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Moskau – Das Dritte Rom?

Einflüsse der italienischen Renaissance auf die russische Kunst der Frühen Neuzeit. Reiseberichte als eine Quellengattung der Kunstgeschichte

von Anna Szech (Autor:in)
©2016 Dissertation 298 Seiten

Zusammenfassung

Kaum ein anderes architektonisches Ensemble wirkt in seiner Gesamterscheinung russischer als der Gebäudekomplex des Moskauer Kreml. Interessanterweise wurden seine prominentesten Bauten nicht von einheimischen, sondern von italienischen Architekten errichtet, die der Einladung russischer Grossfürsten folgten und in den Jahren zwischen 1470 und 1520 in Moskau tätig waren. Anhand ausführlicher Analysen dieser und weiterer bedeutenden Sakralbauten Russlands wird der Frage nachgegangen, in welchem Umfang das kulturelle Selbstverständnis der Russen den Anschluss an die von Italien ausgehende und sich in ganz Europa ausbreitende Renaissancebewegung erlaubte.
Ein Kapitel über eine seltene Ikonenreihe, die bestimmten Kanons westeuropäischer Ikonographie unterliegt, gewährt einen Einblick in die zweite wichtige Gattung russischer Kunst dieser Zeit – die Ikonenmalerei.
Als Sekundärquelle werden einige, der westlichen Forschung bis jetzt kaum zugängliche Berichte russischer Reisenden des 15. und 16. Jahrhunderts über Florenz und Rom herangezogen, neu übersetzt und ausgewertet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • 1. Der architektonische Stil des Moskauer Kreml: Altrussische Tradition oder Tendenzen der italienischen Renaissance?
  • 2. Reiseberichte als Quellengattung der Kunstgeschichte. Aktuelle Forschungslage
  • 3. Methodische Überlegungen
  • 4. Aufbau der Arbeit
  • II. Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Russland zwischen Ost und West. Reisen als soziales und literarisches Phänomen
  • 1. Der Altrussische Staat. Ein historischer Überblick
  • 2. Geistig-philosophische Haltung im Russland des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
  • 3. Reisepraxis im Russland des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Russische Reiseliteratur als literarische Gattung
  • III. Die Reise zum Florentiner Konzil eines Unbekannten aus Suzdal’, 1438
  • 1. Reiseumstände und Dokument
  • 1.1 Zum Textinhalt allgemein
  • 1.2 Darstellung der Architektur von Florenz
  • 1.3 Darstellung der Architektur von Venedig
  • 2. (Fremd-)Wahrnehmung des russischen Reisenden: ein Rückblick auf seine Heimat und die Kunst und Architektur des Fürstentums Vladimir-Suzdal’
  • 3. Charakteristik der Kunstbeschreibungen
  • 3.1 Architekturbeschreibungen
  • 3.2 Fresken, Mosaiken
  • 3.3 Tafelbilder
  • 3.4 Skulpturen
  • 4. Abendländische und russische Traditionen der Kunst- und Architekturbeschreibungen
  • 4.1 Tradition der abendländischen Architekturbeschreibungen
  • 4.2 Tradition der abendländischen Bild- und Skulpturenbeschreibungen
  • 4.3 Kunst- und Architekturbeschreibungen in altrussischen literarischen Quellen
  • 4.4 Russische Sicht auf die Architektur Italiens im Vergleich zur zeitgenössischen westeuropäischen Betrachtungsweise
  • IV. Eine Kurzbeschreibung von Rom, 1438
  • 1. Führen alle Wege nach Rom?
  • 2. Römische Kunstdenkmäler in den Augen des russischen Reisenden
  • 3. Charakteristik der Architekturbeschreibungen
  • 4. Eine Kurzbeschreibung von Rom im Vergleich zu zeitgenössischen abendländischen Berichten über Rom. Antikenwahrnehmung der frühneuzeitlichen Rombesucher
  • V. Moskau – das „Dritte Rom“ oder das „Zweite Vladimir“?
  • 1. Das Konzept der drei „Rom-Staaten“ und seine Auslegung im Moskauer Reich der Frühen Neuzeit
  • 2. Italienische Architekten im Moskauer Kreml: Was bauten sie nach, das „Dritte Rom“ oder das „Zweite Vladimir“?
  • VI. Eine Erzählung über die Gottesmutter von Loreto, verfasst im Jahre 1528 von Eremej Trusov, dem Gesandten von Vasilij III.
  • 1. Die Reliquie von Loreto und der russische Reisebericht
  • 1.1 Die Basilika di Santa Casa
  • 1.2 Das Dokument und sein Inhalt
  • 2. Der Ikonentypus Gottesmutter Mehrung des Verstandes. Ikonographische Analyse
  • 3. Russische Gottesmutter versus italienische Madonna
  • 3.1 Ikonographische Traditionen der Madonna von Loreto in der westlichen Kunst
  • 3.2 Umsetzung der Loreto-Ikonographie in russischen Ikonen
  • 3.3 Die Rolle der Schrift für das neue ikonographische Programm der Ikonen: Bild- und Architekturbeschreibungen im Reisebericht von Eremej Trusov
  • 4. Mehrung des Verstandes-Ikonen im Kontext der Moskauer Ikonenmalerei des 16. Jahrhunderts. Elemente abendländischer Ikonographie in der russischen Ikonenmalerei der Frühen Neuzeit
  • 4.1 Die Moskauer Ikonenschule im 14. und im 15. Jahrhundert
  • 4.2 Die Moskauer Ikonen des 16. und 17. Jahrhunderts
  • 4.3 Innovationen der Novgoroder Ikonenmalerei
  • 4.4 Die Gottesmutter Mehrung des Verstandes als seltenes Beispiel einer künstlerischen Öffnung
  • VII. Schlusswort
  • VIII. Bibliographie
  • IX. Die Quellen
  • X. Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

