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Hybridisierung und Ausdifferenzierung

Kontrastive Perspektiven linguistischer Medienanalyse

von Stefan Hauser (Band-Herausgeber:in) Martin Luginbühl (Band-Herausgeber:in)
©2015 Sammelband 418 Seiten

Zusammenfassung

Hybridisierung und Ausdifferenzierung sind zwei Prozesstypen, die für die massenmediale Textsortengeschichte von grundlegender Bedeutung sind: So werden für ein Medium neue Textmuster nicht von Grund auf neu entwickelt, sondern es werden oftmals Merkmale bereits existierender Textsorten übernommen, adaptiert und transformiert. In der Folge entstehen neue Textsorten, die entweder bestehende Textsorten ablösen und somit etablierte Kommunikationspraktiken ersetzen oder es kommt zu einer Ergänzung des bisherigen Textsortenrepertoires. In beiden Fällen ist es notwendig, die Aufmerksamkeit nicht nur auf einzelne, d.h. isoliert betrachtete Textsorten, sondern auch auf ganze Systeme von Textsorten zu richten; erst so werden die Auswirkungen von Hybridisierung und Ausdifferenzierung auf den «kommunikativen Haushalt» erkennbar.
Dieser Band vereinigt medienlinguistische Beiträge zu Fragen der Textsorten-Hybridisierung und Ausdifferenzierung im Bereich von Online-Medien (Online-Zeitungen und -Zeitschriften, Webforen, Facebook-Profilen, User-Kommentaren, Infografiken) und traditionellen Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Radio). Viele der Beiträge gehen auch medienvergleichend vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Hybridisierung und Ausdifferenzierung – Einführende begriffliche und theoretische Anmerkungen
  • 1. Konzepte der Hybridisierung und Ausdifferenzierung
  • 2. Medien- und textlinguistische Perspektiven auf Hybridisierung und Ausdifferenzierung
  • 3. Zu den Beiträgen dieses Bandes
  • 4. Bibliographie
  • Neue Medien, neue Formen? Hybridisierung als Aspekt sozialen Wandels
  • 1. Einleitung: Neue Medien, neue Formen
  • 2. Theoretische Vorüberlegungen
  • 2.1 Zur Übertragbarkeit des biologischen Hybridisierungskonzeptes
  • 2.2 Hybridisierung und Affordanzen
  • 3. Hybridisierung als Gestaltung zum Neuen
  • 3.1 Die Vermischung von sozialen Sprechweisen und Perspektiven
  • 3.2 Hybridisierung und Konversationalisierung
  • 3.3 Hybridisierung und Interaktionsrollen
  • 5. Fazit
  • 6. Bibliografie
  • Quellen
  • Dr. Gumpert
  • Eltern.de
  • Schwanger-online
  • Wikipedia
  • Käuferurteile im WWW – Rezensionsvariante oder neue Textsorte?
  • 1. Hintergrund, Ausgangshypothesen und theoretische Grundlagen
  • 1.1 Hintergrund: Kommunikationsplattformen für Online-Kunden
  • 1.2 Ausgangshypothesen
  • 1.3 Theoretische Grundlagen: Stabilität und Flexibilität der Textmusterbezogenheit
  • 2. Textmusterindizien und Hybridcharakter
  • 2.1 Orientierung am Briefmuster
  • 2.2 Parallelen zur (Buch-)Rezension
  • 2.2.1 Informieren und Beurteilen
  • 2.2.2 Käuferurteile als Rezensionsvariante?
  • 2.3 Parallelen zu Produktwerbung und Testbericht
  • 3. Textvernetzung und intertextuelle Bezüge
  • 4. Fazit
  • 4.1 Textsortenhybrid „Käuferurteil“
  • 4.2 Konsequenzen
  • 5. Bibliographie
  • Textsortenhybride beim Kommentar
  • 1. Zum Kommentar als journalistischer Darstellungsform
  • 2. Hybride beim Zeitungskommentar
  • 2.1 Der Kommentar als offener Brief
  • 2.2 Von den Pressestimmen zur Auslese als „halber Kommentar“
  • 3. Dialogisierung des Hörfunk-Kommentars
  • 3.1 Politische Kommentare im Deutschlandfunk und bei Radio eins
  • 4. Einordnung der empirischen Befunde
  • 5. Bibliografie
  • Tagespolitische Berichterstattung im medialen Vergleich
  • 1. Ausgangspunkt
  • 2. Materialgrundlage
  • 3. Intramedialer Vergleich
  • 3.1 Nachrichten der Online-Portale
  • 3.2 Nachrichten der TV-Sender
  • 3.3 Nachrichten in den Printmedien
  • 4. Intermedialer Vergleich
  • 5. Schlussbemerkung
  • 6. Bibliografie
  • Zeitung – print
  • TV
  • 7. Anhang
  • Alles ist Kommentar. Die Hybridisierung von journalistischen Textsorten mit bewertenden Elementen
  • 1. Einleitung
  • 2. Hybridisierung
  • 3. Journalistische Textsorten
  • 3.1 Prototypische Textklassen im Journalismus
  • 3.2 Der journalistische Kommentar
  • 4. Korrespondierende informieren und kommentieren
  • 4.1 Beispiel: An- und Abmoderation
  • 4.2 Beispiel: Interview
  • 5. Kommentare in den Social Media
  • 5.1 Medienwandel
  • 5.2 Social Media
  • 5.3 Alles wird Kommentar?
  • 6. Fazit
  • 7. Bibliografie
  • Fernsehnachrichtenbeiträge als Mischtextsorte: Hybridisierungsprozesse aus kontrastiver Sicht
  • 1. Einleitung
  • 2. Zur Auffassung der Nachrichtentextsorte in Deutschland und in Polen
  • 3. Kriterien für die Analyse und Untersuchungsgegenstand
  • 4. Analyse
  • 5. Fazit
  • 6. Bibliografie
  • TV / Fernsehnachrichten
  • „Welches kranke Gehirn hat sich so etwas einfallen lassen?“ Form und Funktion von Evaluierungsformen in Online-Beschwerden als Indikatoren „hybrider“ Textmerkmale?
  • 1. Gibt es hybride Textsorten?
  • 2. Der Skandal
  • 3. Evaluierungen im Sprachgebrauch
  • 4. Auswertung
  • 5. Schlussfolgerungen
  • 6. Bibliografie
  • Internetquellen
  • Hybridisierung im medialisierten Metasprachdiskurs: Das Beispiel „Kiezdeutsch“
