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Prophetie und Politik

Die «Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii» des Alanus Flandrensis – Edition mit Übersetzung und Kommentar – Band 1 / Band 2

von Clara Wille (Autor:in)
©2015 Andere VI, 864 Seiten

Zusammenfassung

Um 1138 schrieb Geoffrey von Monmouth seine Historia regum Britanniae, die erste Darstellung der Artuslegende. Darin eingelegt sind die dunklen, bildgesättigten Aussprüche des Zauberers und Propheten Merlin. Teils behandeln sie die Vergangenheit der Britischen Inseln, teils sind sie Weissagungen auf ihre Zukunft. Sogleich zeigte sich das Bedürfnis, sie auszudeuten. Unter den zahlreichen Kommentaren ist die Explanatio in prophetia Merlini Ambrosii (um 1170) der umfassendste. Darin werden auch die Weissagungen auf die damalige Zukunft interpretiert. Als Urheber dieser umfangreichen Schrift gilt ein gewisser Alanus, gebürtig von Lille, später Bischof von Auxerre. Konkret wird darin auf das anglonormannische Königtum – auch in seinen Beziehungen zu Frankreich – eingegangen, auf die dynastischen Kämpfe und das Verhältnis von Kirche und weltlicher Macht. Die Sitten der Zeit werden gegeisselt: das Hofleben, die Priesterehe, ferner Zauberei und Aberglaube.
Der Text, bisher nur in Drucken des 17. Jahrhunderts zugänglich, wird im vorliegenden Werk erstmals kritisch ediert, in eine moderne Sprache übersetzt und im Hinblick auf seine historischen, geistesgeschichtlichen und literarischen Belange kommentiert.

Inhaltsverzeichnis


← vi | 1 →Vorwort

Um 1138 veröffentlichte der Oxforder Gelehrte Geoffrey von Monmouth (Galfridus Monemutensis) seine Historia Regum Britannie, die berühmte erste Artus-Sage. Seit seinem Erscheinen war diesem Werk ein ausserordentlich grosser Erfolg beschieden, und sogleich setzte eine rege hermeneutische Tätigkeit ein. In der Mitte von Geoffreys Werk finden sich die Prophetiae Merlini, welche Geoffrey auch als selbständigen Text, dem sogenannten Libellus Merlini, veröffentlicht hatte1. Bis ins 17. Jahrhundert wurden die Prophezeiungen des Merlinus immer wieder abgeschrieben, übersetzt und kommentiert. Unter den zahlreichen Kommentaren ist die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii der umfangreichste Kommentar und einer der wenigen, die sämtliche Prophezeiungen umfassen.

Die Explanatio ist noch im 12. Jahrhundert entstanden und kann mit grosser Wahrscheinlichkeit Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre, einem Schüler Bernhards von Clairvaux, zugeschrieben werden. Wir besitzen drei Handschriften dieses Textes, wovon die älteste Ende 12. oder zu Anfang des 13. Jahrhunderts angelegt worden ist. Die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii, die bis heute nur in einer lateinischen und zudem schwer greifbaren Ausgabe des 17. Jahrhunderts vorhanden war, wird hier zum ersten Mal in einer modernen kritischen Edition zugänglich gemacht.

All denen, die diese Edition ermöglicht haben, möchte ich an dieser Stelle danken. Mein Dank gilt vor allem Herrn Prof. Dr. Richard Trachsler und Herrn Prof. Dr. Peter Stotz, die die Arbeit begleitet und betreut haben. Mein Dank gilt auch Darko Senekovic für die wertvollen Hinweise für die Beurteilung und Beschreibung der Handschriften und den Kollegen des Mittellateinischen und des Romanischen Seminars ← 1 | 2 → der Universität Zürich wie auch den vielen Freunden für zahlreiche Anregungen und Ratschläge.

Mein Dank gilt ferner den Bibliotheken, die mir Einblick in die Handschriften gewährten, Herrn Prof. Dr. Peter Stotz, der das Buch in die Reihe Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters aufgenommen hat, und dem Romanischen Seminar der Universität Zürich sowie dem Fonds für Altertumswissenschaft Zürich für die Gewährung grosszügiger Beiträge an die Druckkosten.

 

Zürich, September 2014

Clara Wille

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1REEVE, The transmission, S. 93–97.

← 2 | 3 → A

Einleitung ← 3 | 4 →

← 4 | 5 → Einleitung

Quamlibet enim de quacumque re propriae sint atque manifestae propheticae locutiones, necesse est ut eis etiam tropicae misceantur; quae maxime propter tardiores ingerunt doctoribus laboriosum disputandi exponendique negotium.2

I. Zu den Prophetie Merlini und ihrer Auslegung

Die Prophetie Merlini bilden den Mittelpunkt der berühmten ersten Artus-Sage, der sogenannten Historia Regum Britannie,3 die um 1138 vom Oxforder Gelehrten Geoffrey of Monmouth (Galfridus Monemutensis4) veröffentlicht wurde. Allerdings hatte Galfridus auf Bitten des mächtigen Bischofs Alexander von Lincoln schon um 1135 die Prophetie Merlini als unabhängigen Text veröffentlicht, wie er selbst in seinem Widmungsschreiben sagt.5 König Artus und der Prophet ← 5 | 6 → Merlinus, diese beiden berühmten Figuren der europäischen Literatur, treten in der Historia Regum Britannie zum ersten Mal zusammen auf.

Die Historia Regum Britannie erzählt die Geschichte der Briten von ihrem ersten König und Namensgeber Brutus, der nach dem Fall Trojas nach Britannien kommt, zu Vortegirnus, der nach dem Rückzug der römischen Legionen aus Britannien den britischen Thron usurpiert und beinahe an die Sachsen verliert, zu König Artus und der letzten Glanzzeit der britischen Herrschaft, bis zu ihrem letzten König, Cadwaladr, der 689 in Rom im Exil stirbt.