I.   Einleitung


1.   Der architektonische Stil des Moskauer Kreml: Altrussische Tradition oder Tendenzen der italienischen Renaissance?

Kaum ein anderes architektonisches Ensemble wirkt in seiner Gesamterscheinung russischer als der Gebäudekomplex des Moskauer Kreml. Interessanterweise wurden seine prominentesten Bauten Uspenskij Sobor – die Mariä-Entschlafens-Kathedrale (1475–1479) (Abb. 1), Granovitaja Palata – der Facettenpalast (1487–1491) (Abb. 2) und Arhangel’skij Sobor – die Erzengel-Michael-Kathedrale (1505–1508) (Abb. 3) nicht von einheimischen, sondern von italienischen Architekten im Auftrag der Moskauer Grossfürsten errichtet.1 Die Baumeister Aristotele Fioravanti, Marco Ruffo, Pietro Antonio Solari, Aloisio Lamberti da Montagnana sowie einige andere folgten der Einladung von Ivan III., der im Jahr 1462 zum Grossfürst von Moskau wurde und nun wünschte, dass seine Residenz – der Kreml – durch neue Architektur ein angemessenes repräsentatives Aussehen erhielte.2 Das russische Wort kreml’ bezeichnet den befestigten Teil einer mittelalterlichen Stadt, der sich zumeist auf einer strategisch günstig gelegenen Stelle – auf einem Hügel oder an einem Fluss- oder Seeufer – befand und zusätzlich durch hohe Festungsmauern geschützt wurde. Solche Kreml-Festungen beherbergten die wichtigsten sakralen Errichtungen einer Stadt, Fürstenpaläste und Wohnsitze kirchlicher und weltlicher Würdenträger. Der Moskauer Kreml war im 15. Jahrhundert nicht der einzige russische Kreml, denn beinahe jede russische Stadt hatte ein solches aus Holz oder Stein errichtetes Befestigungswerk vorzuweisen. Zu den bekanntesten zählten dabei die Kreml-Festungen von Vladimir, Novgorod und Pskov. ← 11 | 12 → Der besondere Status des Kreml von Moskau, den dieser seit dem 14. Jahrhundert innehatte, liess sich aus der politischen Vorrangstellung der Stadt ableiten. Dem Fürstentum Moskau, das zu den jüngsten Fürstentümern im frühneuzeitlichen feudal-zersplitterten Russland zählte – die erste schriftliche Erwähnung der Stadt geht auf das Jahr 1147 zurück3 und die Dynastie der Moskauer Fürsten wurde erst an der Wende zum 14. Jahrhundert gegründet4 –, ist es im Laufe des 14. Jahrhunderts gelungen, zum bedeutendsten Machtzentrum innerhalb des Landes aufzusteigen. Seit 1389 trugen die Fürsten von Moskau in der Nachfolge der Herrscher von Kiev und Vladimir den Grossfürsten-Titel und beanspruchten somit die führende Rolle im ganzen Land. Die Erweiterung und Neubebauung des Kreml als Ort, an dem von nun an die neuen Herrscher des ganzen Reiches residierten, war daher kein gewöhnliches, sondern ein bewusst geplantes Unternehmen. Und ursprünglich war es nicht beabsichtigt, fremdländische Bauleute mit einer solch würdigen Aufgabe zu betrauen. Im Gegenteil, man wandte sich zunächst an russische Baumeister. Diesen mangelte es zum damaligen Zeitpunkt ← 13 | 14 → jedoch an bautechnischem Wissen: Die neuen Kreml-Kirchen sollten deutlich grösser ausfallen als es in Russland bis dahin üblich gewesen ist; die Bautradition in Stein war jedoch wegen der mongolisch-tatarischen Invasion seit Mitte des 13. Jahrhunderts so gut wie im ganzen Land zum Stillstand gekommen. Die beiden ersten Versuche, das Gebäude der Mariä-Entschlafens-Kathedrale – der wichtigsten Kirche am Kreml-Gelände – zu errichten, scheiterten. Der erste Vorgängerbau der heutigen Kathedrale aus den 1320er Jahren war schon einige wenige Jahrzehnte nach seiner Errichtung baufällig geworden.5 In den 1470er Jahren beauftragte Ivan III. zwei Baumeister aus Pskov mit dem Neubau. Diesem zweiten Versuch war ebenfalls kein Erfolg beschieden: Das 1472 anstelle der alten Kirche errichtete Gebäude fiel noch während der abschliessenden Bauarbeiten ineinander. Und obwohl die offiziellen Moskauer Instanzen die Schuld an diesem Unglück einem Erdbeben gaben,6 war die Geduld des Grossfürsten am Ende. Nun sollten Baumeister aus Italien anstelle der Russen die Leitung seiner Bauprojekte übernehmen. Einige der nach Moskau eingeladenen Italiener galten als die bekanntesten Bauingenieure ihrer Zeit. So soll der Erbauer des heutigen Gebäudes der Mariä-Entschlafens-Kathedrale Aristotele Fioravanti sechs Jahre im Dienst der Mailänder Sforza gestanden haben,7 die als grosszügige Kunstförderer und Bau-Auftraggeber auftraten. 1455 beteiligte sich Fioravanti an der Versetzung des Glockenturmes der Kirche S. Maria Maggiore in Bologna.8 Auch soll er zeitweilig zusammen mit Filarete und Alberti gearbeitet haben9. Wofür die Russen mehrere Jahrzehnte gebraucht hatten, gelang Fioravanti schliess-lich in nur vier Jahren: die Bauarbeiten an der Mariä-Entschlafens-Kathedrale dauerten von 1475 bis 1479. Für die Schnelligkeit und Qualität seiner Arbeit wurde Fioravanti so bewundert, dass seine italienischen Kollegen ihm den Beinamen Aristotele verliehen, der dann von den Russen übernommen wurde.10 ← 14 | 15 → Pietro Antonio Solari, der Erbauer des Facettenpalastes und ein gebürtiger Tessiner, stammte aus einer Architekten-Familie. Zusammen mit seinem Vater Guiniforte Solari, der vom Mailänder Fürstenhaus als Architekt verpflichtet wurde, beteiligte er sich unter anderem an den Bauarbeiten am Mailänder Dom.11 Zu Marco Ruffo sind nur wenige Informationen überliefert, man weiss jedoch, dass er ebenfalls in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeitweilig als Militär-Ingenieur in Mailand tätig war.12