  • 1. Einleitung
  • 2. Medialisierung von Sprachthemen und Sprachforschung
  • 3. Medialisierung und Hybridisierung: Ein produktives Verhältnis?
  • 4. „Kiezdeutsch“ als Fallbeispiel für Medialisierung
  • 5. Sprachwissenschaftliche Akteure in Medienbeiträgen zu „Kiezdeutsch“
  • 6. Schlussfolgerungen
  • 7. Literatur
  • Bewegung auf der Titelseite – Ausdifferenzierung und Hybridisierung durch Sprache-Bild-Texte ..
  • 1. Untersuchungsgegenstand und theoretischer Rahmen
  • 1.1 Ausdifferenzierung
  • 1.2 Hybridität
  • 2. Ausdifferenzierung als Textsortenausbau
  • 2.1 Kurznachrichten
  • 2.2 Lead Image
  • 2.3 Quantitative Beobachtungen am Korpus
  • 3. Praktische Text-/Stilanalyse
  • 3.1 Der Teaser als persuasiver Text
  • 3.2 Der Teaser als Kommentar
  • 3.3 Textstrukturen des Teasers
  • 3.4 Bildtypen und Bildverwendung
  • 3.5 Sprache-Bild-Bezüge – Bildfunktionen
  • 4. Interpretation und Reflexion der Ergebnisse
  • 4.1 Teaser, Kommentar oder Editorial?
  • 4.2 Hybridität
  • 5. Bewegung auf der Titelseite – Beweggründe
  • 6. Bibliografie
  • Hybride Konstruktionen bei interaktiven Infografiken
  • 1. Einleitung
  • 2. Forschungsrahmen
  • 3. Ebenen der Hybridisierung
  • 3.1 Formale Ebene
  • 3.2 Dramaturgisch-strukturelle Ebene
  • 3.2.1 Der lineare Typ
  • 3.2.2 Der nonlineare Typ
  • 3.2.3 Der linear-nonlineare Typ
  • 3.3 Ebene der kommunikativen Funktion
  • 3.3.1 Narration und Explikation, Fiktion und Fakten
  • 3.3.2 Hypercomics
  • 3.3.3 Motion Comics
  • 3.3.4 Open Canvas
  • 4. Implikationen auf den Produktionsprozess
  • 5. Bibliografie
  • Inszeniertes Science-tainment? Hybride oder differenzierte Spielformen im populären Wissenschaftsjournalismus
  • 1. Einleitung
  • 2. Wenn und wie Unterhaltung unterhält ...
  • 3. Magaziniertes Science-tainment – das italienische Monatsblatt FOCUS
  • 4. Das „Dossier“ – eine multimodale Text-Collage mit System
  • 5. Multimodal inszenierte Hirnforschung im FOCUS-Dossier – ein Beispiel für Science-tainment ?
  • 6. Schlussüberlegungen
  • 7. Literatur
  • Leserbriefe in Trendsportmagazinen: Beobachtungen zur Ausdifferenzierung einer Textsorte
  • 1. Einleitung: Hybridisierung und Ausdifferenzierung in Trendsportmagazinen
  • 2. Windsurf- und Snowboardmagazine im Überblick
  • 3. Leserbriefe in Windsurf- und Snowboardmagazinen
  • 3.1 Leserbriefe als Pressetextsorte
  • 3.2 Typologie von Leserbriefen in Windsurf- und Snowboardmagazinen
  • 3.2.1 Lob/Kritik/Anregungen
  • 3.2.2 Lebenshilfe
  • 3.2.3 Leserbriefe im Rahmen von Aktionen
  • 3.2.4 Leserbriefe zur Selbstdarstellung
  • 4. Zusammenfassung
  • 5. Bibliografie
  • Themenelaboration im Endlostext: Vom Mustermix zur Musterauflösung
  • 1. Fragestellung
  • 2. Thema, Text, Diskurs
  • 2.1 Texttheoretischer Hintergrund
  • 2.2 Textmuster „Gegenstand/Kerninformation - Deskription“
  • 2.3 Textmuster „Frage /Argumentation“
  • 2.4 Vergleich der Textmuster
  • 3. Themenelaboration auf der Basis von Fragmentierung, Vernetzung und Interaktivität
  • 3.1 Kohärenzareale auf der Website
  • 3.2 Portionierung und Fragmentierung
  • 3.3 Vernetzung
  • 3.4 Interaktivität, Interaktion und Partizipation
  • 4. Themenelaboration: Print- und Hypertext im Vergleich
  • 5. Bibliographie
  • Quellen
  • Print – Online – App – Mobil: Die Ausdifferenzierung des Zeitungsberichts am Beispiel der Salzburger Nachrichten
  • 1. Einführung
  • 1.1 Definitionen aus der klassichen Textlinguistik
  • 1.2 Transmedialität vs. Medienwechsel
  • 1.3 Untersuchte Publikationsformen
  • 2. Datenanalyse
  • 2.1 Sprachlicher Text
  • 2.1.1 Hintergrundinformation
  • 2.1.2 Archiv
  • 2.1.3 Struktur
  • 2.1.4 Textvergleich – Zusammenfassung Tab. 1: Zusammenfassung: Text
  • 2.2 Kontext
  • 2.3 Paratext
  • Druck:
  • Online:
  • App:
  • Mobil:
  • 2.3.1 Cliffhanger: wie viel wird auf der Titelseite verraten?
  • Druck:
  • Online:
  • App:
  • Mobil:
  • 2.3.2 Dynamischer Paratext
  • 2.4 Rezeptionssteuerung
  • Druck:
  • Online:
  • App:
  • Mobil:
  • 2.5 Funktion
  • 2.5.1 Kommentarfunktion
  • Druck:
  • Online:
  • App (tablet):
  • Mobil (Smartphone):
  • 2.5.2 Umgang mit Bildern
  • Druck:
  • Online:
  • App:
  • Mobil:
  • 2.5.3 Texte speichern
  • 2.5.4 Texte teilen
  • 3. Zusammenfassung
  • 3.1 Transmedialität oder Medienwechsel
  • 3.2 Transmediale Ausdifferenzierung des Zeitungsberichts
  • 4. Bibliografie
  • Nonstandard in Zeitungen der Deutschschweiz. Aktuelle Tendenzen und Ausdifferenzierung im plurizentrischen deutschsprachigen Raum
  • 1. Zeitungssprachgebrauch
  • 2. Facetten des Nonstandards
  • 2.1 Mediale und metaphorische ‚Mündlichkeit‘
  • 2.2 Gleichzeitigkeit von Standard und Nonstandard
  • 2.3 Unmarkierter und markierter Dialektgebrauch in öffentlichen Texten (Internet und Zeitungen)
  • 2.4 Enregisterment des Dialekts im Zeitungssprachgebrauch
  • 3. Nonstandard in Deutschschweizer Zeitungen
  • 3.1 (’)nen in Zeitungen Deutschlands und der Deutschschweiz
  • 3.2 Nonstandardschreibungen in Zeitungen der Deutschschweiz
  • 3.3 Hybridisierung und Erweiterung des Nonstandardspektrums
  • 4. Diskussion
  • 5. Literatur
  • A. Nachschlagewerke:
  • B. Korpora und Archive:
  • Series Index

