Der Weg des Simplicissimus vom Mummelsee zu seinem Bauernhof und weitere lokale Bezüge
  • Grimmelshausen-Gesprächsrunde in Oberkirch-Gaisbach
  • Literaturtage Oberkirch
  • Würdigung Grimmelshausens in Bad Peterstal-Griesbach
  • Veranstaltungen in Renchen 2015
  • Soest steht wieder Kopf!
  • Rezensionen und Hinweise auf Bücher
  • Norbert Bastwöste: Die Courasche bei Grimmelshausen.
  • John Glassie: Der letzte Mann, der alles wusste. Das Leben des exzentrischen Genies Athanasius Kircher. Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt.
  • Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein höfisches Lebensbild aus dem 17. Jahrhundert. Hrsg. von Martina Trauschke und aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Klappstein.
  • Christian Meierhofer: Georg Philipp Harsdörffer.
  • Gábor Tüskés: Zur Metamorphose des Schelms im modernen Roman. Jenö J. Tersánsky: Marci Kakuk.
  • Mitteilungen
  • In memoriam Siegfried Streller (1921–2015)
  • Bericht über die Tagung „Grimmelshausens Der seltzame Springinsfeld“, 11.–12. Juni 2015 in Oberkirch und Renchen
  • Einladung zur Tagung „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 23.-25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen
  • Ankündigung der Tagung „Grimmelshausens Kleinere Schriften“, 23.–25. Juni 2017 in Gelnhausen
  • Anhang
  • Beiträger Simpliciana XXXVII (2015)
  • Simpliciana und Beihefte zu Simpliciana. Richtlinien für die Druckeinrichtung der Beiträge
  • Bezug alter Jahrgänge der Simpliciana
  • Grimmelshausen-Gesellschaft e. V.
  • Beitrittserklärung
  • Reihenübersicht

Editorial

Dieser Jahrgangsband der Simpliciana enthält elf Vorträge, die während der Tagung zum Thema „Grimmelshausens Der seltzame Springinsfeld“ Mitte Juni 2015 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Sieben weitere Beiträge ergänzen das neue Jahrbuch. Die Rubrik „Rezensionen und Hinweise auf Bücher“ bietet Besprechungen von Neuerscheinungen zum simplicianischen Erzähler, zu anderen Autoren und zur Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit.

Unsere nächste Tagung widmet sich dem Thema „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“. Sie wird vom 23. bis zum 25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen stattfinden. Die satzungsgemäße Mitgliederversammlung und Vorstandswahlen stehen am 25. Juni 2016 auf der Agenda. Die Einladung und das Tagungsprogramm sind in diesem Jahrbuch in der Rubrik „Mitteilungen“ abgedruckt. Aktuelle Informationen der Grimmelshausen-Gesellschaft erhält man auf unserer neu eingerichteten Homepage unter www.grimmelshausen.org. Mit der Einladung zur Tagung verbinde ich den Wunsch, zahlreiche Mitglieder der Grimmelshausen-Gesellschaft und weitere Gäste im Juni in der Ortenau begrüßen zu können.

Vom 23. bis zum 25. Juni 2017 wird die Grimmelshausen-Gesellschaft in Gelnhausen eine Tagung zum Thema „Grimmelshausens Kleinere Schriften“ durchfuhren. Der Ankündigungstext befindet sich ebenfalls in der Rubrik „Mitteilungen“. Vortragsangebote nehme ich gern entgegen.

Münster, im Dezember 2015

Peter Heßelmann

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BEITRÄGE DER TAGUNG „GRIMMELSHAUSENS ,DER SELTZAME SPRINGINSFELD‘“

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KLAUS HABERKAMM (Münster)

„[…] es steck(e)t etwas (anders) darhinder […]“. Die „Lebens-Beschreibung“ des simplicianischen Springinsfeld als Cento

„[…] daß wäre wohl ein praver Kerl
wann er nur nicht so lumpicht daher käme […]“

(Grimmelshausen: Ewig-währender Calender,
Apophthegma Nr. XC)

„Saepe etiam sub sordido palliolo latet sapientia.
Unter einem unflätigen Mäntel stecket oft
herrliche Weisheit verborgen.“

(Europäischer Wundergeschichten Calender,
Jahrgang 1670, Weinmonat)