In der Mitte der Historia Regum Britannie, in der Erzählung über die Herrschaft des Usurpators Vortegirnus, tritt der Prophet Merlinus auf. Vortegirnus hat die Herrschaft an sich gerissen und einen Bürgerkrieg ausgelöst. Um sich gegen seine Feinde behaupten zu können, hat er die Sachsen holen lassen, die sich aber nach dem Sieg gegen ihn selbst wenden. Vortegirnus zieht sich darauf nach Wales zurück und lässt zu seinem Schutz einen Turm bauen, dessen Fundamente jedoch jede Nacht wieder einstürzen. Seine Weisen raten ihm nun, das Fundament mit dem Blut eines Kindes, das ohne einen Vater geboren wurde, zu besprengen. Merlinus wird gefunden und vor den König gebracht. Als Erstes eröffnet er dem König den wahren Grund, weshalb die Fundamente nicht stehen können. Unter dem Turm liegt ein unterirdischer See. In diesem See wohnen zwei Drachen, ein roter, der das Volk der Briten bedeutet, und ein weisser, der die Germanen darstellt. Sie liefern sich einen erbitterten Kampf. Hier gibt nun der Erzähler das Wort dem autochthonen Propheten Merlinus. Dieser fällt in Trance und sagt dem König und seinem Hof in prophetisch-verschlüsselter Sprache die Zukunft Britanniens bis zum Weltuntergang voraus: Ein Eber aus Cornwall, (der spätere König Artus in Prophezeiung 26), wird den Briten den Sieg bringen und sein Ruhm wird, wie es heisst, für die Erzähler Speise sein; ein germanischer Drache wird die Insel einnehmen und die Gottesfurcht wird darnieder liegen; blutiger Regen wird vom Himmel fallen (Prophezeiung 3–8); zuletzt wird ein Volk in Holz und eisernen Tuniken kommen (die Normannen in Prophezeiung 9) und ← 6 | 7 → die Insel erobern, bis schliesslich die Briten die Herrschaft über die Insel zurückgewinnen (P 20). Während man bis hier hinter den Symbolen noch gewisse historische Ereignisse erkennen kann, ist der letzte grosse Teil der Prophezeiungen (P 21–70) in einer schwer verständlichen symbolischen Sprache gehalten. Verschiedene Tiere, wie Löwen, Drachen und Wölfe, bekämpfen sich und bringen sich um, duellieren sich um eine Königin oder geben sich Unzucht und Trunk hin. Es gibt Wunderquellen, Steine, die sprechen, und Unheil verkündende Zeichen in der Natur, bis schliesslich in den letzten drei Prophezeiungen die Gestirne ihre Bahn verlassen und die Welt untergeht (P 72–74).

Die Historia Regum Britannie, wie auch die Prophetie Merlini als selbständiger Text, hatten sogleich nach ihrem Erscheinen einen ausserordentlich grossen Erfolg und wurden abgeschrieben, zitiert, interpretiert und übersetzt. Heute sind gut zweihundertzwanzig Handschriften der Historia Regum Britannie bekannt, von denen beinahe alle die Prophetie Merlini enthalten, sowie zusätzlich ungefähr achtzig Handschriften des sogenannten Libellus Merlini, des Textes der Prophezeiungen ohne die Historia.7 Viele dieser Handschriften enthalten zudem Kommentare zu den Prophezeiungen. Bis heute sind uns ungefähr vierzig solcher Kommentare bekannt, die zwischen dem 12. und 15. Jh. entstanden sind.8

Wie die nachstehende Tabelle veranschaulicht, sind die Prophezeiungen in zwei Hauptteile eingeteilt9 und zwar

1. in den Teil der Prophetie post euentum von der Zeit Merlins um die Mitte des 5. Jh., nach dem Rückzug der römischen Legionen aus Britannien, bis zur Zeit des Galfridus und der Abfassung der Prophetie Merlini und

2. den Teil der Prophetie ante euentum, ungefähr von 1135 und der Veröffentlichung des Libellus Merlini bis zum Weltuntergang.

← 7 | 8 → Tabelle 1: Die Struktur der Prophetie Merlini.

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← 8 | 9 → Für Galfridus verlief die Grenze zwischen den beiden Teilen, nämlich zwischen den Prophetie post euentum und den Prophetie ante euentum, natürlich bei der Veröffentlichung der Prophetie Merlini um 1135, das heisst bei Prophezeiung 12, die den Tod Heinrichs I. voraussagt, der im Dezember 1135 erfolgte. Die Prophetie ante euentum beginnen somit ungefähr im Jahr 1136 (mit P 13). Die Grenze zwischen Prophetie post euentum und ante euentum verschob sich jedoch für die Kommentatoren, die später lebten. Sie fuhren daher fort, die folgenden Prophezeiungen (P 13–20) bis zum Ende der Normannenherrschaft (gemeint ist der Herrschaft der Normandie über England, angekündigt in P 18: utramque insulam amittet Neustria et pristina dignitate spoliabitur10) und der Rückkehr der Briten an die Macht (in P 20 vorausgesagt) zu erläutern, und zwar jeder Kommentator bis zu seiner eigenen Zeit. Diese Struktur und die Sprache der Prophezeiungen erlaubte ihnen, sich zu der Herrschaft verschiedener anglonormannischer Könige und der Politik ihrer eigenen Zeit zu äussern.11 Einige fuhren daher fort, die Prophezeiungen bis zur Zeit Edwards II. zu erläutern, welcher anfangs 14. Jh., das heisst ungefähr hundertfünfzig Jahre nach der Entstehung der Prophetie Merlini an der Macht war. Edward II., dem man homosexuelle Liebschaften nachsagte, schrieb man den hircus Venerii castri in Prophezeiung 22 zu. 1399 verkündete Henry of Lancaster, der spätere König Heinrich IV., er sei der aper commercii, qui dispersos greges ad amissam pascuam reuocabit (P 26), das heisst, der Eber, der kommt, um die verstreuten Herden zu den verlorenen Weiden zurückzuführen.12 Jeanne d’Arc sagte in ihrem Prozess 1431, dass man sie mit der puella ex nemore canuto (P 32) identifiziere, dass sie aber nicht daran glaube.13 Die Beliebtheit der Prophezeiungen in der politischen Propaganda ← 9 | 10 → führte dazu, dass sie mehrmals von den englischen Herrschern im 15. und 16. Jh. unter Androhung hoher Strafen verboten wurden,14 und zwar wurde das erste Gesetz 1402 von demselben Heinrich IV. gegen die walisischen Spielleute erlassen, die, seiner Meinung nach, das Volk mit Prophezeiungen zu Rebellion und Aufruhr aufwiegelten.15 Das tridentinische Konzil setzte 1559 und 1564 den Merlini Angli liber obscurarum predictionum auf den Index der verbotenen Bücher, worauf ich im Kapitel über den Erstdruck noch zu sprechen komme.