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Hybridisierung und Ausdifferenzierung – Einführende begriffliche und theoretische Anmerkungen

STEFAN HAUSER / MARTIN LUGINBÜHL

Hybridisierung und Ausdifferenzierung sind zwei Begriffe, deren analytisches Potenzial sich aus unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen und medienanalytischen Diskursen speist. Für eine an Textsorten interessierte Medienlinguistik bieten die beiden Begriffe bzw. Konzepte eine Reihe theoretischer Anknüpfungspunkte, die mit diesem Sammelband ausgelotet werden sollen. Der vorliegende Text vermittelt einen kurzen Überblick über verschiedene Konzeptionen von „Hybridisierung“ und „Ausdifferenzierung“ und verbindet damit das Ziel, zu skizzieren, welche Anschlussmöglichkeiten für text- und medienlinguistische Analysen die beiden Begriffe bieten. Dabei sollen nicht nur Überlegungen angestellt werden, die das kulturanalytische Moment der Text- und Medienlinguisik in den Vordergrund rücken, sondern es soll darüber hinaus auch darum gehen, die text- und medienlinguistische Theoriediskussion durch die Berücksichtigung von Phänomenen der Hybridisierung und Ausdifferenzierung zu bereichern.

1. Konzepte der Hybridisierung und Ausdifferenzierung

Hybridisierung und Ausdifferenzierung sind nicht nur in vielfältigen Erscheinungsformen beobachtbar, sondern lassen sich auch in praktisch allen Bereichen massenmedialer Kommunikation nachweisen. Entsprechend der weithin anerkannten Bedeutung dieser Phänomene haben sich unterschiedliche, disziplinär geprägte Konzeptionen etabliert. Mit den folgenden Ausführungen wird zwar keine umfassende begriffsgeschichtliche Darstellung geleistet (vgl. dazu Ha [2005]), aber es sollen für medienlinguistische Kontexte relevante Aspekte beleuchtet werden, um damit einen umfassenderen Kontext der in diesem Sammelband vereinten Beiträge zu skizzieren. ← 7 | 8 →

Der Begriff „Hybridität“ ist in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen und Wissenschaftskontexten verankert.1 Dennoch haben die unterschiedlichen Denotationen eine gemeinsame epistemologische Grundlage und zielen auf vergleichbare Phänomenbereiche. Ein verbindendes Element der unterschiedlichen Zugangsweisen zur Hybridisierung ist, dass es um Phänomene geht, die im Rahmen von Kontaktprozessen bedeutsam werden: Es geht um Möglichkeiten und Bedingungen der Kombination und Verflechtung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Codes, aus denen neuartige Lösungen resultieren. In der geistes- und kulturwissenschaftlichen Literatur wird betont, dass Hybridisierung zur Herausbildung neuer ‚emergenter‘ kultureller Praktiken führt.

