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Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Warschau 2013

Interkulturelle Aspekte im Schaffen Alfred Döblins

von Marion Brandt (Band-Herausgeber:in) Grazyna Kwiecinska (Band-Herausgeber:in)
©2015 Konferenzband 296 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse des Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquiums an der Universität Warschau im Juni 2013, das sich die Untersuchung des Döblinschen Werkes aus interkultureller Perspektive zur Aufgabe stellte. Das interkulturelle Forschungsparadigma erweist sich als besonders produktiv bei einem Autor, der sich immer wieder auf geistige Erkundungsreisen in andere, außereuropäische Kulturen begab und mit seinem Bericht von einer durchaus realen Reise in Polen (1925) einer heute untergegangenen Welt ein Denkmal setzte. Die Beiträge vergleichen Döblins Polenbuch mit Texten von H. M. Enzensberger und R. Hänny, konfrontieren es mit Erinnerungsliteratur von Juden aus Krakau oder Danzig und präsentieren Thesen zu seiner Genese und Wirkung. Der zweite Teil dieses Kongressberichtes enthält Analysen der literarischen Repräsentation von Interkulturalität in frühen Erzählungen, Romanen (Berge, Meere und Giganten, Das Land ohne Tod, Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende) und dem Epos Manas. Wie die Beiträge zeigen, gehören die Begegnung und Interaktion zwischen Vertretern verschiedener Kulturen zu Konstanten des Döblinschen Werkes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Marion Brandt / Grażyna Kwiecińska: Vorwort
  • Döblins Begegnung mit Polen und den polnischen Juden
  • Karol Sauerland: Drei Polenreisen im Vergleich (Alfred Döblin, Hans Magnus Enzensberger, Reto Hänny)
  • Maria Kłańska: Juden im Krakau der Zwischenkriegszeit (1918–1939) im Lichte ihrer Autobiographien in polnischer Sprache, mit einem Seitenblick auf Döblins Krakau-Kapitel
  • Agnieszka Palej: Das Bild Krakaus in Alfred Döblins Reise in Polen. Zum interkulturellen Potential des Textes
  • Miłosława Borzyszkowska: Die Abwesenheit des Anwesenden. Das Bild Danzigs in Alfred Döblins Reise in Polen vs. in der Autobiographik von Danziger Autoren jüdischer Herkunft
  • Marion Brandt: Alfred Döblins Literarisierung der Polenreise
  • Elcio Loureiro Cornelsen: Döblins Begegnung mit dem Ostjudentum in Reise in Polen
  • Monika Tokarzewska: Alfred Döblin – Vergesellschaftung und Erzählen. Zu einem Diskurs im Kontext der Reise in Polen
  • Interkulturalität im Werk Alfred Döblins
  • Mirjana Stančić: Döblins frühe Erzählungen Die Segelfahrt und Die falsche Tür. Ein interkultureller Annäherungsversuch
  • Anna Wołkowicz: Wirken ohne zu handeln. Martin Bubers Taoismus-Rezeption als Kontext zu Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun
  • Gabriele Sander: Kulturelle Grenzüberschreitungen und Vermischungen in Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten
  • David Midgley: Der fremde Blick: Zur Verwendung hinduistischer Motive in Manas
  • Dorota Sośnicka: Interkulturalität „im Strom der lebenden Sprache“: Zu stilistischen und narrativen Eigenheiten des Romans Das Land ohne Tod von Alfred Döblin
  • Julia Genz: Interkulturalität des Erzählens als Ausdruck der Depersonation – Alfred Döblins Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende
  • Gabriele Sander: Bibliographie der Neuerscheinungen zum Werk Alfred Döblins (X)
  • Personenverzeichnis
  • Reihenübersicht

Vorwort

Alfred Döblin hat sich in seinen literarischen Werken oft auf imaginäre Reisen in andere, mit Vorliebe außereuropäische Kulturen begeben – so im ‚chinesischen Roman‘ Die drei Sprünge des Wang-lun (1915), im Versepos Manas (1927), in dem Roman Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall und in der Amazonas-Trilogie (1937/38). Sogar seinen Schaffensprozess beschrieb er als eine Reise:

Eine sonderbare Sache, das Schreiben. Ich begann es nie eher, bis die Einfälle einen bestimmten Reifegrad erreicht hatten, und das war dann der Fall, wenn sie im Gewande der Sprache erschienen. Hatte ich dieses Bild, so wagte ich mich mit ihm, mit meinem Pilotenboot, aus dem Hafen heraus, und da bemerkte ich draußen bald ein Schiff, einen großen Ozeandampfer, und ihn betrat ich und fuhr aus und war in meinem Element, reiste und machte Entdeckungen, und erst nach Monaten kehrte ich von solcher großen Fahrt heim, gesättigt, und konnte wieder das Land betreten. Meine Fahrten bei geschlossener Tür führten mich nach China, Indien, Grönland, in andere Epochen, auch aus der Zeit heraus. Was für ein Leben.1

Auf dem 19. Internationalen Alfred-Döblin-Kolloquium im Juni 2013 an der Universität Warschau folgten wir Döblin auf diesen „Fahrten bei geschlossener Tür“ in verschiedene Weltregionen und -religionen ebenso wie auf seinen realen Reisen. Zu letzteren gehört seine Reise nach Polen im Herbst 1924, die den unmittelbaren Anlass dafür gab, das Kolloquium in Warschau zu veranstalten. Damit wählten wir nicht nur eine Stadt, die für Döblin zu den wichtigsten Stationen seiner Reise durch Polen gehörte; diese Wahl bedeutete auch eine Würdigung der Warschauer Germanistik, deren Mitarbeitern Grażyna Kwiecińska, Anna Wołkowicz und Karol Sauerland unschätzbares Verdienst für die polnische Publikation und Rezeption von Döblins Reise in Polen zukommt.2

Die Begegnung mit Polen und den polnischen Juden, die Wahrnehmung dieser beiden, vielschichtig miteinander verflochtenen Kulturen, die Deutung und Fiktionalisierung der Reiseerlebnisse sind einige Aspekte, die in den Beiträgen des ersten Teils beleuchtet werden. ← 7 | 8 →

Im Einführungsvortrag der Konferenz beschäftigt sich Karol Sauerland mit der Resonanz der Reise in Polen in Hans Magnus Enzensbergers Essay Polnische Zufälle (publ. 1987 in Ach Europa!), der nach einem Aufenthalt in Polen entstand, und in Reto Hännys, nach einer Polenreise von 1989 geschriebenem Buch Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers (1993). An den Beginn seiner Ausführungen stellt Sauerland Reflexionen über die Bedeutung, die Döblins Buch im heutigen Polen haben könnte.

Weitere Beiträge folgen Döblin auf seinen Wegen durch Krakau und Danzig und konfrontieren seine Wahrnehmungen mit der Erinnerungsliteratur von Krakauer und Danziger Juden. Maria Kłańska und Miłosława Borzyszkowska zeigen so nicht nur, was Döblin über das reiche jüdische Leben dieser beiden Städte (noch) hätte erfahren können, sie charakterisieren damit auch die besondere Perspektive Döblins. In Krakau richtete sich sein Interesse im Wesentlichen auf die religiösen Juden, weniger auf die Zionisten, von deren Präsenz in der Stadt er entsprechend wenig erfuhr. Danzig hingegen konstruierte er vor allem als einen Ort des Grenzübertritts zwischen dem östlichen und dem westlichen Kulturkreis, die er in einen Kontrast zueinander stellte. In die jüdische Kultur dieser Stadt tauchte er nicht mehr ein.

Döblins Beobachtungen und Erlebnisse in Krakau sind ebenfalls das Thema des Beitrages von Agnieszka Palej, die das Krakau-Bild im Kontext interkultureller Fragestellungen deutet. Marion Brandt untersucht in einem Vergleich zwischen Drucktexten und Handschriften die Literarisierung der Reiseerlebnisse. Ihr Fokus liegt auf Döblins Umgang mit den (mündlichen und schriftlichen) Quellen und seinen Überarbeitungen der Passagen zum Nationalen als einem der thematischen Schwerpunkte des Polenbuches. Das Bild von den osteuropäischen Juden, vor allem von deren Religion, setzt Elcio Loureiro Cornelsen in einen Bezug zu Döblins naturphilosophischem Denken. Monika Tokarzewska stellt die These auf, dass die Erfahrung der Polenreise Döblins Auffassungen von Gesellschaft und Erzählen veränderte und auch in dieser Hinsicht eine Zäsur in seinem Schaffen bedeutete.