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Abb. 1: Aristotele Fioravanti, Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Moskauer Kreml, 1475-1479.

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Abb. 2: Marco Ruffo, Pietro Antonio Solari, Facettenpalast, Moskauer Kreml, 1487-1491.

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Abb. 3: Aloisio Lamberti da Montagnana, Erzengel-Michael-Kathedrale, Moskauer Kreml, 1505-1508.

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Abb. 4: Unbekannter Baumeister, Glockenturm, Moskauer Kreml, 1505-1508.

Neben den drei zu Beginn genannten Bauwerken errichteten italienische Baumeister auch weitere sakrale und profane Gebäude am Kreml-Gelände. Dazu zählen ein Glockenturm neben der Erzengel-Michael-Kathedrale (zwischen 1505 und 1508 erbaut)13 (Abb. 4), Festungstürme und Festungsmauer sowie das fürst ← 15 | 16 → liche Palastensemble, von dem heute nur noch der Facettenpalast erhalten geblieben ist.14 Alle diese Bauten sind in einem relativ kurzen Zeitraum entstanden: Das 1475 begonnene Gebäude der Mariä-Entschlafens-Kathedrale stellte das erste Bauunternehmen der Italiener dar. Zu den letzten Bauaufträgen zählte die Ausführung einer Brücke zwischen Troickaja und Kutaf’evskaja – dem Dreifaltigkeitsturm und dem Kutafjaturm – im Jahr 1516, die vom Architekten der Erzengel-Michael-Kathedrale Aloisio Lamberti da Montagnana umgesetzt wurde.15 Diese letzten baulichen Vorhaben wurden schon unter Ivans Nachfolger – dem Grossfürsten Vasilij III. (Regierungszeit 1505 bis 1533) realisiert. Ivan III. war bereits 1505 verstorben.