Der Begriff der Hybridisierung ist aus der Biologie entlehnt, wo er ‚Kreuzung‘ oder ‚Mischling‘ bedeutet und die Vermischung zweier oder mehrerer deutlich verschiedener Spezies bezeichnet, die zusammen ein Neues ergeben (Seibel 2003: 67). Während der Begriff in der Biologie bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur selten verwendet wurde (Ackermann 2012: 6), so erhielt er im rassentheoretischen und kolonialen Diskurs des 19. Jahrhunderts eine deutlich negative Konnotation, die in der ‚Verunreinigung‘ ursprünglich ‚reiner‘ Rassen gesehen wurde (Ackermann 2012: 6f.). Diese Konnotation veränderte sich aber im Nachgang der Entdeckung der Mendelschen Gesetze und der Entwicklung der Genetik im 20. Jahrhundert, in welcher Hybridisierung zunehmend positiv mit einer Bereicherung des Genpools konnotiert wurde (Sanchez-Stockhammer 2012: 134). Allgemein kann Hybridisierung wie folgt definiert werden:

[…] a process whereby separate and disparate entities or processes generate another entity or process (the hybrid), which shares certain features with each of its sources but which is not purely compositional. (Sanchez-Stockhammer 2012: 134)

Bei der Hybridisierung entsteht somit etwas Neues durch die Mischung selbst, die über die reine Komposition der Einheiten hinausgeht. ← 8 | 9 →

Anfang des 20. Jahrhunderts war Hybridisierung insbesondere in der Soziologie, der Anthropologie und der Geschichtswissenschaft präsent, wo das Konzept zunächst im Kontext urbaner Migration diskutiert wurde (Ackermann 2012: 7). Auf einer abstrakteren Ebene verwendete der Ethnologe Lévi-Strauss (1962) Hybridisierung im Bezug auf Mythologie und soziale Ordnung, wobei die Konzepte der De-Kontextualisierung und Re-Kontextualisierung zentral geworden sind, mit denen Lévi-Strauss eine „bricolage“ bezeichnet, in der ein Element aus dem Originalkontext herausgelöst und in einen neuen Kontext eingefügt wird.

In den 1980er Jahren erfolgte im Kontext postkolonialer Studien eine Neupositionierung des Begriffs der Hybridisierung (Griem 2003: 68), welcher den Begriff von den Verflechtungen mit Biologismus, Rassismus und kulturellem Essentialismus löst (wenn auch für einige Kritiker nur vermeintlich, vgl. Griem 2003: 69). Im postkolonialen Diskurs verwurzelte Literaturwissenschaftler wie Said oder Bhabha betonen, dass keine Kultur von globaler Zirkulation ausgeschlossen ist und deshalb Kulturen per se hybrid sind (dazu Ackermann 2012: 11f.); im Zentrum des Interesses stehen deshalb Übergänge, Brüche und Widersprüche – und weniger Herkunft und Homogenität (ebd.: 12).

Postkoloniale Theorien beruhen (neben Arbeiten zur Psychoanalyse Derridas und Lacans) im Kern auf Arbeiten von Bachtin2, der somit die Übertragung des Begriffs „Hybridisierung“ auf die Kulturwissenschaft wesentlich mitgeprägt hat. Bachtin (1981) versteht unter Hybridisierung das Vermögen von Sprachen, in einer einzigen Äußerung zweistimmig bzw. „heteroglossisch“ zu sein, also zwei verschiedene Stimmen zum Ausdruck zu bringen, wobei die eine die andere ironisieren oder demaskieren kann:

What is hybridization? It is a mixture of two social languages within the limits of a single utterance, an encounter, within the arena of an utterance, between two different linguistic consciousnesses, separated from one another by an epoch, by social differentiation or by some other factor. (Bachtin 1981: 358) ← 9 | 10 →

Diese Art von Hybridisierung stellt bei Bachtin eine von drei Arten dar, Sprache im Roman abzubilden. Und es ist dieses Vermögen der Sprache zur Zweistimmigkeit, die eine dekonstruktivistische Basis postkolonialer Theorien zu kultureller Hybridität legt: Diese potenzielle Zweistimmigkeit bedingt, dass der Ausdruck kultureller Bedeutungen in semiotischen Praktiken immer ein ambivalenter Prozess ist, sodass eine ursprüngliche „Reinheit“ oder Homogenität von Kulturen (und Identitäten) grundsätzlich unmöglich ist (Bonz/Struve 2006: 144f.). Und es ist diese Zweistimmigkeit, die über Sprache einen „dritten Raum“ („third place“, Bhabha 1994: 37f.) möglich macht, der einen Weg öffnet – so Bhabha – zur Konzipierung einer internationalen Kultur, in der die grundsätzliche Hybridität und Heterogenität von Kultur, ihre unlösbare und gegenseitige Durchdringung zum Ausdruck kommt. Dabei verstärkt das Hybride die Differenzen, die den Kulturen innewohnen, und Hybridisierung etabliert somit auch eine subversive Kategorie, welche dominante Diskurse destabilisiert (Ackermann 2012: 12).