Die früheste bekannte Erwähnung und Auslegung eines Teils der Prophezeiungen findet sich um 1135 bei Ordericus Vitalis. Ordericus war ein Zeitgenosse von Galfridus Monemutensis und Mönch des Klosters Saint-Evroul in der Normandie. Er erkannte, wie er sagt, in den Prophezeiungen die Turbulenzen der eigenen Zeit und er setzte den leo iusticie in Prophezeiung 11 mit dem mächtigen König Heinrich I. gleich.16 Galfridus und Ordericus hatten die Bürgerkriege in England und der Normandie nach dem Tod Wilhelms II. im August 1100 bis zum endgültigen Sieg Heinrichs I. bei Tinchbray im Jahre 1106 sowie die Glanzzeit des normannischen Hofs unter der Führung Heinrichs I. miterlebt, die in der Historia und im Speziellen in den Prophetie Merlini reflektiert werden. Heinrich I. herrschte wie sein Vater Wilhelm I. nach dem Sieg über seinen Bruder sowohl über die Normandie als auch über England. Offensichtlich erkannten die zeitgenössischen Politiker schon früh das Problem, das die Herrschaft über die anglonormannischen und später zusätzlich über die angevinischen Ländereien auf beiden Seiten des Kanals durch einen Herrscher – der zudem dem französischen König für seine Lehen auf dem Festland mit dem Lehenseid verpflichtet war – mit sich brachte. Die Normandie wurde schliesslich 1204 von König Philipp II. von Frankreich eingenommen.17 Der Adel der Normandie, ← 10 | 11 → der auf beiden Seiten des Kanals Lehen besass, musste sich bei Strafe verpflichten, entweder die Lehen in England oder aber die der Normandie aufzugeben. Die Lösung des aus Frankreich stammenden Adels von seiner Heimat und die zunehmende Bildung einer insularen englischen Identität nahmen ihren Anfang und die Symbiose zwischen den beiden Königreichen, die Wilhelm der Eroberer 1066 bei Hastings geschaffen hatte, löste sich auf.

Die politischen Anspielungen der Prophezeiungen wurden von vielen Zeitgenossen verstanden, doch für uns ist ein grosser Teil der in den Prophezeiungen erhaltenen Hinweise auf die damalige Zeit nicht mehr verständlich. Die erhaltenen Erwähnungen und Erläuterungen sind daher von besonders grossem Interesse und helfen uns, einen wichtigen Text der europäischen Literatur besser zu verstehen. Die meisten Kommentatoren waren nur an einer wörtlichen, das heisst historischen Auslegung der Prophezeiungen interessiert. Sie hörten mit ihren Erläuterungen irgendwo zwischen Prophezeiung 12 und 20 auf, das heisst vor der in Prophezeiung 20 angekündigten Rückkehr der Briten an die Macht, die sich noch nicht ereignet hat. Zwei Zeitgenossen Galfrids, Johannes von Cornwall und Ordericus Vitalis, zitieren und kommentieren zudem nur die Prophezeiungen 9–20, das heisst die Prophezeiungen, die die anglonormannische Herrschaft betreffen.18 Abgesehen von wenigen Ausnahmen entstanden diese Kommentare in klerikalen politischen Kreisen und sind lateinisch abgefasst.19 Die Kommentare beziehen sich auf die Politik Grossbritanniens und die Kommentatoren, ← 11 | 12 → deren Namen wir kennen, gehören alle den führenden Schichten am Hof und in der Kirche an.20 Die Prophezeiungen und ihre politische Wirkung scheinen demnach ein hauptsächlich anglonormannisches, das heisst englisches Phänomen zu sein.

Dagegen stellt die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii, um 1170 verfasst, in verschiedener Hinsicht eine Ausnahme dar. Sie ist der weitaus umfangreichste und ausführlichste dieser Kommentare und einer der wenigen, welche die ganzen Prophezeiungen behandeln. Die Prophetie post euentum werden, wie bei den anderen Kommentatoren, gemäss dem wörtlichen, historischen Sinn ausgelegt, die Prophetie ante euentum werden hingegen gemäss dem übertragenen moralisch-allegorischen Schriftsinn erläutert. Die Explanatio ist zudem der einzige der längeren Kommentare, der auf dem Kontinent entstanden ist, und bei den wenigen Handschriften, die uns erhalten sind, liegt die Vermutung Nahe, dass die Explanatio in England erst nach dem Erscheinen des Drucks 1603 in Frankfurt, im Zusammenhang mit der Reformation, bekannt geworden ist.21 Dazu ist zu bemerken, dass der Text im letzten Viertel des 12. Jh., das heisst relativ früh entstanden ist und in der exegetischen Tradition hätte aufgenommen werden müssen, wie es mit anderen Kommentaren der Fall gewesen ist. Jedenfalls liessen sich bis anhin keine Hinweise auf unseren Text von englischer Seite finden. Wie wir sehen werden, ist jedoch auch die Explanatio hauptsächlich ein politischer Text, der in der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und weltlicher Macht und im Speziellen zwischen Thomas Becket und Heinrich II. entstanden ist.