Diese vierzig Jahre an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zählen zu den bedeutendsten und produktivsten Kapiteln in der russischen Architekturgeschichte und sind in der internationalen Forschung ausführlich untersucht worden. Die wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit nachweisen lassen, reichen dabei von Beiträgen in Form von Einzelkapiteln in den Publikationen zur russischen Kunst- und Architekturgeschichte allgemein16 bis zu monographischen Studien, die explizit ← 16 | 17 → der Kunst und Architektur des Kreml gewidmet sind17. Beim Aufarbeiten dieses reichhaltigen Textkorpus fällt auf, dass der Beitrag italienischer Baumeister zur architektonischen Gestaltung des Moskauer Kreml und ihr Einfluss auf die weitere Entwicklung russischer Architektur sehr unterschiedlich bewertet werden.18 Die Positionen reichen dabei vom konsequenten Verzichten auf die Nennung italienischer Architekten über die Behandlung dieser Periode russischer Kunst als einen mehr oder weniger eigenständigen Abschnitt russischer Kulturgeschichte, der abseits der zeitgenössischen europäischen Kunstströmungen stattfand, bis zu den Versuchen, grundsätzliche Veränderungen in der russischen Architektur durch die Einführung von Baunormen der italienischen Renaissancearchitektur nachzuweisen. Die Unterschiedlichkeit der Bewertungen reicht dabei über Generationen- und Landesgrenzen hinweg. Als einzelne Positionen seien hier folgende Forscher genannt: In der 1962 erschienenen kulturgeschichtlichen Studie über die osteuropäische Frührenaissance, im Abschnitt über russische ← 17 | 18 → Baukunst des 15. Jahrhunderts macht der Autor, der auch im Westen sehr gut bekannte russische Philologe und Kunsthistoriker Dmitrij Lichatschow, keinerlei Verweise auf die in Russland tätigen italienischen Baumeister.19 Edith Neubauer, deutschsprachige Autorin von Publikationen zur Kunst und Architektur Russlands und des Kaukasus’, beschränkt sich in ihrer Arbeit von 1988 schlicht auf die namentliche Nennung der italienischen Architekten bei der Gestaltung des Kreml.20 Der stilistische Einfluss wird kaum hinterfragt. Die angesehenen russischen Kunsthistoriker vom Beginn des 20. Jahrhunderts Igor’ Grabar’ und Viktor Nikol’skij sowie die prominenten Kunstforscher der zweiten Jahrhunderthälfte Mihail Alpatov, Dmitrij Zarab’janov und Mihail Allenov bewerten die Bautätigkeit der Italiener im Kreml dagegen eher neutral.21 In ihren Beiträgen wird der Akzent vor allem auf die technischen Innovationen der ausländischen Baumeister gesetzt.

Es gibt aber auch eine Reihe von Studien, die schon im Titel die Positionen ihrer Autoren deutlich erkennen lassen: Die baukünstlerische Tätigkeit in Moskau an der Wende zum 16. Jahrhundert wird von ihnen als ein Teil der allgemeinen europäischen Renaissancebewegung angesehen.22 Hier wird vor allem die „Einführung“ der europäischen Renaissanceelemente in die russische Architektur betont. Es fällt jedoch auf, dass die Autoren sich dabei nur auf den oben genannten Zeitabschnitt, also auf die 1470er bis 1500er Jahre konzentrieren. Die Fragen zur Einstellung der Russen gegenüber der italienischen Renaissancearchitektur vor der Ankunft der Italiener in Moskau, in welchem Umfang die Einführung baulicher Renaissancenormen von den russischen Auftraggebern gewünscht wurde und ob manche dieser übernommenen Elemente zu einem ← 18 | 19 → festen Bestandteil russischer Architektur in der Zeit nach 1500 geworden sind, werden ausgeklammert.

Das Bestreben, die Rolle für und den Einfluss der italienischen Baumeister auf die russische Architektur der Frühen Neuzeit kunsthistorisch zu definieren, erscheint dabei mehr als begründet. Die Epoche der Renaissance, die ihren Anfang im Italien des 14. Jahrhunderts mit Petrarca und Giotto nahm und im Laufe des 15. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen auf den Gebieten der italienischen „Malerei und Musik, Skulptur und Architektur, Natur- und Geschichtsforschung, Philologie und Poesie“23 führte, ist um 1500 zum allgemeinen europäischen kulturellen und künstlerischen Phänomen geworden. Sie machte sich in vielen Bereichen der Kunst und Architektur auch in Mittel- und Osteuropa bemerkbar, wobei es, wie Erwin Panofsky es ausdrückte, merkliche „Unterschiede in der Weise, wie die einzelnen Länder auf das neue Evangelium reagierten“24, gab.

Zu einem der wichtigsten Postulate der Renaissanceästhetik wurde die Antikenrezeption und Orientierung an antiken Vorbildern, die im Italien des 15. Jahrhunderts zunächst in der Gattung der Architektur „von den Grundrissen bis zum einzelnen Ornament“25 sichtbar wurde. Dass die Umsetzung antiker Ideale anfangs in der Architektur stattfand, lag daran, dass die Beispiele antiker Baudenkmäler, an denen die italienischen Baumeister des 15. Jahrhunderts den neuen Architekturstil entwickeln konnten, in ihrem eigenen Land im Überfluss vorhanden waren.26 Um die Jahrhundertmitte veranschaulichten die Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti und Antonio Averlino, genannt Filarete, die Lehre über die Masse, Proportionen und Bautypen antiker Architektur in ihren architekturtheoretischen Überlegungen De re aedificatoria libri decem und Libro architettonico.27 ← 19 | 20 →