In der postkolonialen Literatur- und Kulturwissenschaft wird Hybridisierung somit gleichzeitig als allgegenwärtig und als subversive Strategie konzeptualisiert. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Unterscheidung Bachtins zentral. Er unterscheidet unabsichtliche (bzw. „organic“, 1981: 360) und intentionale Hybridisierung (ebd.). Unbeabsichtigte Hybridisierung betrachtet er als zentralen Modus des historischen Lebens und Werdens von Sprache, die beabsichtige versteht er als künstlerisches Verfahren, z. B. als Formen der Stilisierung und Parodie; hier werden Stimmen nicht einfach gemischt, sondern einander bewusst gegenübergestellt. In beiden Fällen resultiert aus der Hybridisierung eine neue Weltsicht (vgl. Ackermann 2012: 12). Es ist nun die intentionale Hybridisierung, die Bhabha zu einem aktiven Moment des Widerstands transformiert (Grimm 1997: 40).3 ← 10 | 11 →

Im Zusammenhang mit Phänomenen, die wir bis jetzt als Hybridisierungs-Phänomene beschrieben haben, ist gelegentlich auch die Rede von „Konvergenz“. Darunter wird meist eine zunehmende kulturelle Angleichung als Folge globaler Interdependenz und Verflechtung verstanden (vgl. Nederveen Pieterse 1999: 167); erwartet wird dementsprechend kulturelle Homogenisierung (was sich etwa in Schlagworten wir Amerikanisierung, Verwestlichung oder McDonaldisierung niederschlagen kann). Die verbreitete Vorstellung eines solchen fortschreitenden Prozesses der Homogenisierung ist jedoch sowohl durch die theoretische als auch durch die empirische Forschung widerlegt worden (vgl. Kellner 1995, Tomlinson 1999, Lull 2002, Winter 2003). Vielmehr sind Prozesse der Globalisierung als Prozesse der Übersetzung und Reterritorialisierung zu verstehen, durch die vielfältige Bedeutungen in ungewohnten neuen Kombinationen entstehen. Daraus ergibt sich eine wesentlich komplexere Dynamik, als Konvergenz dies impliziert; es ist dabei auch mit inneren Widersprüchen, inneren Differenzen und mit Fragmentierung zu rechnen (Rademacher 1999: 256).

Während für das Konzept der Hybridisierung Prozesse des Mischens und Kombinierens maßgebend sind, basiert das Konzept der Ausdifferenzierung auf der Annahme, dass sich eine etablierte Musterkonfiguration in zwei oder mehr stabil zu beobachtende Konfigurationen aufteilt. Eine mit dem Hybridisierungsdiskurs vergleichbare Theoriedebatte gibt es mit Bezug auf den Begriff Ausdifferenzierung allerdings nicht. Es findet sich zwar eine große Zahl medienlinguistischer Arbeiten, die sich mit Fragen des Textsortenwandels – und in diesem Zusammenhang mit Aspekten der Ausdifferenzierung – befassen (z. B. Sandig 1972, Püschel 1991, Schwitalla 1993, Gaberell 2000). Diese Arbeiten sind jedoch mehrheitlich deskriptiv angelegt und weisen bezüglich des Phänomens der Ausdifferenzierung einen vergleichsweise tiefen Grad an Theoretisierung auf. In der Systemtheorie hingegen wird „Ausdifferenzierung“ verstanden als eine Optimierung der Anpassung eines Teilsystems an eine neue Umwelt (vgl. Bucher et al. 2010: 15). Dem Versuch systemtheoretische und textsortenlinguistische Konzepte aufeinander zu ← 11 | 12 →hen liegt die Annahme zugrunde, dass Textsorten „in der Herstellung medial vermittelter Beziehungen zwischen Systemen [...] eine herausragende operative Rolle“ (Gansel 2011, 73) zukommt. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Evolution von Pressetextsorten postuliert Ramge, dass sich Prozesse der „Schematisierung und Differenzierung von Pressetextsorten“ (Ramge 2008: 40) systemtheoretisch erklären lassen. Ähnlich argumentiert Furthmann (2008), die Textsortenwandel „als eine Folge systemtheoretisch zu begründender Reflexivität und struktureller Kopplungsprozesse“ (Furthmann 2008: 107) beschreibt.4

Obwohl Hybridisierung und Ausdifferenzierung in der Literatur oft als komplementäre Prozesse behandelt werden, schließen sie sich nicht prinzipiell aus: Ausdifferenzierung kann durch Hybridisierung erfolgen, wenn nämlich die vermischten Entitäten als solche weiterexistieren. Die beiden Prozesstypen sind also einerseits als komplementär konzeptualisierbar, andererseits sind sie aber auch als simultan und interpenetrierend denkbar (Ackermann 2012: 20). Aus einer text- und medienlinguistischen Perspektive scheinen diachrone und medienvergleichende Ansätze hier besonders geeignet, um die Frage zu diskutieren, welche (technischen, funktionalen, sozio-kulturellen) Faktoren Hybridisierung und Ausdifferenzierung begünstigen – oder allenfalls beschränken.