Das Warschauer Kolloquium der Internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft beschränkte sich keineswegs nur auf die Reise in Polen, sondern weitete die Perspektive auf Döblins Begegnungen mit anderen Kulturen aus. Für diese erscheint der Schlüsselbegriff „Interkulturalität“ am besten geeignet. Er ist – zugegeben – ein sehr offener Begriff, an den sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte verschiedene Forschungsperspektiven angelagert haben. Gegenwärtig wird er häufig für die Analyse der Literatur von kulturellen Grenzgängern, vor allem von Migranten, verwendet, für solche Schriftsteller also, die ihr Werk zwischen zwei oder mehreren Kulturen schaffen und Begegnungen zwischen diesen Kulturen thematisieren. Aus dieser Forschungsperspektive lassen sich durchaus neue Fragen an das Döblinsche Werk stellen, etwa die, ob nicht auch der deutsche Jude Alfred Döblin als jemand angesehen werden ← 8 | 9 → kann, der in einem kulturellen Zwischenraum lebte und sein Werk in einem Spannungsfeld zwischen doppelter kultureller Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit schuf. Anders als zum Beispiel Else Lasker-Schüler reflektierte Döblin diese Problematik nicht explizit. Aber könnten nicht sein Interesse an anderen, vorwiegend außereuropäischen Kulturen und sein so auffallend häufiges Thematisieren kultureller Diversität und interkultureller Begegnung durch die Erfahrung kultureller Differenz geprägt sein? In den Beiträgen des zweiten Teils, in denen die literarische Repräsentation von Interkulturalität in mehreren Werken Döblins analysiert wird, geht es somit nicht nur um die Frage, wie Döblin andere Kulturen und interkulturelle Begegnungen imaginiert, sondern auch um das schöpferische Potential, das die interkulturelle Perspektive als erzählkonstitutives Element für die Gestaltung und die Bedeutung des jeweiligen Werkes bietet.

Mirjana Stančić zeigt, dass bereits die frühen Texte ein Grundthema des Döblinschen Werkes aufwerfen: das der Begegnung und Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen. In den 1911 erstpublizierten Erzählungen Die Segelfahrt und Die falsche Tür werden zwar kulturelle Gegensätze wie die zwischen Orient und Okzident oder inner- und außereuropäischen Kulturen unterlaufen, doch sind die in den kulturellen Zwischenräumen agierenden Figuren so von inneren Widersprüchen geprägt, dass ihre aus dem Grenzgängerischen heraus imaginierte oder tatsächliche Begegnung mit dem anderen Geschlecht in einer Katastrophe mündet.

Auch in Döblins letztem Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, den Julia Genz analysiert, sind die interkulturellen Motive mit der Situation des Einzelnen verknüpft. Als zentraler Topos der Erzählungen aus verschiedenen europäischen Kulturkreisen, mit deren Hilfe das Trauma des Kriegsheimkehrers Edward Allison überwunden werden soll, wird die Verwandlung herausgehoben. Die Geschichten können deshalb so leicht ineinanderfließen und ein Netz von Verweisen bilden, in denen das individuelle Schicksal sich auflöst, weil das Interkulturelle in ihnen unbestimmt bleibe und die Fremde lediglich eine Projektionsfläche für Abwesendes sei, das ersehnt oder befürchtet werde.