Wie im Kapitel über den Autor noch gezeigt wird, ist die Explanatio wahrscheinlich von Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre, in Clairvaux zwischen 1167 und 1174 verfasst worden.22 Für den Verfasser verläuft somit die Grenze zwischen den Prophetie post euentum und den Prophetie ante euentum um 1170. Im Jahr 1170 hatte der Streit ← 12 | 13 → zwischen König Heinrich II. und Thomas Becket, der Ende Dezember in Canterbury ermordet wurde, seinen Höhepunkt erreicht. In die Verhandlungen zwischen den Protagonisten dieses Streits war auch Alanus Flandrensis als Bischof von Auxerre mit einbezogen.23 Im Prolog zu der Explanatio erwähnt auch der Verfasser als Erstes die zeitgenössischen politischen Ereignisse in England, die ihn veranlassten, einen Kommentar zu den Prophezeiungen zu schreiben. Dann erläutert er die Anforderungen, die die Auslegung der Prophezeiungen und der Übergang von den Prophetie post euentum zu den Prophetie ante euentum an den Hermeneuten stellen:

Da ich bemerkte, dass viele Leute, veranlasst durch die politischen Umwälzungen – die sich ganz ungewöhnlich, wie wir sehen, in unserer Zeit im Königreich England ereignen – die Prophezeiungen Merlins, die von eben diesem Volk der Angeln handeln, […] nicht verstehen, kam mir der Gedanke, eine Erklärung zu den Prophezeiungen zu schreiben, […]. Deshalb habe ich Merlins Orakelsprüche vom Anfang des Buches bis zum Ende der Oberherrschaft der Briten und dem Beginn der Königsherrschaft der Angeln und anschliessend bis zur Rückkehr der zerstreuten Briten auf die Insel ihrer Väter so gut und so überzeugend, wie ich konnte, erläutert gemäss dem zuverlässigen Zeugnis der Geschichtsschreibung und den geschichtlichen Ereignissen.

Ferner habe ich mich damit befasst, die Bedeutung der Worte Merlins über das, was sich, wie er sagt, danach in dem erwähnten Reich oder anderswo ereignen werde, zu erkunden, und zwar – da es sich noch nicht erfüllt zu haben scheint, sondern man vielmehr erwartet, dass es sich von jetzt an in zukünftigen Zeiten erfüllen muss, und da die Geschichte nicht Zukünftiges prophezeit, sondern Geschehenes berichtet – habe ich dies nicht gemäss dem Ablauf der Geschichte und den geschichtlichen Ereignissen erläutert, sondern vielmehr gemäss den Figuren und Tropen der prophetischen Sprache und den Bedeutungen der Worte, und auch gemäss dem Wesen und den Eigenschaften der Dinge selbst, von welchen der Prophet Merlin die Analogien herleitet und mit deren Namen er diejenigen Persönlichkeiten bezeichnet, die er nicht mit ihrem eigenen Namen nennt, und zudem gemäss der Eigenart und der Ausdrucksweise seiner Sprache, welche er, wie ich durch genaue Beobachtung bemerkt habe, durchgehend in seinem gesamten Werk einhält.24

← 13 | 14 → Für Alanus verläuft also die Grenze zwischen Prophetie post euentum und Prophetie ante euentum nicht mehr, wie bei Galfridus, um 1135 bei Prophezeiung 12, sondern um 1170 und bei Prophezeiung 20, die das Ende der Normannenherrschaft ankündigt. Dieses Ende steht seines Erachtens kurz bevor, und wird in die Zeit eines Sohnes oder Enkels Heinrichs II. gelegt. Die letzten historischen Persönlichkeiten, die namentlich erwähnt werden, sind die Söhne Heinrichs II.25 In einem kleinen Prolog anfangs des IV. Buches formuliert der Verfasser den Übergang vom Ende der Prophezeiungen post euentum zu den Prophezeiungen ante euentum noch einmal folgendermassen:

In den vorangehenden drei Büchern bin ich der Prophezeiung des Merlinus Ambro-sius gefolgt – und zwar von den beiden Drachen, dem weissen und dem roten, mit welchen, wie Merlin selbst uns lehrt, die beiden Völker der Sachsen und der Briten bezeichnet wurden, bis zur Rückkehr des britischen Volkes auf die Insel und in das Reich seiner Väter – indem ich sie gemäss dem zuverlässigen Zeugnis der Geschichtsschreibung und den geschichtlichen Ereignissen ausgelegt habe. Es bleibt nun, dass ich, so gut, so klar und so angemessen, wie ich kann, das verfolge, was derselbe Prophet über ihre Nachfolge dachte und über diejenigen Dinge, welche ihren Nachfolgern oder in deren Tagen auf der Insel Britanniens geschehen werden, wobei er zwar alles, wie es seine Art ist, in bildhafte Aussprüche und dunkle Rätsel hüllt. […]. Soweit die Einleitung. Nun will ich zum Wortlaut des Textes und, der Reihe nach, zu den Nachfolgern in der Genealogie des Königreichs kommen.26

Das Hauptthema der Explanatio ist die Geschichte, deren Ereignisse für die zukünftigen Geschehnisse der Prophezeiungen ante euentum in den Büchern IV–VI als Exempla und als Warnung dienen. Diese hermeneutische Methode erlaubt dem Verfasser die Missstände seiner Zeit zu kritisieren und vor deren Folgen zu warnen. In Tabelle II wird ein Überblick über den Aufbau und den Inhalt der Kapitel der Explanatio gegeben.