Aristotele Fioravanti und Pietro Antonio Solari, die zu den wichtigsten der in Moskau tätigen italienischen Baumeistern gezählt werden dürfen, waren nicht nur hervorragende Bauingenieure. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass sie mit den erwähnten theoretischen Werken beziehungsweise den darin erläuterten Ideen vertraut waren: Fioravanti soll mit Alberti zeitweilig zusammengearbeitet haben28 und Pietro Antonio Solaris Vater Guiniforte wurde als Nachfolger Filaretes mit der Bauleitung am Mailänder Dom sowie am Ospedale Maggiore in Mailand beauftragt,29 einem Bau, der als eines der ersten Beispiele der Renaissancearchitektur in der Lombardei gilt.30 Pietro Antonio hatte seinem Vater bei beiden Projekten assistiert.31 Daher wäre es eine logische Schlussfolgerung gewesen, hätten Fioravanti und Solari versucht, das in der Heimat erworbene Wissen, das bereits durch einige praktische Erfahrungen bestätigt wurde, bei den Neubauten des Moskauer Kreml umzusetzen, so dass die von ihnen errichteten Gebäude den Baunormen der italienischen Renaissance entsprachen. Mehr noch, man müsste sogar annehmen, dass die Russen sie gerade deswegen nach Moskau einluden. Denn wenn es nur um bautechnische Probleme gegangen wäre, wären die Russen nicht unbedingt auf die Hilfe der Italiener angewiesen gewesen. Sie hätten sich auch an Baumeister aus dem südslawischen Raum, zum Beispiel aus Bulgarien oder Serbien, wenden können. Mit den Ländern der griechisch-orthodoxen Konfession bestanden bereits jahrhundertelange Beziehungen. Auch stilistisch gesehen käme die Arbeit der orthodoxen Baumeister dem russischen Geschmack näher. In Moskau bemühte man sich aber um die italienischen Bauleute und scheute dabei weder Mühe noch Kosten. In der so genannten Sophien-Staatschronik ist der Bericht des Gesandten von Ivan III. Semen Tolbuzin aus dem Jahr 1475 überliefert.32 Das Hauptziel dieses diplomatischen Reisezugs, der am 24. Juli 1474 Richtung Venedig aufbrach, bestand darin, italienische Baumeister für die Neubebauung des Moskauer Kreml anzuwerben. Einen Grossteil seines Berichts nehmen Tolbuzins Verhandlungen mit Aristotele Fioravanti ein. Ausführlich werden darin die Schwierigkeiten dieser Unterredung geschildert: Fioravanti sei in Italien ein angesehener und berühmter Baumeister ← 20 | 21 → und werde von Venezianern sehr hoch geschätzt. Nur gegen ein immenses Gehalt von zehn Rubel pro Monat (für zwei bis drei Rubel konnte man damals in Russland ein ganzes Dorf erwerben)33 sei es Tolbuzin gelungen, Fioravanti zur Reise nach Moskau zu überreden. Im Jahr 1482 wurden russische Diplomaten sogar zweimal nach Italien entsandt; mit der zweiten Gesandtschaft soll zum Beispiel Marco Ruffo nach Russland gekommen sein.34

So bekommt die Tatsache, dass die Russen zum Erbauen ihrer Kirchen katholische Architekten einluden, ein besonderes Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass die Beziehungen zwischen Russland des 15. Jahrhunderts und seinen westlichen Nachbarn – insbesondere mit Italien als dem Sitz der Kurie – sehr angespannt waren. Russland war durch das einstige Glaubensbekenntnis zu Byzanz vom europäischen und (aus orthodoxer Sicht) häretischen Westen geistig und kulturell getrennt. In der Mitte des 15. Jahrhunderts verschärfte sich diese Lage noch mehr: Nach den Ereignissen des Florentiner Konzils (1437 bis 1439) und nach dem Fall von Konstantinopel 1453 betrachteten sich die Russen als Vertreter des einzig wahren und des einzig möglichen orthodoxen Glaubens.35 Die Tatsache, dass sie sich über alle konfessionellen Streitigkeiten hinwegsetzend an die italienischen Architekten wandten, kann also nur als Wunsch Moskaus gedeutet werden, sich den künstlerischen Entwicklungen der europäischen Renaissance anzuschliessen. Und dennoch zeugt das unverwechselbar russische architektonische Erscheinungsbild des Moskauer Kreml vom Gegenteil! Die russischen Auftraggeber scheinen keine italienische Renaissancearchitektur gewollt zu haben. Im Gegenteil, das äussere Erscheinungsbild legt nahe, dass sie grossen Wert auf das Bewahren der altrussischen baulichen Tradition legten.

Die in der internationalen kunsthistorischen Forschung seit mehreren Jahrzehnten diskutierte Frage, wie nun die Haltung im frühneuzeitlichen Russland zu der sich in ganz Europa verbreitenden Renaissanceströmung zu bestimmen ist, lässt sich tatsächlich schwer beantworten. Angesichts der grossen Zahl der bereits vorliegenden Studien erscheint die genannte Zeitspanne russischer Kunst und Architektur zwischen 1470 und 1500 bereits gut aufgearbeitet und eine weitere ← 21 | 22 → Untersuchung nicht zwingend notwendig. Es soll hier jedoch versucht werden, etwas Licht in die Problematik zu bringen, indem der Blick auf die Jahrzehnte gelenkt wird, die dem Schaffen der Italiener in Moskau vorausgingen, sowie auf die Zeit unmittelbar nach dem Ende ihres Wirkens. Durch die Untersuchung gerade dieser Zeitabschnitte liessen sich einige für die interkulturellen Beziehungen sowie für den künstlerischen Austausch zwischen Russland und Italien der Frühen Neuzeit ausschlaggebende Aspekte beleuchten: Was wusste man im frühneuzeitlichen Russland über italienische Kunst und Architektur vor der Ankunft der Italiener in Moskau? Kann dieses Wissen möglicherweise als Grund für die Einladung der italienischen Architekten gedient haben? In welchem Umfang war die Einführung der neuen künstlerischen und architektonischen Renaissanceelemente im Moskauer Reich erwünscht? Und die besonders signifikante Frage ist: Hat diese Tätigkeit der Italiener am Moskauer Hof nachhaltige Spuren in der russischen Kunst und Architektur hinterlassen? Wie oben schon angesprochen wurde, konnten bis jetzt keine kunsthistorischen Studien entdeckt werden, die explizit der Untersuchung dieser Fragen gewidmet sind.