I.    Zur literarischen Evaluation des Seltzamen Springinsfeld

Die literarische Qualität von Grimmelshausens Seltzamem Springinsfeld wurde lange als relativ schlecht bewertet. Im Vergleich mit den vorausgehenden Büchern des simplicianischen Zyklus zumal falle das achte ästhetisch ab, behauptete die opinio communis älterer Grimmelshausen-Forschung. Diese negative Beurteilung, erwägt Dieter Breuer, mag bereits der Planungsökonomie des Verlegers zugrunde gelegen haben:

Das Versäumen der Messetermine [im Falle des Springinsfeld. K. H.] erklärt sich aus dem Umstand, daß Felßecker 1670 zuvor schon außer der Courasche auch den Legendenroman Dietwald und Amelinde, die zweite Ausgabe des Keuschen Joseph mit der Musai-Fortsetzung sowie, gegen die Ankündigung auf der Titelseite des Springinsfeld, die Gauckeltasche als Anhang zum Beernhäuter herausgebracht hatte. Daß Felßecker den Springinsfeld bei diesem enormen Arbeitspensum und Kapitaleinsatz zurückstellte, kann auch daran gelegen haben, ← 15 | 16 daß er wie noch zahlreiche Herausgeber und Forscher des 20. Jahrhunderts den Rang dieses Werkes vergleichsweise niedrig einschätzte.1

Konsequenterweise sei die vom Autor erhoffte positive Resonanz auf den Roman ausgeblieben. Nach solcher Wahrnehmung schien es fast, als habe dieser den dürftigen Sozialstatus, mit dem der Titelheld in die erzählte Handlung eintritt, in Stil und vor allem Struktur spiegeln sollen – was freilich schon wieder Ausweis artistischen Wollens wäre.

Anstoß nahm man vor allem an der extensiven und, wie es schien, geradezu mechanischen Benutzung von Vorlagen, die die sowieso schon ausgiebige Quellenverarbeitung in den vorausgegangenen Werken Grimmelshausens noch übertrifft:

Als Sproßgeschichte zum Simplicissimus Teutsch (II, 31–III, 13) hat der Springinsfeld-Roman die Hauptquellen, die dritte Continuatio des Theatrum Europæum und Wassenbergs Ernewerten Teutschen Florus, mit diesem und der Courasche gemein. Auch die übrigen Quellen: Fischarts Ritter von Stauffenberg, die Historia von Melusina in einem der zahlreichen Drucke des 16. Jahrhunderts oder in der Fassung Hans Sachsens, Heinrich Kornmanns Mons Veneris (1614), Garzoni, Boaystuau und Moscheroschs Philander, sind älteren Datums.2

Damit sind nicht einmal alle in diesem Fall von Grimmelshausen verwendeten Titel aufgeführt; solche jüngerer Entstehungszeit wie Petrus Mexias Sylva variarum lectionum (1668) kommen hinzu.

Mittlerweile fällt die Beurteilung des Springinsfeld im Ganzen positiver aus. Exemplarisch für diesen Wandel seien hier nochmals Dieter Breuers Position und Begründung zitiert: „[…] erst in den letzten Jahren“, konstatierte er Anfang der 90er Jahre, „ist der Kunstcharakter dieser Schrift erkannt und gewürdigt worden.“

Was auf den ersten flüchtigen Blick hin als eine Exzerptsammlung aus den Kriegschroniken erscheinen kann, erwies sich als eine sorgsam strukturierte Rahmenerzählung, die über unaufdringliche Bildzeichen die scheinbar unverbundenen Teile aufeinander bezieht und zugleich das Erzählganze im Bild der Winterkälte und der warmen Wirtsstube als einen Diskurs über die Voraussetzungen und den Sinn des Erzählens entfaltet.3

Nur vordergründig sei der Springinsfeld „eine mit vielen historischen Daten angereicherte Soldatengeschichte aus dem Dreißigjährigen ← 16 | 17 Krieg“; auf einer übergeordneten Textebene vollziehe sich „die erzählte Reflexion über das Erzählen als das besondere Signum dieses Autors. Es ist das Ich des Autors, das die Einheit des scheinbar so uneinheitlichen Erzählwerks verbürgt.“4

Breuers kunstfokussierte Interpretation der Simpliciade kann nun von einem unterschiedlichen Ansatz her gestützt werden. Dieser setzt speziell beim Anschein der bloßen „Exzerptsammlung aus den Kriegschroniken“ an. Die inhaltlich-poetologisch inspirierte These Breuers wird auf diese Weise durch eine formal-strukturelle Argumentation ergänzt. Für sie stellt die maximale Verwendung von Vorlagen, die dem Autor bereits den Vorwurf des Plagiators eingebracht hat, keine Beeinträchtigung dar. Vielmehr ist sie ihre Voraussetzung.