2. Medien- und textlinguistische Perspektiven auf Hybridisierung und Ausdifferenzierung

Hybridisierung und Ausdifferenzierung, das haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, sind keine einfach zu fassenden Konzepte. Dennoch bieten ← 12 | 13 →sie eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten für text(sorten)lin-guistische und medienlinguistische Analysen.5

Besonders in ihren Anfängen hat sich die Textlinguistik auf tendenziell statische, musterhaft vorgeprägte Aspekte von Textsorten und dementsprechend auf Textsorten mit eher wenig Variationsbreite konzentriert. Mit Begriffen wie ‚Textsorte‘ und ‚Textmuster‘ hat man lange Zeit eher die Stabilität kommunikativer Muster betont, was auch mit einem mehr oder weniger dekontextualisierten Blick der frühen Textlinguistik auf Form- und Inhaltsaspekte der Texte selbst zu tun hat. Textsorten erscheinen so mehr oder weniger als Kategorien, die von den Textsorten selbst gemacht werden, als ontologische Kategorien. Frühe Kategorisierungsbemühungen von Textsorten streben dementsprechend auch eine Unterscheidung von Sorten an, die nicht nur exhaustiv, sondern auch distinktiv sind und somit als ‚rein‘ bzw. homogen konzeptualisiert wurden (vgl. dazu insbesondere Isenberg 1978).

In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion um Hybridisierung wurde intensiv diskutiert, inwiefern mit dem Konzept der Hybridisierung die Vorstellung ursprünglich ‚reiner‘ Kulturen sozusagen durch die Hintertür, aber letztlich zwingend wieder etabliert wird (dazu Griem 2003: 69).6 Auch Allen (2013: o. S.) schreibt im Zusammenhang mit „genres“:

The concept of ‘hybridity’ is thinkable only in connection with its opposite – that of ‘purity’ – which is located at both poles. ← 13 | 14 →

Und dies wiederum würde eine essentialistische Auffassung von Textsorten festigen (ebd.). In jüngerer Zeit wurde der Fokus in der Textlinguistik aber auch auf die Variation innerhalb von Mustern gelegt und damit auf Textsorten mit größerer Variationsbreite (Adamzik 2004: 102). Zudem wurden Textsorten zunehmend im Kontext sozialer Interaktion erforscht und somit nicht mehr als essentialistische Kategorien konzeptualisiert.

Es ist unterdessen weitgehender Konsens, dass Textsorten einerseits ein gewisses Maß an Stabilität aufweisen müssen, um als gemeinsamer Referenzpunkt fungieren zu können und so Kommunikation zu ermöglichen. Andererseits müssen sie jedoch auch flexibel genug sein, um sich wandelnden Bedürfnissen und Situationen anzupassen. Somit haben Textsorten immer eine stabilisierende Funktion, gleichzeitig jedoch auch eine dynamische Seite, weil sie nicht nur Voraussetzung von sozialem Handeln sind, sondern auch dessen Ergebnis (dazu Devitt 2004: 116).7 Versteht man Textsorten als „social action“ (Miller 1994), als Formen der Weltaneigung und -gestaltung, ist ein Bezug auf das Konzept der ‚kommunikativen Gattungen‘ von Luckmann (1988) sinnvoll (dazu Günthner/Knoblauch 2000). Luckmann versteht darunter eine „routinisierte[n] und mehr oder weniger verpflichtende[n] Lösung bestimmter kommunikativer Probleme“ (Luckmann 1988: 282, Hervorhebung im Original). Diese erzeugen eine „symbolische Sinnwelt“ (Berger/Luckmann 1977: 104), indem sie Erfahrungen der Lebenswelt eben in „mehr oder weniger verpflichtende[n]“ Formen thematisieren, bewältigen, vermitteln und tradieren.

Textlinguistik ist heute charakterisierbar durch eine kombinierte Sicht auf symbolische Bedeutung und Form sowie die Berücksichtigung von Stabilität bei gleichzeitiger Flexibilität: Textsorten werden als prototypisch strukturierte „Ethnokategorien“ (dazu Luginbühl/Perrin 2011) ← 14 | 15 → konzeptualisiert (zur Prototypikalität vgl. Sandig 2000), die nicht nur im Hinblick auf ihre Form, sondern auch auf ihren Inhalt, ihre situativen Merkmale und ihre kommunikative Funktion analysiert werden. Die Form von Textsorten spielt gerade im Kontext einer kulturanalytisch ausgerichteten Textlinguistik wieder eine zentrale Rolle (Linke 2011, Luginbühl 2014), allerdings in einem neuen analytischen Zusammenhang. Während die frühe dekontextualisierte Fokussierung der Textlinguistik auf die Form als „formalism“ (Devitt 2009: 28) zu verwerfen ist, so wird Form heute als kontextualisierter „materialism“ (ebd.: 31) wieder zentral: Denn es ist die Form, in welcher die oben erwähnten symbolischen Sinnwelten zum Ausdruck gebracht und in der Kommunikation für andere wahrnehmbar und somit verhandelbar gemacht werden. Die Form bietet damit auch einen analytischen Zugang zu materialisierten symbolischen Sinnwelten und somit einen analytischen Zugang zu kulturellen Werten, die immer über symbolische Formen etabliert und kommuniziert werden (müssen).8 Form wird somit wieder zentral, aber nun analysiert im Kontext des Gebrauchs in sozialer Interaktion. Prozesse der Hybridisierung und Ausdifferenzierung als Prozesse, die sich immer auch auf der Formseite einer Textsorte zeigen, erhalten somit eine zusätzliche semiotische Potenz, die es zu analysieren gilt.