2.   Reiseberichte als Quellengattung der Kunstgeschichte. Aktuelle Forschungslage

Die Vorstellungen von Kunst und Architektur kommen nicht nur in den künstlerischen Medien selbst zum Ausdruck, sondern äussern sich auch im Sprechen und Schreiben darüber. Schriftliche Aussagen zu Kunstwerken werden seit jeher als eine wichtige Quelle für Wahrnehmung, Beurteilung und Reflexion von und über die Kunst angesehen. Mit den Traktaten von Ghiberti, Alberti, Filarete und Piero della Francesca wurde in Italien um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine fachspezifische Gattung begründet,36 in der den Fragen zur Architektur, Skulptur und Malerei nicht mehr vom rhetorisch-ekphratischen, sondern vom theoretischen Standpunkt aus nachgegangen wurde. Doch auch bis dahin waren Äusserungen zu Kunstwerken in Schriftquellen unterschiedlichster Art zu finden. Die grosse Bandbreite reichte von gelehrter Literatur, von Epen, Romanen und ← 22 | 23 → Versen, Briefen und Autobiographien über sachliche Dokumente wie Inventarlisten, Verträge, Testamente, Urkunden, Kloster- oder Stadtchroniken bis zu Itinerarien und Reiseberichten. Die in diesem breitgefächerten Gattungsspektrum enthaltenen Äusserungen zu Kunstwerken sind in Umfang, Methode, in der Terminologie und in der sprachlichen Gestaltung sehr unterschiedlich und hängen von Entstehungsumständen sowie vom Zweck und Anlass der Schriftstücke ab, in denen sie enthalten sind. Auch standen sie in unterschiedlichen Rezeptionskontexten. Und obwohl die Beschreibungen von Kunst- und Baudenkmälern in den meisten Fällen nicht das primäre Ziel dieser Schriftquellen war, dürfen sie durchaus (wenn auch unter einer gewissen Einschränkung) zur Gattung der Kunstliteratur gezählt werden, zumal es besonders im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht viele schriftliche Quellen gab, die über kulturelle und künstlerische Verhältnisse Auskunft geben. Dass die Frage nach Modellen der Kunstbeschreibung in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftquellen in der kunstgeschichtlichen Forschung nach wie vor sehr aktuell ist, zeigt sich in einer Reihe von Studien insbesondere aus den letzten Jahren.37

Möchte man die schriftlichen Aussagen zur Kunst und Architektur des westeuropäischen Abendlandes und Italiens, die von den russischen Autoren der Frühen Neuzeit gemacht wurden, im Speziellen untersuchen, so stellen die Berichte russischer Reisender in den Westen so gut wie die einzige mögliche Schriftquelle dar. Zum einen ist dies auf den generell problematischen Zustand der Quellenlage für das frühneuzeitliche Russland zurückzuführen: Nicht nur erlitten russische Archive starke Verluste, die durch Brände und Kriege verursacht wurden,38 viele Archivdokumente wurden auch nicht sachgemäss aufbewahrt oder sind mit Absicht vernichtet worden. Zum anderen und noch gewichtiger ist die Tatsache, dass im Russland der Frühen Neuzeit anders als in Europa ← 23 | 24 → keine humanistisch orientierte Wendung in den Bereichen der Wissenschaft, Bildung und Kunst stattgefunden hat. Während die Epoche der Renaissance im Westen als die Zeit der so genannten „Ego-Dokumente“39 gilt, zu denen viele der oben genannten literarischen Gattungen, die Kunstbeschreibungen enthalten, gezählt werden dürfen (wie etwa Briefkorrespondenz unter Privatpersonen), hat sich im Moskauer Reich kein Konvolut an privaten schriftlichen Zeugnissen herausgebildet.