II.    Die allegorische Struktur des Titelkupfers des Seltzamen Springinsfeld

Das Resümee des Eingangsgedichts des Seltzamen Springinsfeld, „Daß theils Soldaten jung alte Bettler abgeben“ (Spr 156), korrespondiert in seiner Antithetik sowohl mit dem vollen Titelwortlaut der Simpliciade als auch mit deren voranstehendem Frontispiz. Die graphische Darstellung akzentuiert allerdings den aktuellen Status des Protagonisten (Abb. 1). Spinginsfeld – in der Zentralkomposition des Kupferstichs gewissermaßen monumentalisiert in seiner Vordergrundplatzierung auf einer Art sockelförmigem Erdhügel5 – figuriert als Bettler und weist nur wenige ← 17 | 18 Zeichen seiner ehemaligen militärischen Karriere auf, vornehmlich außer restlichen Uniformteilen seinen Degen am Bandelier. Das Teilmotiv seines rechten Beins, einer hölzernen Prothese, die ein Hund benetzt, kann nicht als Emblem identifiziert werden, tendiert aber als anschauliches Sinnbild der Verachtung bzw. Verächtlichkeit deutlich dorthin. Es erlangt damit ansatzweise allegorische Qualität, zumal das epochenübliche Material des Beinersatzes zusammen mit dem Resonanzkörper der Diskantgeige einen Bildkomplex konstituiert, der in den beiden Baumstämmen des Mittelgrundes der Abbildung aufgegriffen ist und in der Baumreihe im Hintergrund fortgesetzt wird. Er ist bereits von dem bedeutsamen Baumstumpf auf dem Titelkupfer der Courasche her bekannt.6 Die sich vom Betrachter aus nach links erstreckenden dürren Äste des rechten Baums im Mittelgrund sind hervorgehoben (Abb. 2). Zumindest deren obere, geweihartig aus dem Laubwerk herausragende stechen im Wortsinne auch dadurch hervor, dass die vom oberen Bildrand aus nach unten verlaufende horizontale Schraffur im Hintergrund unmittelbar vor der oberen Astspitze ausläuft. Sie schafft damit eine die Profilierung des toten Astes gegenüber der Fülle des Laubes begünstigende Leere des Hintergrundes. Die Deutlichkeit des unteren dürren Geästs wird kaum von der Zeichnung des rechten Bergs beeinträchtigt.7

Im Ergebnis wird das Titelkupfer vollends zur Allegorie, ist doch mit diesem zweigeteilten, d. h. zur Hälfte lebenden, fruchtbaren und zur anderen Hälfte toten, unfruchtbaren Baum das seit der Bibel tradierte Thema des ambivalenten Lebensbaumes evoziert. Bei diesem handelt es sich bekanntlich um einen der beiden Bäume des Paradieses gemäß Genesis I, 2, 9, die überdies typologisch mit dem (hölzernen) Kreuz ← 18 | 19 Christi in Verbindung gebracht werden: „Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerley Bäume lustig anzusehen, und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten, und den Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses.“8 Nach dem Ungehorsam Adams und Evas verfügt Gott, dass der Mensch „nicht breche auch von dem Baume des Lebens, und esse, und lebe ewiglich […]“ (Gen. I, 3, 22). Seither ist dem Leben der Tod unabdingbar implizit. Aber nach christlicher Theologie verbürgt Jesu Kreuzestod dem Gläubigen grundsätzlich das ewige Leben. In Übereinstimmung damit ist am Ende des Neuen Testaments den „Gemeinen“ vom „Geist“ verheißen: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Holz des Lebens, das im Paradies GOttes ist.“ (Ap. 2, 7) Dieser religiöse Gehalt, den programmatisch das Titelkupfer des Springinsfeld am Anfang des Romans zum Ausdruck bringt, ist an dessen Ende mitzubedenken.