Die prototypische Konzeptualisierung von Textsorten bedeutet auch, dass mit Übergängen zwischen einzelnen Textsorten gerechnet werden muss – was ohnehin unumgänglich ist, wenn Textsorten gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen analysiert werden. Mit einer solchen Konzeptualisierung von Textsorten sind Hybride kein Ausnahmefall, sondern erwartbar – wobei natürlich nicht nur mit Hybriden gerechnet werden muss, die selbst wiederum Stabilität erlangen und Textsorten bilden, sondern auch mit okkasionellen Hybriden. Auf diese unscharfen Grenzen zwischen Textsorten, die mit „genre mixing“ (Geertz 1980: 165) zusammenhängen, hat Geertz bereits 1980 in seinem Aufsatz „blurred genres“ hingewiesen – ebenso auf den Zusammenhang derartiger Dynamiken mit der „refiguration of social thought“ – so der Untertitel des Beitrags. ← 15 | 16 →

Hybridisierung und Ausdifferenzierung von Textsorten meint nun in diesem Textsortenverständnis nicht mehr zwingend, dass ‚reine‘ oder homogene Textsorten vermischt bzw. ausdifferenziert werden. Vielmehr werden für eine Gruppe während einer längeren Zeit stabile Textsorten vermischt bzw. ausdifferenziert, wobei es (im Gegensatz zu Hybriden im biologischen Sinn) problemlos auch Hybride selbst sein können, die gemischt oder ausdifferenziert werden. Es ist mit einem Blick in die Textsortengeschichte sogar davon auszugehen, dass Textsorten bei ihrer Genese auf bereits etablierten Mustern aufbauen und somit Resultate linguistischer Hybridisierung bzw. Ausdifferenzierung darstellen (Sanchez-Stockhammer 2012: 147). So wurde in der Textlinguistik schon früh vom „stilistische[n] Trägheitsgesetz“ (Bausinger 1972: 81) gesprochen, demzufolge bei der Gestaltung von Texten in neuen Medien zunächst auf die (bekannte) Gestaltung von Texten aus alten Medien zurückgegriffen wird. Erst allmählich bilden sich dann „mediengerechte“ (ebd.) Ausgestaltungen aus. Diese (in Bachtins Terminologie „organische“) Form der Textsortengenese, in der neue Textsorten aus bereits existierenden emergieren, zählt Devitt (2004: 92–101) zur gängigsten – andere Fälle, in denen einige Individuen neue Textsorten hervorbringen oder gar neue Textsorten bewusst konstituiert werden, existieren auch (ebd.), stellen aber Ausnahmen dar.

Textsortengenese, die durch die Mischung von Merkmalen mehrerer bereits existierender Textsorten basiert, wird in der Textlinguistik unterschiedlich terminologisiert. Brock (2009: 240) spricht von „Hybridbildungen“, Bhatia (2004: 128) von „interdiscursivity“, die bei der „genre construction“ (ebd.) wichtig ist. Beide Autoren machen dann weitere Unterscheidungen innerhalb dieser Kategorien. So unterscheidet Brock (2009: 243f.) u. a. „Sequenzielle Musterkombination“ und „Mustermischung“. In einer sequenziellen Musterkombination werden Muster einzelner Textsorten in einer Sequenz aneinandergereiht, wobei diese Reihe dennoch ein kohärentes Textexemplar bildet, das nach außen deliminiert ist (ein Beispiel wäre eine Late-Night-Show); Fix (1999: 21) spricht hier von „Textsortenmontage“, Fairclough (1995: 88) von „sequential form“. Im Fall der Mustermischung werden Eigenschaften von zwei oder mehr Mustern so ineinander verwoben, dass die einzelnen Textteile immer gleichzeitig beiden Mustern zugeordnet werden können ← 16 | 17 → (Beispiel: Advertorial). Alternative Begriffe (allerdings natürlich mit jeweils unterschiedlichen metaphorischen Implikationen) sind „Fusion“ (Gaberell 2000: 166), „Musterüberblendung“ (Linke 2001: 209) oder „Gattungsüberschneidung“ (Wilhelm 2001: 471). Fairclough (1995: 89) spricht von „mixing“ und betont mit einem Verweis auf Bachtin, dass derartige Texte „generically polyphonic“ (ebd.) sind.

Bhatia (2008: 176) spricht ebenfalls von „mixing“ und verweist andernorts darauf, dass eine solche Form die Folge einer „colonization“ sein kann:

Colonization as a proeess thus involves invasion of the integrity of one genre by another genre or genre convention, often leading to the creation of a hybrid form. (Bhatia 2004 : 58)

Die Metaphorik legt hier eine illegitime Art der Vereinnahmung einer Textsorte durch eine andere Nahe – Bhatia illustriert dies in erster Linie an der „Kolonisierung“ informativer wissenschaftlicher Texte mit „promotional functions“ (ebd.: 89).

Für die Analyse von Prozessen der Textsortenhybridisierung und -ausdifferenzierung ist zunächst der Kontext der „social action“ ausschlaggebend: Hybridisierung und Ausdifferenzierung sind Möglichkeiten, neue oder sich ändernde kommunikative Bedürfnisse zu erfüllen, also neue kommunikative „Probleme“ zu lösen bzw. (etwas neutraler formuliert) kommunikative Aufgaben zu erledigen. Da nun aber mit neuen sprachlichen Mitteln immer auch neue Situationen mitgeschaffen werden, ist natürlich auch damit zu rechnen, dass mit neuen Textsorten auch neue Situationen und neue soziale Verhältnisse geschaffen werden. Versteht man Textsorten als zentrale Form kultureller Prozesse und damit auch kultureller Praktiken, so hängen kulturelle Dynamik und Textsortenhybridisierung und -ausdifferenzierung in einem Zusammenhang, wobei davon ausgegangen wird, dass kommunikative Aufgaben ebenso wenig statisch sind wie Kulturen.