← 14 | 15 → Tabelle 2: Inhalt der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii.

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← 16 | 17 → Das Interesse für diesen Interpreten liegt vor allem bei den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat. Zum Beispiel durchzieht der schreckliche Tod Wilhelms II. Rufus als gerechte Strafe für den schlechten Herrscher, der seinen Erzbischof ins Exil geschickt hatte, wie ein Leitmotiv den Text.27 Dieses Ereignis könnte auch als Exemplum auf die Auseinandersetzungen zwischen Heinrich II. und Thomas Becket bezogen werden. In den folgenden Büchern werden die Misstände auf dieser Welt kritisiert: in Buch IV wird der weltliche Luxus und das ausschweifende Leben am Hof und in den Klöstern getadelt und die Priesterehe abgelehnt, in Buch V wird der Aberglaube verurteilt. In Buch VI schliesslich dreht sich die spiralförmige Entwicklung der Geschichte immer schneller. Wer auch immer an der Macht sein wird, Luxus und dessen Folgen: Krieg, Hunger und Seuche, wechseln sich ab, bis zum Weltuntergang und dem Jüngsten Gericht in Buch VII.

Das letzte Buch, Buch VII, beginnt Alanus erneut mit einem kleinen Proömium, bevor er den Weltuntergang, das Jüngste Gericht und die Auferstehung erläutert.

Ich bin nun den Prophezeiungen des Merlinus Ambrosius gefolgt, […] und zwar habe ich nicht nur die Prophezeiungen über die vergangenen Ereignisse erläutert, […] welche sich vor unserer Zeit im Königreich Britannien ereignet haben, sondern ich habe auch die Prophezeiungen über diejenigen Ereignisse erläutert, die sich dort zu unserer Zeit zugetragen haben und jetzt noch zutragen, und auch die Prophezeiungen über diejenigen Ereignisse, von denen Merlinus voraussagt, dass sie sich nach unserer Zeit bis zum bevorstehenden Ende der Welt ereignen werden […]. Wenn ich das, was sich bis zu unserer Zeit ereignet hat, gemäss dem zuverlässigen Zeugnis der Geschichte und dem Ausgang der Dinge […] ans Licht gebracht habe, so bin ich dann für das, was nach uns kommen wird – da ja die Geschichte nicht Zukünftiges prophezeit, sondern das, was geschehen ist, erzählt, und es eine Sache ist, Geschichtsschreiber zu sein, eine andere aber, Seher – nicht dem Ablauf der Geschichte gefolgt, sondern ich habe mich bemüht, den Sinn seiner Worte gemäss den Bildern der prophetischen Sprache zu erforschen […]. Vollends habe ich nun in diesem letzten und jüngsten Buch, das ich nun beginne, die Aufgabe, die jüngsten und letzten Prophezeiungen Merlins so gut, wie ich kann, zu erklären, das heisst die Prophezeiungen über die Zeichen, von denen er vorausgesagt hat, dass sie, gemäss den Worten des Herrn selbst im Evangelium, ← 17 | 18 → erscheinen werden, wenn das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht, […] ja sogar auch die Prophezeiungen über die Auferstehung des menschlichen Staubs, in welcher die ganze Kraft des christlichen Glaubens besteht und auf welcher die ganze Hoffnung und der ganze Trost der Gläubigen beruht.28

Wie Alanus in diesem letzten Proömium ausdrücklich betont, sind die politischen Ereignisse, die sich damals zu seiner Zeit in Britannien abspielten – die er den Prophetie ante euentum 13–20 zuordnet –, Inhalt seines Kommentars. Seine Auslegungen sind daher nicht nur historischer, sondern vor allem auch allegorisch-moralischer Natur. Dabei betont er, dass die Tiere dieser Prophezeiungen eigentlich nur Symbole für die zukünftigen Herrscher sind,29 und er legt sie aus, indem er Beispiele unter anderem aus der moralisch-ethischen Literatur wie den Bestiarien, oder aus dem Bürgerkriegepos Lucans und den Satiren Juvenals herbeizieht. Für die Auslegung der Zeichen am Himmel und in der Natur benützte Alanus vor allem den Dragmaticon des Wilhelm von Conches und für die Auslegung des allegorischen Schriftsinns zitierte er ausgiebig die Bibel. Der Weltuntergang, Ziel des Saeculums, das heisst das Ende der Zeit und der Geschichte, steht jedoch, gemäss dem Kommentator, noch nicht umittelbar bevor.30

Die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii ist das Werk eines hohen Würdenträgers, der an der Politik seiner Zeit aktiv beteiligt war, und eines Gelehrten, der den Kanon der literarischen, philosophischen, naturphilosophischen und historischen Werke seiner Zeit – Vergil, Lucan, Juvenal, Augustinus, Boethius, Isidorus von Sevilla, die Bestiarien, Wilhelm von Malmesbury, Ordericus Vitalis, und viele andere – kannte.