Nach frühen um das Kreuz Christi zentrierten Vorformen (lignum crucis/ lignum vitae) ist in der Frühen Neuzeit der Lebensbaum ein beliebtes Sujet in Literatur und bildender Kunst. Ikonographisch wird er naheliegenderweise meist zweigeteilt dargestellt. Während beispielsweise bei Berthold Furtmeyr im Salzburger Missale (15. Jh.) die Laubkrone auf der einen Seite das Kruzifix und auf der anderen Seite einen Totenschädel präsentiert, ist eine Darbietungsvariante verbreiteter: Bei Lucas Cranach d. Ä. und seinem Sohn findet sich dieser Baumtypus in verschiedenen Ausformungen.9 Er ist etwa auch dem Höllenkinder-Kapitel von Moscheroschs Roman Wunderliche und warhafftige Gesichte des Philanders von Sittewald (Ausgabe Frankfurt a. M. 1644) zugeordnet („Fo: 277.“), den Grimmelshausen kannte (Abb. 6). Der Betrachter erkennt hier links einen dürren, unfruchtbaren, d. h. toten Teil und rechts einen belaubten, fruchtbaren, d. h. lebenden.10 Dieses aufs Schema ← 19 | 20 reduzierte Arrangement (Abb. 7) entspricht phänomenal dem des rechten Baumes auf dem Titelkupfer des Springinsfeld. Der simplicianische Autor zeigt sich dabei mit der Wertigkeit der Seiten, d. h. der allegorischen, konkret der tropologisch-moralischen und der echatologischen Signifikanz der Rechts-links-Dichotomie vertraut.11 Er weiß mithin, dass die linke Seite unter allegorischem Aspekt generell die negative ist. Für diese feststehende Zuordnung braucht nur an die Konstellation beim biblischen Jüngsten Gericht erinnert zu werden: Die verworfenen Böcke werden nach links aussortiert, die erwählten Schafe nach rechts.

Das Frontispiz der springinsfeldischen Simpliciade allegorisiert somit deren gesamte Diegese. Der bereits für alle Elemente der Titelei vermerkte Dualismus eines bezeichnenderweise „weiland frischen/ wolversuchten und tapffern Soldaten/ Nunmehro aber ausgemergelten/ abgelebten (!) […] Landstörtzers und Bettlers“ (Spr 155) ist die nicht von ungefähr zeitgemäße Konkretisierung der vom Lebensbaum veranschaulichten oppositionellen Prinzipien des Lebens und des Todes. In diesem Sinne besitzt das Titelkupfer des Seltzamen Springinsfeld diskrete Signalkraft und konventionskonform vorausdeutende Funktion: Nachdem er seine plastische „Lebens-Beschreibung“ abgeliefert hat, stirbt Springinsfeld gemäß dem Bericht des Rahmenerzählers Tromerheim am Ende des Winters, der als letzte, kalte, unfruchtbare und fatale Jahreszeit die ganze Erzählung hindurch als ankündigendes Sinnbild des Todes wirkt.12 Im Endstadium heißt es scheinbar beiläufig, der Protagonist sei ← 20 | 21 „durch Simplicissimum in seinen alten Tagen gantz anders umbgegossen und ein Christlichs und bessers Leben zuführen bewögt worden […]“ (Spr 294–295). Der Leser lernt Springinsfeld in dieser Simpliciade kennen, als er sich auf dem „linken Weg“, sozusagen auf der Seite der toten Äste, bewegt; doch trotz seiner dominierenden Verstocktheit13 kann er sich noch zum Schluss nach „rechts“ begeben, d. h. bekehrt werden. Er hat so nach den Verheißungen des Neuen Testaments gerade als schlimmer Sünder die Chance auf das ewige Leben gewahrt. Er bleibt damit hinter der entschlossenen und konsequent durchgehaltenen Trotzhaltung der Courasche, die ausdrücklich auf das „ewige Leben“ verzichtet, nicht nur graduell zurück. Zu dieser ,christlichen‘ Auslegung passt der zweite große Baum des Frontispizes, der zusammen mit dem Baum des Lebens die Gestalt des Titelhelden auffällig flankiert, aber offenbar keine pragmatisch zu erklärende Funktion besitzt. Er ist nicht prononciert als Apfelbaum ausgewiesen, ohne dass bei genauem Zusehen diese Bestimmung ausgeschlossen werden muss: Anders als beim korrespondierenden Baum lassen sich bei ihm kleine runde Formen erkennen. Es handet sich in Übereinstimmung mit der Didaxe der Simpliciade um den an passender, bei den Cranachs denn auch konstant vorfindlicher, Stelle platzierten Baum der Erkenntnis. Der Protagonist „zaig[t] der gantzen Welt“ (Spr 156) schließlich den existenziell wichtigen Unterschied zwischen Gut und Böse und fordert den Leser implizit zur Wahl auf. Der „abenteurliche Springinsfeld“ (Spr 295) seinerseits hat die richtige Entscheidung gerade noch rechtzeitig getroffen. Unter diesem tropologisch-eschatologischen Aspekt bildet den „gantz anders umbgegossene[n]“ (Spr 295) armen Sünder das Titelkupfer gleichsam als Geretteten im Garten des Paradieses ab, das von den beiden bedeutsamen Bäumen signalisiert wird.