Russische Reiseberichte stellen dabei keine Ausnahme dar. Während sich die Reisetätigkeit in ganz Europa im 15. und im 16. Jahrhundert von der mittelalterlichen mobilitas mehr und mehr zu einem allgemeinen kulturellen Bildungsphänomen wandelte,40 war den Russen das Reisen gen Westen in dieser Zeit verboten. Nach den Vorstellungen der russisch-orthodoxen Kirche, die schon seit den frühesten Zeiten die Reisetätigkeit ihrer Gemeinde kontrollierte, galt der Aufenthalt in katholischen Ländern als Sünde.41 Um zu zeigen, dass dieses Reiseverbot wirklich ernst gemeint war, führte Ivan III. – derselbe, der die Italiener in einer Grosszahl nach Moskau kommen liess – für seine eigenen Landsleute die Todesstrafe bei Übertretung westlicher Grenzen ein.42 Nur diejenigen Russen, die in offiziellen diplomatischen oder kaufmännischen Missionen unterwegs waren, durften sich in die „ketzerischen“ Länder begeben. Die Interessen und folglich schriftlichen Schilderungen dieser sozialen Gruppen von Reisenden beschränkten sich hauptsächlich auf die berufsbedingten Felder: diplomatische Angelegenheiten, Politik und Handel. Die Zahl der in der russischen Reiseliteratur der Frühen Neuzeit enthaltenen Äusserungen zur westeuropäischen Kunst und Architektur ist dementsprechend äusserst gering. Die Durchsicht der Reiseberichte des 15. und 16. Jahrhunderts speziell im Hinblick auf die Äusserungen zur Kunst und Architektur Italiens hat ergeben, dass für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, also für den Zeitraum vor der Ankunft der Italiener in Moskau, nur zwei Reiseberichte eine Auskunft über die Einstellung der Russen gegenüber der Kunst Italiens geben und dementspre ← 24 | 25 → chend für die Untersuchung in Frage kommen: Die Reise eines Unbekannten aus Suzdal’43 zum Florentiner Konzil aus dem Jahr 1438 und Eine Kurzbeschreibung von Rom, die ebenfalls 1438 entstanden ist und in der russischen Forschung demselben anonym gebliebenen Autor zugeschrieben wird.44 Beide Berichte wurden während der Reise der russischen Delegation zum Konzil von Ferrara-Florenz (1438–1439) verfasst. Aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, für die Zeit nach der Tätigkeit italienischer Baumeister in Russland, scheint nur ein Reisebericht geeignet zu sein: Erzählung über die Gottesmutter von Loreto, verfasst im Jahre 1528 von Eremej Trusov, dem Gesandten von Vasilij III. Der russische Diplomat begleitete einen päpstlichen Legaten auf seiner Heimkehr von Moskau nach Rom, verbrachte eine längere Zeit im Vatikan und suchte für einige wenige Tage die Stadt Loreto auf.

Die Bedeutung von Reisetätigkeit als einem kulturellen Phänomen sowie von Reiseberichten als einer literarischen Textgattung ist seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen Fachdisziplinen der internationalen Forschung immer wieder zum Ausdruck gebracht worden. Zahlreiche heute als grundlegend zu bezeichnende Publikationen aus den letzten drei Jahrzehnten liefern Modelle für die Anwendung der Quellengattungen „Reisen“ und „Reiseliteratur“ für die Fächer Ethnologie und Geschichte, Sprach- und Literaturwissenschaft, Theologie und Medizin, Sozial- und Kulturwissenschaft, und überzeugen hinsichtlich des wissenschaftlichen Ertrags interdisziplinärer methodischer Ansätze.45 Das Interesse an Reisetätigkeit in den geisteswissenschaftlichen Fächern ist dabei auf ihre Neuorientierung – die so genannten cultural turns – zurückzuführen, die sich vom anglo-amerikanischen Raum ausgehend seit den 1970er Jahren vollzog46 und sich u. a. in der verstärkten Zuwendung zur ethnohistorischen Forschung und ihren Methoden äusserte.47 Im Rahmen des postkolonialen Diskurses, der ← 25 | 26 → aktuellen Globalisierungsentwicklung48 und der Fragen nach nationaler Identitätsbildung wird der Untersuchung von Reisetätigkeit und der Erfahrung von Alterität seitens der Reisenden grosse Bedeutung beigemessen. Ein bedeutender Teil der Abhandlungen fällt dabei auf die Erforschung der Reisen in der Frühen Neuzeit, dem Zeitraum „vor der Entstehung und Verfestigung der modernen Nationalkulturen“49.50 Ausserdem breitete sich die Reisetätigkeit im 15. und 16. Jahrhundert in einer bis dahin nicht gekannten Mannigfaltigkeit aus: vom internationalen Handel bis zu den aus verschiedenen Nationalitäten zusammengestellten Armeen, von Gelehrten- und Studentenfahrten bis zu Touren von Hofrepräsentanten und Gesandten, von Pilger- bis zu Bildungsreisen. Die frühneuzeitlichen Reisebeschreibungen, die „Fremderfahrungen und kulturelle Kontakte in archivierter Form“51 enthalten, erweisen sich für die Untersuchung der kulturellen Zusammenhänge als besonders wertvoll.