In den Romanen Berge Meere und Giganten und Das Land ohne Tod erzählt Döblin zwar ebenfalls von Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, bei denen es zu „teils gelingenden, teils scheiternden kulturellen Annäherung[en]“, zur Übernahme anderer kultureller Muster und sogar zum Auflösen bestehender und dem Erwerb neuer Identitäten kommt. Der Schwerpunkt liegt hier aber auf der überindividuellen Konfrontation der Kulturen. In Berge Meere und Giganten weitet Döblin, wie Gabriele Sander schreibt, den Blick aus „auf beinahe sämtliche Kontinente und Kulturkreise, die er in einen Strudel tiefgreifender macht- und bevölkerungspolitischer Veränderungen geraten lässt“, indem er von Migrationsströmen aus Afrika in ← 9 | 10 → die europäischen Metropolen, von einer militärischen Konfrontation zwischen den Westmächten und Asien, von neuen Fluchtbewegungen aus den Städten zurück in die zuvor verlassenen Länder und von der Bildung nomadischer Siedlergruppen fern der großen Städte erzählt. Die Gegensätze, die in der Romanhandlung aufeinandertreffen, etwa von kolonialer Herrschaft und Machtkonzentration auf der einen, Widerstands- und Fluchtbewegungen auf der anderen Seite, äußern sich nicht nur in verschiedenen Lebensweisen, Werten, Normen und Sitten, sondern auch in der Art der sprachlichen Kommunikation. Wie meisterhaft Döblin kulturelle Diversität in der Sprache gestaltet, unterschiedliche Wahrnehmungen ein und derselben Situation und kulturbedingte Missverständnisse zu erzählen weiß, verdeutlicht Dorota Sośnicka in ihrem Beitrag, in dem sie die Narration im Roman Das Land ohne Tod untersucht. So zeigt sie, welche Bedeutung allein dem Wechsel der Tempusform zukommen kann, etwa wenn der Übergang vom epischen Präteritum ins Präsens in einer Episode um eine Gruppe weißer Kolonisatoren, die zeitweise die Bräuche der Indianer übernehmen, die „Verzauberung“ dieser Männer durch die fremde Kultur zum Ausdruck bringt. Die im Roman thematisierten kulturellen, ethnischen und spirituellen Differenzen fokussieren sich laut Sośnicka in der zentralen Romangestalt des Wassergeistes Sukuruja und sind somit nicht in das christliche, sondern in das naturphilosophische Denken Döblins eingebettet.

Ideen, Mythen und Geschichten, die Döblin in anderen Kulturen in Form von Lesefrüchten auflas, bildeten für ihn einen Fundus, der es ihm ermöglichte, seine Grundthemen in verschiedenen Imaginationswelten produktiv zu entfalten und zu durchdringen. Ein Vermittler zur chinesischen Philosophie war für ihn bekanntlich Martin Buber, den Döblin für Die drei Sprünge des Wang-lun zunächst um Lektüren und später um ein kritisches Urteil zu dem Roman bat. Anna Wołkowicz legt dar, wie bedeutungsvoll der Taoismus und die in Döblins Roman zentrale Idee des Wu-wei für Buber selber war und wie sich Bubers Aufnahme dieser Philosophie von der Döblins unterschied. Döblins Indien-Bild hingegen war, wie David Midgley zeigt, zwar durch zeitgenössische Wahrnehmungsmuster, ja sogar Stereotype, geprägt, aber doch frei von der Idealisierung, die sich bei anderen Autoren – der prominenteste unter ihnen sicherlich Hermann Hesse – findet. Midgley charakterisiert in seiner Interpretation des Epos Manas Döblins Umgang mit literarischen Quellen, etwa mit Hellmuth von Glasenapps 1922 erschienenem Buch Der Hinduismus oder dem indischen Epos Mahabharata, und kommt zu dem Schluss, dass der „pseudoindische Blick“ es Döblin ermöglichte, „eine Vielfalt an Fragen und Perspektiven, die gedanklich nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind“, auf diese Weise als „einen kohärenten Szenenablauf zusammenzuschauen“. ← 10 | 11 →

Die Veranstaltung des 19. Alfred-Döblin-Kolloquiums in Warschau wurde durch die Universität Warschau und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit unterstützt, wofür an dieser Stelle unser Dank gesagt sei.

Marion Brandt

Grażyna Kwiecińska

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1Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, München, Zürich 1986, S. 113.

2Anna Wołkowicz übersetzte die „Reise in Polen“ ins Polnische (Vgl. Alfred Döblin: Podróź po Polsce, Kraków 2000); Karol Sauerland und Grażyna Kwiecińska veröffentlichten Aufsätze über sie, darunter in der bekannten Zeitschrift „Literatura na Świecie“ (Weltliteratur).