← 18 | 19 → II. Der Autor der Auslegung zu den Prophetie Merlini

II. 1. Zur Person des Autors

Keine der drei uns bekannten Handschriften trägt den Namen eines Autors.31 Die einzigen konkreten Hinweise über die Person des Verfassers und die Entstehung der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii müssen wir dem Text selbst entnehmen. Gleich zu Beginn, im ersten Satz des Prologs, sagt der Verfasser zu der Entstehung seines Werks, dass die politischen Ereignisse in England zu seiner Zeit ihn zur Abfassung eines Kommentars zu den Prophetie Merlini veranlasst haben, und er betont, dass seine genauen Kenntnisse der Geschichte, namentlich jener der Angeln, Sachsen, Briten und Normannen, ihn besonders dazu befähigen:

Da ich bemerkte, dass viele Leute, veranlasst durch die politischen Umwälzungen – die sich ganz ungewöhnlich, wie wir sehen, in unserer Zeit im Königreich England ereignen – die Prophezeiungen des Merlinus Ambrosius, die von eben diesem Volk der Angeln handeln, zwar häufig erwähnen und immer wieder neu bedenken, doch, weil sie sich in der Geschichte nicht auskennen, gerade die Dinge, von denen sie immer wieder sprechen, nicht verstehen, kam mir der Gedanke, eine Erklärung zu den Prophezeiungen zu schreiben, jedoch nicht unbesonnen und schnell mich auf die Arbeit zu stürzen, sondern mich mit reiflicher Überlegung daran zu machen, und ich traute es mir vor allem deshalb zu, weil ich glaubte, dass ich in der Geschichte der Briten, Sachsen und Angeln, aber auch der Normannen und der Franzosen, durch intensives und umfassendes Lesen und Studieren einigermassen gerüstet und geübt bin.32

In Buch II erfahren wir, dass der Verfasser ein gebildeter Mönch war, der an seinem Kommentar wohl über längere Zeit arbeitete, wobei noch einmal betont wird, dass gute Kenntnisse der Geschichte des britischen und des sächsischen Volkes für das Verständnis der Prophezeiungen eine Voraussetzung seien:

← 19 | 20 → Ich aber, als ich mich neulich beim Erklären von Merlins Prophezeiungen so sehr um Knappheit bemühte, dass ich sowohl seine Prophezeiungen als auch ihre Auslegung bis auf unsere Zeit in ein ganz dünnes Heft hineinpferchte – für mich zwar klar genug, aber für diejenigen, die die Geschichte des britischen und des sächsischen Volkes nicht kennen, in einer zu verhüllten und dunklen Sprache gemäss jenem Wort von Horaz: gebe ich mir Mühe, mich kurz zu fassen, werde ich unverständlich – da riss ein Abt meines Ordens, ein gebildeter, in den Schriften sehr bewanderter und redegewandter Mann, das Werklein mir aus den Händen und las es zwar sehr gerne und sehr genau, doch nahm er an der Knappheit der Sprache Anstoss und bat mich inständig, dass ich zum besseren Verständnis aller Leser, aber vor allem derjenigen, die die Geschichte jenes Volkes nicht gelesen hätten, jedes einzelne Kapitel, indem ich alles nochmals aufrolle, durch die ganze Erzählung der Geschichte, soweit wie es mir genügend zu sein scheint, erkläre. Da ich seinen Willen nicht ausser Acht lassen durfte, tat ich, was er mich hiess.33

Eine Aussage in Buch III verrät uns die ungefähre Entstehungszeit der Explanatio:

Heinrich, der jetzt in England regiert, hatte fünf Söhne mit der Königin, seiner Gemahlin, von welchen einer gestorben ist, vier aber noch am Leben sind. Er hatte mit einer Konkubine noch einen sechsten Sohn, der Kleriker ist und, wie man sagt, von grosser Tüchtigkeit für sein Alter.34

Der jüngste Sohn Heinrichs II., Johann ohne Land, wurde 1167 geboren. Heinrichs II. natürlicher Sohn Geoffrey wurde 1174 zum Bischof von Lincoln ernannt, wird hier aber noch mit clericus bezeichnet. Demnach wäre der Kommentar zu den Prophezeiungen des Merlinus zwischen 1167 und 1174 entstanden.

Ein Abschnitt in Buch V gibt uns nähere Angaben über den Entstehungsort der Explanatio:

In Sardinien gibt es eine Quelle, die Diebstähle aufdeckt. […] Weil ich das oft von anderen gehört hatte, aber nicht glauben konnte, fragte ich Bruder Conarius – einen einst berühmten Mann in der Welt und Richter auf Sardinien, jetzt aber Mönch von Clairvaux – ob es so sei, und er antwortete, dass es in Tat und Wahrheit so sei.35

← 20 | 21 → Der hier erwähnte Mitbruder des Autors, Gunnar von Lacon, Turritanus iudex aus Sardinien, 1114 geboren, zog sich 1154 nach Clairvaux zurück, wo er nach 1178 in hohem Alter starb, das heisst, er befand sich zur Zeit der Abfassung der Explanatio in Clairvaux36. Schon in Buch I, § 22, wo die Umgebung von Auberive, eines Tochterklosters in der Nähe von Clairvaux, beschrieben wird, hat man den Eindruck, der Verfasser kenne die Gegend aus eigener Erfahrung.37

Die Annahme, dass die Explanatio in Clairvaux entstanden sei, wird zudem überlieferungsgeschichtlich gestützt:

– die Prophetie Merlini-Zitate aus der HRB folgen gemäss Reeve38 den Varianten der Handschriftengruppe GP, das heisst zwei frühen Handschriften der HRB, die erstere sicher, die zweite vielleicht ebenfalls kontinentalen Ursprungs: G, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Fonds latin, 5234, 12. Jh., Saint-Jean, Amiens (eine Prämonstratenserabtei), und P, Paris, Bibliothèque Ste-Geneviève, ms 2113, 12. Jh.