Die das Frontispiz der Simpliciade fast gänzlich ausfüllende Gestalt Springinsfelds trägt einen Mantel, der vollständig aus genau markierten Flicken besteht. Deren punktierte Nähte setzen sich zeichnungstechnisch in den Ackerfurchen bzw. Grenzlinien der Felderparzellen und an den Gebirgshängen des Abbildungsfonds fort und werden auf diese Weise ← 21 | 22 betont. Es fragt sich, ob im Kontext der allegorisch strukturierten pictura diesem in jeder Beziehung zentralen Kleidungsstück ebenfalls ,höhere‘ Signifikanz zukommt.

III.   Zwei Flickenmäntel: Continuatio und Seltzamer Springinsfeld

Der exponierte Flickenmantel besitzt in der Continuatio einen Vorgänger.

Auf einem Schweizer Adelssitz befreit Simplicissimus den Schlossherrn von einer drückenden Gespensterplage. Die angebotene Belohnung lehnt der Pilger um seines Armutsgelübdes willen ab, lässt aber seinen „Rock füttern weil es jetzt auf den Winter loß gehet […]“.14 Ein ihn begleitender Botenläufer, der sich schließlich als Abgesandter des dankbaren Schweizers zu erkennen gibt, klärt ihn andeutungsweise auf:

[…] wolan dann werther Simplici, ob ihr zwar jetzt nicht glauben möchtet/ wie hertzlich gern euch mein Herr guts thun möchte/ so werdet ihrs jedoch erfahren/ wann euch das Futer [!] im Rock zerbricht/ oder ihr denselben sonst außbesseren wolt […] (Co 648).

Der Protagonist hängt verschiedenen Möglichkeiten der pragmatischen Deutung dieser Information nach, verwirft sie jedoch und gelangt zu dem Schluss: „[…] es stecket etwas anders darhinder […].“ (Co 649). Er untersucht das Kleidungsstück, dessen Gewicht ihn bisher nicht irritiert hat, und findet, dass der Schlossherr „unter die Näth eine Ducat an die ander hatte nähen lassen […]“ (Co 649). Beunruhigt über diesen, wenngleich unwissentlichen, Verstoß gegen seine Selbstverpflichtung, erwägt er für die Münzen allerlei weltliche Verwendungszwecke, „[…] aber endlich beschlosse ich/ durch solche Mittel Jerusalem zubeschauen/ welche Raiß ohne Geld nicht zuvollbringen.“ (Co 649). Die profan-banale Erläute ← 22 | 23 rung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Simplicissimus ein gleichsam spirituelles Ziel im Einklang mit seiner aktuellen frommen Einstellung setzt:

Simplicissimus greift im Besitz des Geldes des Schweizers diesen Vorsatz auf und möchte nach der religiös bedeutsamen Zwischenstation Rom den heiligen Ort der Christenheit, Jerusalem, besuchen. Vorgeschaltet ist noch ein Aufenthalt in Loreto, das schon zu Grimmelshausens Zeiten neben dem Petersdom der zweitwichtigste Wallfahrtsort in Italien und einer der wichtigsten der Katholiken war. Derart entschlossen, rettet der Pilger seinen Schatz durch viele Gefahren bis zu seinem Schiffbruch.