Wie bereits erwähnt, wird mit der Wahl einer bestimmten Textsorte immer auch ein bestimmtes Sprechereignis konstituiert. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass eine kommunikative Funktion die Form (syntaktisch, lexikalisch, stilistisch, medial) bestimmt. Bachtin formulierte dieses „Form-follows-function-Prinizip“ (vgl. dazu Bucher et al. 2010: ← 17 | 18 → 27). Nun ist es aber nicht so, dass kommunikative Funktionen ganz bestimmte Formen zwingend verlangen; viel eher ist es so, dass wir innerhalb eines (je nach Textsorte unterschiedlich großen) Spielraums die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten haben, eine kommunikative Funktion zu realisieren. Dieses Moment der Wahl rückt die – in der Textlinguistik lange Zeit marginalisierte – Bedeutung des Textsortenstils in den Vordergrund. Forschungen aus dem Bereich der Textstilistik und der kulturalistischen Textanalyse weisen darauf hin, dass nicht nur die Funktion über die Form bestimmt, sondern auch umgekehrt die stilistische Form die Bedeutung und damit die Funktion eines Textes beeinflusst und so Form und Funktion interdependent sind (Devitt 2009, Linke 2011).

Mit dieser Verbindung von Textsorten-Alltagswissen und der Konstitution von Sprechereignissen ist auch die „soziokulturelle Verankerung“ (Günthner/Knoblauch 2000: 816), in denen Textsorten stehen, angesprochen – und damit ist eine Verbindungsmöglichkeit von linguistischer Analyse und sozialer Praxis in einem bestimmten kulturellen Umfeld gegeben (ebd.). Und diese Anlehnung an die sozialwissenschaftliche Gattungstheorie beinhaltet ebenfalls ein Verständnis von Textsorten, das diese nicht als statische Größen außerhalb eines sozialen Kontextes sieht, sondern im Gegenteil als dynamische Größen, als kulturelle Praktiken. Wenn Textsorten ihren „Sitz im Leben“ (Rehbein 1985: 28) haben, dann wohnt der Textsortenanalyse ein weitreichendes gesellschaftsanalytisches Potenzial inne9.

Diese Perspektive auf Textsorten als kulturelle Praktiken ist auch bei der Analyse kulturellen Stils im Zusammenhang mit De- und Re-Kontextualisierungen zentral (dazu etwa Linell 1998, Wodak 2000). Bei diesen Bricolage-Prozessen, die sich auf die Hybridisierung von Einzeltexten wie von einzelnen Textsortenmerkmalen beziehen können, werden die entsprechenden Inhalte und/oder Formen aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und als stilistische Ressource in einen neuen Kontext integriert und so für kulturelle Identitätsarbeit genutzt. In der germanistischen Linguistik wurde Bricolage vor allem in gesprächsanalytischen Studien zur Jugendsprache untersucht (s. dazu etwa die frühe Studie von ← 18 | 19 → Schlobinski 1989). In diesem Prozess der De- und Re-Kontextualisierung wird das Dekontextualisierte partiell transformiert und gewinnt im neuen Kontext einen neuen Sinn.

Wenn wir nun – aus einer spezifisch textsortenlinguistischen Perspektive – unter Hybridisierung die Vermischung oder Verschmelzung von Textmustern verstehen, so kann sich dies auf verschiedene Ebenen von Textualität beziehen – wobei Entsprechendes auch für die Ausdifferenzierung gilt. Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

Ebene der Formen
Ebene der Inhalte
Ebene der Funktionen
mehrere Ebenen

Dabei sind diese Ebenen grundsätzlich interdependent; es handelt sich bei dieser Aufzählung also um eine analytische Trennung. M.a.W.: Wenn Formen vermischt werden, hat dies typischerweise (allerdings nicht zwingend) auch Konsequenzen für die Funktion von Texten; dasselbe gilt, wenn Inhalte vermischt werden. Diese Unterscheidung hat deshalb primär heuristischen Wert. Zudem handelt es sich, wie oben erwähnt, bei diesen zwei Prozessen nicht um sich gegenseitig ausschließende, vielmehr kann Hybridisierung zu Ausdifferenzierung führen, wenn etwa durch die Integration neuer Elemente neue Muster und Sorten entstehen und so ausdifferenziert wird. Derartiger Zeichengebrauchswandel basiert jeweils auf der Basis in einer sozialen Gruppe existierender Muster, die mindestens für eine gewisse Dauer stabil sind, sodass sie von Mitgliedern der Gruppe als Textsorten wahrgenommen werden.

Details

Seiten
418
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783035107975
ISBN (ePUB)
9783035194173
ISBN (MOBI)
9783035194166
ISBN (Paperback)
9783034316248
DOI
10.3726/978-3-0351-0797-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Textsortengeschichte Textmuster Kommunikationspraktiken
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 418 S., zahlr. Tab. und Abb.

Biographische Angaben

Stefan Hauser (Band-Herausgeber:in) Martin Luginbühl (Band-Herausgeber:in)

Martin Luginbühl ist ordentlicher Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Neuchâtel (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Medienlinguistik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse und Kulturlinguistik. Stefan Hauser ist Co-Leiter des Zentrums Mündlichkeit an der Pädagogischen Hochschule Zug. Forschungsschwerpunkte: Text- und Medienlinguistik, Gesprächslinguistik und Phraseologie.

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Titel: Hybridisierung und Ausdifferenzierung
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