Döblins Begegnung mit Polen und den polnischen Juden

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Drei Polenreisen im Vergleich (Alfred Döblin, Hans Magnus Enzensberger, Reto Hänny)

Karol Sauerland (Warszawa)

Abstract: Nach Ansicht des Autors vermittelt Döblins Polenreise heutigen Lesern einen höchst anschaulichen Begriff davon, wie das Vorkriegspolen mit seiner zahlreichen jüdischen Minderheit aussah. Sauerland erinnert sich ferner daran, wie er und seine Kollegen bzw. Kolleginnen dieses Werk in den 1980er Jahren, als der sogenannte Kriegszustand eingeführt wurde, rezipierten. Die Polenreise Enzensbergers erfolgte 1986, d.h. in einem Endjahr des realsozialistischen Polens. Die Frage ist, inwieweit der Autor von Ach Europa! dieses Ende herausspürte. Reto Hänny besucht dagegen Polen im Wendejahr 1989. Er drückt sein Erstaunen über das, was sich in Polen tut, höchst originell aus. Beide Autoren hat Sauerland bei seiner Polenreise teilweise begleitet, was er nicht verschweigt, im Gegenteil: Hin und wieder flicht er in seinen Artikel Persönliches ein.

Keywords: literarischer Reisebericht, Geschichte Polens, Alfred Döblin, „Reise in Polen“, Hans Magnus Enzensberger, „Ach Europa!“, Reto Hänny, „Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa“

Es ist ein Ereignis sondergleichen, dass sich 89 Jahre nach dem Erscheinen der Reise in Polen die Döblingesellschaft hier mitten in Warschau zusammengefunden hat, um vor allem über dieses bedeutende Buch zu debattieren. Allen deutschen Polenreisenden empfehle ich seit Jahren dessen Lektüre, denn hier erfahren wir, wie Polen einst, vor neunzig Jahren ausgesehen hat. Ich finde sogar, dass Teile der polnischen Übersetzung der Reise in Polen in den polnischen Schulen zur Pflichtlektüre gehören müssten, denn wo anders kann man ein so lebendiges Bild vom Vielvölkerstaat Polen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erhalten?

Als Döblin nach Polen kam, waren alle Bürger dieses wieder errichteten Staates gefordert, dass aus drei eins wird, dass die drei Teilungsgebiete, das russische, österreich-habsburgische und preußische zusammenwachsen. Das erinnert an die berühmte Willy-Brandtsche Formel: es muss zusammenwachsen, was zusammengehört. Aber Brandt dachte nur, würde man in Polen sagen, an zwei deutsche Staaten, nicht an ein Dreier gebilde. In jedem Teilungsgebiet herrschten über hundert Jahre (nicht vierzig Jahre wie im geteilten Deutschland) eine andere Gesetzgebung, eine andere Form der Verwaltung, damit auch andere Gepflogenheiten im gesellschaftlichen Umgang miteinander. Noch ← 15 | 16 → heute weiß man – zumindest in Mitteleuropa, wozu auch Deutschland gehört –, wie unterschiedlich die Bürokratien in Russland, Österreich und im ehemaligen Preußen funktionierten. Döblin ist sich dieser Problematik bewusst. So schreibt er an einer Stelle, ein Kommunalpolitiker habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es „in der Verwaltung noch russische Ausführungsbestimmungen“ gäbe, so dass Wohnungen „polizeilich durchsucht werden können ohne Gerichtsbeschluß“. Und Döblin schreibt weiter, dass noch in manchen Gegenden Kriegsverordnungen der Okkupationsbehörden“ bestehen; „im Osten kann der Landrat Versammlungen verbieten“.1

Döblin quartierte sich hier nebenan, im Hotel Bristol ein, in dem drei Jahre später Thomas Mann übernachten und sich als Nobelpreisträger feiern lassen sollte. Das nächste Gebäude in Richtung Altstadt ist, wie Döblin es nennt, ein „Ministerpalais“, der tatsächlich 1924 der offizielle Sitz des Ministerpräsidenten war. In der Zarenzeit amtierte hier eine Zeitlang der russische Statthalter und vor allem stand vor dem Palast nicht das Poniatowski-Denkmal in der Ausführung von Thorwaldsen – das ist erst 1965 nach einer langen Irrfahrt als Kopie, ausgeführt auf Anordnung des dänischen Throns, dort gelandet –, sondern das des Fürsten Iwan Paszkiewicz. Döblin erinnert an den Russen, um auf die polnische Niederlage im Novemberaufstand von 1830/31 zu verweisen. Germanisten ist dieser Aufstand durch die Polenlieder und die verschiedenen Charakteristiken des Zugs der polnischen Aufständischen durch Deutschland, besonders durch die süddeutschen Staaten, gut bekannt. Man denke nur an Börne und Büchner. Paszkiewicz gab, wie Döblin schreibt, dem polnischen Aufstand, der sich Monate hingezogen hatte, „den Rest, Warschau, Polen war hin“.2 Das Paszkiewicz-Denkmal war allerdings im freien Polen abgetragen worden.