← 21 | 22 → – die vielen ausführlichen und mehr oder weniger wörtlichen Zitate im Text, die aus den Gesta Regum Anglorum Wilhelms von Malmesbury stammen, folgen der Version einer französischen Handschriftengruppe dieses Werks, deren älteste Handschrift aus Clairvaux stammt.39

– Zudem finden sich Zitate aus der Explanatio in der Chronik aus der ersten Hälfte des 13. Jh. von Albericus von Trois-Fontaines, der ersten Tochtergründung von Clairvaux.40

Schliesslich findet sich ein direkter Hinweis auf die Person und die Herkunft des Autors im fünften Buch des Kommentars: der Verfasser wohnte als puerulus41 dem Einzug des Grafen Dietrich vom Elsass in Lille bei, wo der Autor, wie er selbst sagt, geboren wurde. Dieses Ereignis fand, wie wir wissen, am 23. April 1128 statt:42

Auch habe ich in Flandern, in Lille, wo ich herkomme, als Kind eine Hexe gesehen, […]. Das war zu der Zeit, als die Leute von Lille, Gent und Brügge den Grafen Dietrich als rechtmässigen Erben Flanderns aus seiner Grafschaft nach ← 22 | 23 → Flandern gerufen hatten, nachdem sie den normannischen Grafen Wilhelm abgelehnt hatten, der kein Erbrecht in Flandern hatte.43

Soweit die wenigen Hinweise, die uns die Explanatio über ihre Entstehung und ihren Autor preisgibt. Demnach ist der Text um 1170 im Zusammenhang mit den zeitgenössischen aussergewöhnlichen Ereignissen in England von einem in Geschichte gebildeten Mönch in einem Kloster, wahrscheinlich in Clairvaux, verfasst worden, welcher in Lille geboren wurde, dort aufwuchs und 1128 noch ein puerulus, ein unmündiger Junge war.44 Den Namen des Autors kennen wir jedoch nicht. Einen Hinweis könnte uns aber das Titelblatt der ersten gedruckten Ausgabe des Textes von 1603 geben, die auf einer weiteren, uns nicht erhaltenen Handschrift gründet:45 Prophetia Merlini […] una cum septem Libris Explanationum in eandem Prophetiam, excellentissimi sui temporis Oratoris, Polyhistoris & Theologi, Alani de Insulis, Germani, Doctoris (ob admirabilem & omnigenam eruditionem, cognomento) Vniversalis, & Parisiensis Academiæ, ante annos 300 Rectoris Amplissimi.

Zwar mag die Bemerkung des Autors über seine Kindheit in Lille den Drucker dazu veranlasst haben, den Text dem Dichter, Philosophen und Theologen Alanus de Insulis (um 1125/30–1203) zuzuschreiben. Doch ist auch denkbar, dass die Handschrift, die dem Drucker als Vorlage diente, den Autorennamen Alanus trug, da eine solche Zuschreibung aus freien Stücken von Seiten des Druckers ziemlich erstaunlich wäre. Die Vorlage des Drucks könnte übrigens ein relativ früher Textzeuge aus dem 12. Jh. gewesen sein, da der Druck die e caudata wiedergibt, wie wir sie auch in der Handschrift PARIS, BnF, Fonds latin 7481 finden, mit welcher die Varianten des Drucks meist einiggehen.46 Die Charakterisierung des Alanus konnte der Drucker dann dem Artikel bei Trithemius, De scriptoribus ecclesiasticis (oder einem ähnlichen Werk), über den bekannten Philosophen, Doctor Universalis Alanus de Insulis entnehmen. ← 23 | 24 → Unter den Werken des Magister Alanus, die Trithemius aufzählt, ist die Explanatio jedoch richtigerweise nicht aufgeführt.47

Nun aber gibt es zwei Alanus von Lille, die im 12. Jahrhundert gelebt haben.48 Einerseits der bei Trithemius erwähnte, berühmte Alanus, Magister und Doctor Universalis, der 1203 in Cîteaux gestorben und begraben ist, und andererseits der etwas ältere und weniger bekannte Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre, der im Zeitraum von 1182–1185 in Clairvaux verstorben und begraben ist. Die uns erhaltenen Dokumente, die wir von beiden Alanus besitzen, bezeugen, dass der eine immer mit Magister, während der andere, auch nachdem er das Amt des Bischofs niedergelegt hatte, immer mit Episcopus die Dokumente unterschrieb. Diese beiden Alanus wurden in der Überlieferung oft gleichgesetzt oder verwechselt.

Das, was wir über das Leben des Magisters Alanus de Insulis wissen können, hat Marie-Thérèse d’Alverny in der Einleitung zu ihrer Ausgabe einiger Texte dieses Autors ausgeführt. Es steht fest, dass der Philosoph und Magister sich erst gegen Ende seines Lebens ins Kloster zurückgezogen hatte, und zwar nicht nach Clairvaux, sondern, wie gesagt, nach Cîteaux, wo er 1203 verstarb und begraben wurde.49 Auch besteht heute in der Forschung allgemein die Ansicht, dass der Kommentar zu den Prophezeiungen des Merlinus nicht aus der Feder des Philosophen und Magisters Alanus von Lille stammen kann.50

← 24 | 25 → Dagegen ist es möglich, dass der Text gemäss inhaltlichen Kriterien und äusseren Gegebenheiten Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre, zugeschrieben werden kann,51 der ebenfalls ursprünglich aus Lille stammte. Im Folgenden soll daher knapp zusammengefasst werden, was wir über das Leben dieses Alanus wissen,52 und es schliesslich mit dem, was uns der Inhalt des Textes über den anonymen Autor der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii preisgibt, vergleichen:

– Ein anonymer Kanoniker, der kurz nach 1182 eine Vita des Alanus, Bischof von Auxerre, verfasste, die sich in einer Handschrift im Archiv des Domkapitels von Auxerre befand und von Labbé veröffentlicht wurde, bezeichnete die Herkunft des Bischofs Alanus mit natione Flandrensis.53

– Gemäss den Dokumenten aus Clairvaux wurde Alanus in den Schulen einer Kollegiatkirche von Lille erzogen und erhielt das Mönchsgewand von Bernhard in Clairvaux: Alanus Episcopus Altisiodorensis, qui in quadam Ecclesia oppidi famosi in Flandria, quae Insula nuncupatur, a puero educatus sub Beato Bernardo in hac Claravalle habitum Religionis suscepit […].54

← 25 | 26 → – Den Viten des heiligen Bernhard entnehmen wir, dass Alanus einer der dreissig durch ihre Erziehung und ihre adlige Herkunft ausgezeichneten jungen Kleriker war, die Bernhard, als er 1131 Innozenz II. nach Lüttich begleitete, aus dem Nordwesten Frankreichs nach Clairvaux brachte. Von den dreissig, die sich auf dieser Reise zum Mönchsleben bekehrten, wurden, wie es heisst, einige berühmt, so zum Beispiel Alanus, späterer Bischof von Auxerre.55

– 1140 wurde Alanus zum ersten Abt von Larivour, einer neuen Tochtergründung von Clairvaux, ernannt.