Literaturwissenschaft als das „zuständige“ Fach hat sich der frühneuzeitlichen Reiseberichte verhältnismässig lange nicht angenommen, da sie kein „hohes Mass an sprachlicher Originalität und Qualität aufweisen“52. Obwohl ← 26 | 27 → die schriftlichen Beschreibungen von fiktiven oder real erlebten Reisen zu den ältesten Gattungen der abendländischen Literatur zählen und sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen (hier wären zum Beispiel die Odyssee des Homer oder die Darstellungen des Pausanias aus dem zweiten christlichen Jahrhundert zu nennen)53, haben Reiseberichtautoren des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nur selten literarische Ansprüche an ihre Texte gestellt. Die Authentizität des Erzählten und nicht die ästhetischen oder rhetorischen Gesichtspunkte der Beschreibung waren ihr primäres Ziel. Erst als die Reisetätigkeit mit der Grand Tour im 17. Jahrhundert zum allgemeinen Bildungskanon zu avancieren begann, veränderte sich auch die Sprache der Berichte selbst. Die Aufzeichnungen der nach Italien Reisenden des 18. Jahrhunderts sind bereits nicht nur als „lebensgeschichtliche Resümees“ 54, sondern als wahre „literarische Ereignisse“55 anzusehen.

Nach Peter J. Brenner hatte erst die Wandlung im Selbstverständnis des Fachs Literaturwissenschaft, die in den späten 1960er und frühen 1970er ihren Anfang nahm und sich in der Loslösung von den dogmatischen Wertvorstellungen und in der Veränderung der ästhetischen Erwartung an Textformen äusserte, dazu geführt, dass die Untersuchung der „literarischen Formen jenseits der kanonisierten Gattungen“ möglich wurde.56 Heute sind Reiseberichte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren sowohl in einzelnen Studien als auch in Sammelbänden übergreifend erfasst worden.57 Neben den ← 27 | 28 → Literaturwissenschaftlern leisteten dabei die Historiker einen bedeutenden Arbeitsanteil.

Kunsthistoriker bedienten sich der Reiseliteratur bislang nur in eingeschränktem Masse. „Die Mobilität des Künstlers zählt zu den Topoi aller Künstlerbiographien“58, daher stellt das Reisen als künstlerische Praktik zwar einen festen Bestandteil im kunsthistorischen Forschungsfeld dar.59 Die Beiträge zu Reisen oder Reiseliteratur sind jedoch primär in künstlermonographischen Kontexten verankert. Und obwohl die Modelle von Kunst- und Architekturbeschreibungen in diversen literarischen Quellen für Kunsthistoriker nach wie vor von grossem Interesse sind,60 berücksichtigen sie Reiseberichte kaum. Das Hauptaugenmerk ist in erster Linie auf die „klassischen“ literarischen Quellengattungen der Kunstgeschichte gerichtet: auf Traktatliteratur sowie Rhetorik- und Ekphrase-Beispiele.61

Architektur- und Kunstbeschreibungen, die in zeitlicher Nähe zum beschriebenen Kunstwerk entstanden, geben Aufschluss darüber, wie man ein Werk sah und verstand, was man an ihm schätzte und wie man es interpretierte. Ihr Quellenwert für die Kunstgeschichte steht ausser Frage, ihre Bearbeitung hingegen noch am Anfang, […]62

stellte Arwed Arnulf, der sich mit Kunstbeschreibungen in unterschiedlichen literarischen Quellen seit der Antike bis zur Frühen Neuzeit auseinandersetzte, in seiner Publikation von 2004 fest. Die etwas zögerliche Haltung der Kunsthistoriker gegenüber der Gattung der Reiseliteratur kann möglicherweise dadurch erklärt werden, dass eine Grosszahl der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reiseberichte von Nichtkünstlern beziehungsweise von Nichtliteraten stammt. Auch lassen sich die darin enthaltenen Äusserungen zur Kunst und Architektur ← 28 | 29 → nicht eindeutig in die Kategorie der Ekphrase einreihen: Kunst- und Bauwerke werden darin meistens nur genannt, auf ausführliche Beschreibungen trifft man selten. Auf den literarisch-ästhetischen „Mangel“ vieler spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reisebeschreibungen wurde schon hingewiesen. Dennoch können Reiseberichte als einträgliche und aufschlussreiche Quellengattung für die Kunstgeschichte gelten, besonders wenn man sich verstärkt auf die Entstehungskontexte und Rezeption dieser Texte konzentriert. Als überzeugendes Beispiel seien hier die Untersuchungen mittelalterlicher Pilgerberichte mit Blick auf die darin enthaltenen Beschreibungen bildlicher Darstellungen genannt.63

Details

Seiten
298
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035108514
ISBN (ePUB)
9783035193275
ISBN (MOBI)
9783035193268
ISBN (Paperback)
9783034316774
DOI
10.3726/978-3-0351-0851-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Russland Kunst frühe Neuzeit
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 298 S., 50 farb. Abb., 12 s/w. Abb.

Biographische Angaben

Anna Szech (Autor:in)

Anna Szech studierte Kunstgeschichte, Ostslawistik und Psychologie an der Universität Hamburg und wurde an der Universität Basel promoviert. Zu weiteren Forschungsschwerpunkten zählt die Kunst der Klassischen Moderne und der Russischen Avantgarde. Seit 2013 ist sie an der Fondation Beyeler im kuratorischen Team tätig.

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Titel: Moskau – Das Dritte Rom?
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