Der Mantel des armen Bettlers Simplicius verbirgt also Gold, die minderwertige Hülle einen wertvollen Inhalt mit erheblichem Potenzial. Damit reiht sich das gefütterte Oberkleid in eine Reihe von „Deutbildern“ (Hubert Gersch) ein,15 zu denen die Pflaumen mit ihren Steinen im Ewig-währenden Calender,16 die überzuckerten Pillen, die Hülsen samt ihren Kernen in der „Kleine[n] Vorrede“ der Continuatio sowie die Pflaumen, Pfirsiche und unter dem Laub verborgenen Früchte später im VI. Buch gehören.17 Exemplarisch erhellen Signifikanz und Funktionsweise dieser „Deutbilder“, wenn sich Grimmelshausen über seine poetologisch-didaktischen Absichten im sogenannten Pillen-Gleichnis äußert: „[…] daß ich aber zu zeiten etwas possierlich auffziehe/ geschiehet der Zärthling halber/ die keine heilsame Pillulen können verschlucken/ sie seyen dann zuvor überzuckert vnd vergült […].“ (Co 563). Dabei ist zu beachten, dass Vergoldung, d. h. Einkleidung, nicht gleich Gold, d. h. Kern, ist, wie die Vorrede im gleichen wirkungsästhetischen Argumenta ← 23 | 24 tionszusammenhang ausfuhrt: Der fiktive Autor habe sich beim Abfassen des Simplicissimus Teutsch stilistisch und inhaltlich nach den Bedürfnissen und Erwartungen des Lesepublikums gerichtet:

Außer bei dem sexuell konnotierten Steinobst der Pflaumen im Kalender als gewissermaßen simplicianischem „Ausrutscher“ geht es somit bei den „Deutbildern“ um die didaktisch kalkulierte Verhüllung eines ideellen Inhalts unterschiedlicher Art. Eine Metapher für diesen Kern ist das Gold wie im Falle von Simplicius’ Mantel in der Continuatio, die die überwiegende Anzahl dieser hermeneutisch relevanten Paradigmen enthält. Selbst als bloßes Metall transzendiert es die Eigenschaft des bloß Materiellen um des höheren Zweckes willen, hier: der Pilgerreise nach Jerusalem.

Grimmelshausen verknüpft nun den allegorisch fungierenden Mantel in der Continuatio mit dem Springinsfeld – nicht zwar direkt mit seinem Pendant auf dessen Titelkupfer, wohl aber mit der öffentlichen Gaukeltaschen-Präsentation. Eine Verbindung von Mantel zu Mantel wäre ,handwerklich‘ schwierig gewesen, da Springinsfelds Kleidungsstück lediglich ikonographisch und allenfalls in vager narrativer Umschreibung präsentiert wird.18 Sie hätte obendrein dem Leser – trotz der allegorischen Struktur des Titelkupfers des achten Zyklus-Buches als Rezeptionsmatrix – keine Garantie für ein gesichertes Verständnis von dessen Flickenmantel geboten. Es hätte nämlich der unübersehbare und unmissverständliche Fingerzeig für eine solche allegorische Korrespondenz zwischen zwei nicht unmittelbar benachbarten Werken gefehlt. Der Autor wählt daher ein klares und eindeutiges Signal für diesen punktuellen Zusammenhang zwischen Continuatio und Springinsfeld, indem er seiner Titelfigur in Bezug auf das allegorische, ebenfalls intermittierend als „Deutbild“ fungierende Objekt Gaukeltasche das Echo von Simplicissimus’ beredter Formel im sechsten Buch in den Mund legt: „[…] es steckt etwas darhinder […]“ (Spr 205). Diese Formulierung greift eklatant jene andere „[…] es stecket etwas anders darhinder […]“ (Co 649) ← 24 | 25 auf. Und Springinsfeld fügt obendrein unter Verwendung des hermeneutischen Schlüsselverbs den Relativsatz hinzu: „[…] das ich nicht verstehe […]“ (Spr 205). Der aufmerksame Leser kann somit den Brückenschlag zwischen dem allegorischen Modell des Mantels in der Continuatio und der explizit als allegorisch ausgewiesenen Gaukeltasche im Springinsfeld unschwer erkennen. Mittels des nahezu identischen Wortlauts beider Sätze wirkt sich der auf den Mantel in der Continuatio bezogene schließlich auf den gleichartigen Mantel im Springinsfeld aus. Das erkenntnispraktische Manöver im Zeichen der Allegorese gelingt nicht zuletzt darum, weil Simplicissimus dem begriffsstutzigen, doch unbewusst hellsichtigen ehemaligen Kameraden das Verfahren der Auslegung der ,Tasche‘ in einer eindringlichen Paränese vorexerziert:

Zu Simplicissimus’ Überraschung erweist sich Springinsfeld als gelehriger Schüler auf diesem Exegesegebiet, wenn er etwa die Studenten daran erinnert, dass „glatt und unbeschrieben wie diß weisse Papier […] euere Seelen erschaffen und in diese Welt kommen“ (Spr 207), aber durch Missbrauch korrumpiert worden seien.

Grimmelshausen ist darüber hinaus intensiv darum bemüht, sein Konzept der Ähnlichkeit des Flickenmantels Springinsfelds mit Simplicissimus’ gefüttertem Mantel dem Leser überzeugend zu vermitteln. Dieser soll eben beide Kleidungsstücke als verwandte „Deutbilder“ begreifen. Der Autor lässt daher den alten „Krontzer“, der „zimlich schlecht auf den Winter gekleidet“ (Spr 168–169) ist, in einer erzählpragmatisch wenig motivierten Szene Simplicissimus und die Gruppe in der Gaststube mit unerwartetem Reichtum verblüffen. Springinsfeld zieht nämlich, an Simplicissimus gewandt,

Auch wenn sich Simplicissimus von dem Vorgang unbeeindruckt gibt – Springinsfeld solle das Geld ruhig wieder einstecken, „weil er dergleichen wohl mehr hätte gesehen“ (Spr 170) –, ist er auf dem Hintergrund der Allegorik des Erzählten bedeutsam. Beispielsweise könnten die Worte des früheren Kameraden eine Anspielung auf die Goldmünzen in seinem Mantel in der Continuatio sein. Beides mal würde es sich, nicht ganz selbstverständlich, um Dukaten handeln, die im ersteren Falle wörtlich als Wegbereiter von Simplicissimus’ Pilgerreise nach Jerusalem gedacht sind. Springinsfelds Geste des Aufknüpfens des Lumpens, der nach Konsistenz und Größe einem der Flicken seines Mantels entsprechen dürfte, legt die darin enthaltenen Goldmünzen frei und demonstriert damit im anschaulichen Bild den Dechiffrierungsakt der Allegorese. Die auf den gleichermaßen zerlumpten Mantel zielende Suggestion ist nicht zu verkennen. Allerdings kommt diese Handlung, ist der erste Deutungssschritt einmal vollzogen, einem Ausschlussverfahren gleich: Der zunächst verhüllte Inhalt ist im Falle des Lumpens das Gold; dieses kommt also – über einen weiteren Schatz verfügt Springinsfeld nicht – als ,Futter‘ des auf dem Titelkupfer abgebildeten Flickenmantels nicht mehr oder höchstens metaphorisch in Betracht. Die Verschiebung vom Literalsinn des wertvollen Metalls zu seiner übertragenen, spirituellen Signifikanz hat Simplicissimus’ Zweckbestimmung einer sonst unerschwinglichen Reise an die heiligen Stätten dem Leser eindringlich vor Augen geführt. Kann mithin auf Grund mehrerer erzählerischer Hinweise die allegorische Bedeutung des in zweifacher Hinsicht groß auf dem Titelkupfer herausgestellten Flickenmantels als ausgemacht gelten, bleibt unabweislich die Frage, was das Kleidungsstück verberge. Es kann einmal mehr, generell gesprochen, etwas Ideelles vermutet werden, nachdem das schiere Metall im Lumpen ausscheidet.

IV.  Der Begriff des Cento – Idealtypus und literarische Praxis

Details

Seiten
480
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035109283
ISBN (ePUB)
9783035196191
ISBN (MOBI)
9783035196184
ISBN (Paperback)
9783034321006
DOI
10.3726/978-3-0351-0928-3
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
simplicisimus judentum grimmelshausen
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 480 S.
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Titel: Simpliciana
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