Ich pflege Iwan Fjodorowitsch Paszkiewicz gern mit Iwan Aleksandrowitsch Serow zu vergleichen. Ersterer hatte von 1828 bis 1829 den Oberbefehl der russischen Armee im Kaukasus inne, wo er u.a. gegen die Tschetschenen kämpfte. 1831 warf er, wie gesagt, den polnischen Aufstand nieder und wurde zaristischer Statthalter im russisch besetzten Polen. 1849 besiegte er die von General A. Görgey geführten aufständischen ungarischen Truppen in der Schlacht bei Világos. Serow hingegen nahm Anfang 1944 leitend an der Deportierung der kaukasischen Völker teil. Später leitete er die Absicherung des Hinterlandes der 3. Belorussischen und Baltischen Front; als solcher war er für die Vernichtung der AK (Heimatarmee) und anderer polnischer Streitkräfte seit dem 16.7.1944 zuständig. Im Februar 1945 wurde er schließlich zum offiziellen Berater des NKWD beim polnischen Innenministerium ernannt. Im März leitete er die Verhaftung der sechzehn Führer des polni ← 16 | 17 → schen Untergrunds, die sich, obwohl sie polnische Bürger waren, im Juni 1945 vor einem Gericht in Moskau verantworten mussten. Am 25. April 1945 wurde er als Berater in Volkspolen abberufen, um am 9. Juni Stellvertreter des Obersten Chefs der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland (SMAD) zu werden.3 Er stand allen geheimdienstlichen Institutionen in der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone) vor. Damit konnte er seine polnischen Erfahrungen weiter nach Westen tragen. 1947 wurde er Stellvertreter des Ministers für Inneres und 1953 – nach Berijas Verhaftung – Vorsitzender des Komitees für Sicherheit beim Ministerrat der UdSSR.4 1954 sehen wir ihn als Gründer des KGB, den er bis 1958 leitete. Für die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes von 1956 bekam er den Kutusow-Orden verliehen. Paszkiewicz und Serow verbinden mit anderen Worten Tschetschenien, Polen und Ungarn.

Döblins Blick richtet sich von dem Präsidentenpalais auf den heutigen Piłsudski-Platz. Dort wurde gerade die Alexander-Newsky-Kathedrale abgetragen. Zwar wirke dies, schreibt Döblin, „erschreckend, unheimlich, finster beunruhigend“, man empfinde

etwas Schmerzlich-Ergreifendes, Rührendes im Anblick dieser Kirche, die einem Gott, einem doch tief geglaubten Gott, geweiht war, – und wie sie eben steht, zertrümmert man sie, als wäre sie böse.5

Details

Seiten
296
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783035108194
ISBN (ePUB)
9783035193978
ISBN (MOBI)
9783035193961
ISBN (Paperback)
9783034316361
DOI
10.3726/978-3-0351-0819-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Berge Meere und Giganten Martin Buber Die Segelfahrt Reise in Polen Juden im Krakau Krakau
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 296 S.

Biographische Angaben

Marion Brandt (Band-Herausgeber:in) Grazyna Kwiecinska (Band-Herausgeber:in)

Marion Brandt ist Professorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Gdańsk. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Lyrik, der deutsch-polnischen Literaturbeziehungen sowie der Literatur über Gdańsk/Danzig. Grażyna Kwiecińska ist Professorin für deutschsprachige Literatur an der Universität Warschau. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Literatur der Weimarer Republik, Rezeptions- und Intertextualitätsforschung sowie Österreichische Literatur.

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Titel: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Warschau 2013
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