– Am 30. November 1152 wurde Alanus, auf Veranlassung Bernhards von Clairvaux, jedoch nicht ohne Widerstand von Seiten Wilhelms, des Grafen von Nevers und Auxerre, zum Bischof von Auxerre gewählt.56 Während seiner Amtszeit als Bischof musste er einerseits die Lehensrechte seiner Diözese gegen die mächtigen Grafen von Nevers behaupten57 und andererseits war er an den Verhandlungen ← 26 | 27 → im Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Papst, wie auch zwischen König Heinrich II. und Thomas Becket, beteiligt, in welchen die Zisterzienser eine wichtige Rolle spielten.58 Papst Alexander III. befand sich zu jener Zeit in Frankreich im Exil (1161–1165) und fand vor allem bei den Zisterziensern aktive Unterstützung.59

– Am 17. Mai 1162 wurde der Gegenpapst Viktor IV. von Alexander III. in Montpellier im Beisein von Alanus und von Pontius von Polignac, dem späteren Abt von Clairvaux, exkommuniziert.60

– Im Herbst 1164 musste als Folge der Auseinandersetzungen mit Heinrich II. der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, mit seinem Gefolge nach Frankreich fliehen und wurde als erstes im Kloster Saint-Bertin in Saint-Omer beherbergt, was jedoch aus politischen Gründen geheim gehalten werden musste. Er fand darauf im Zisterzienserkloster in Pontigny einen Zufluchtsort.61 Doch Heinrich II. drohte, sich der Partei des Kaisers und des ← 27 | 28 → Gegenpapstes anzuschliessen, falls er im Streit mit Becket nicht unterstützt werde, und Becket musste auch Pontigny wieder verlassen. In der Folge gab es innerhalb des Zisterzienserordens eine Spaltung.62 Der Abt von Clairvaux, Geoffroy von Auxerre,63 der sich gegen den Aufenthalt von Thomas in Pontigny aussprach, wurde 1165 auf Betreiben Ludwigs VII. und des Papstes gebeten, sein Amt niederzulegen. Alanus war an den Verhandlungen, die zur Absetzung führten, direkt beteiligt. Geoffroy legte sein Amt nieder und Pontius de Polignac, ein Freund von Thomas Becket wurde sein Nachfolger als Abt von Clairvaux.64

– 1167 legte Alanus, zwar mit der Erlaubnis des Erzbischofs von Sens, aber gegen den Willen des Papstes Alexander III. sein Amt als ← 28 | 29 → Bischof von Auxerre nieder.65 Er zog sich nach Clairvaux zurück und bewohnte die Zelle des heiligen Bernhard.66

– Pontius beauftragte im Hinblick auf die Kanonisierung Bernhards Alanus mit der Vita Secunda,67 der den Text Pontius widmete. Die Vita Secunda des Alanus wurde später für die Kanonisierung Bernhards als ungeeignet beurteilt, und die Vita Prima wurde 1169–1170 von Geoffroy, ehemaliger Abt von Clairvaux, überarbeitet. Sie wurde schliesslich 1174 die Grundlage für die Kanonisierung Bernhards.68

– Am Palmsonntag 1167 (13. April) exkommunizierte Thomas Becket in Clairvaux verschiedene Persönlichkeiten aus dem Umkreis Heinrichs II.,69 jedoch in Abwesenheit des Abtes Pontius, der, mit ← 29 | 30 → einem diplomatischen Auftrag von Papst Alexander III. betraut, sich auf einer Reise zum Kaiser befand.70 Am 29. Dezember 1170 wurde Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury ermordet.

– 1182 liess Alanus in Larivour sein Testament verfassen, mit der Auflage, dass er in Clairvaux begraben werden solle71. Dem Kloster Clairvaux vermachte er ein Exemplar der Decreta Gratiani mit folgender autographer Widmung: Ego Alanus quondam Autissiodorensis episcopus haec decreta Gratiani dedi monasterio Clareuallis pro remedio animae meae, eo tenore et pacto, ut nulla necessitate a monasterio Clareuallis transferantur, uel exportentur, annuente ejusdem loci abbate et congregatione: et quia inuiolabiliter debent condicta seruari, rogo et obtestor in Domino, ut ratum futuris temporibus habeatur, & fideliter teneatur. Amen.72

– Alanus starb in Clairvaux um 1182/1186 (das Todesjahr ist nicht genau bekannt) an einem 14. Oktober, oder, wie die anonyme Vita sagt, 11. Oktober, in der Zelle Bernhards von Clairvaux.73 Sein ← 30 | 31 → Grab lag neben demjenigen des Bischofs Geoffroy von Langres, wo Lebeuf es 1730 noch gesehen hatte. Da Alanus sowohl in kirchenpolitischen Angelegenheiten wie auch in Ordensfragen sehr bewandert war, war er den Äbten von Clairvaux ein wichtiger Ratgeber gewesen.74

← 31 | 32 → Von Alanus Flandrensis besitzen wir noch folgende Dokumente:75

– fünf Briefe, an König Ludwig VII. adressiert, betreffend den Streit von 1164 um die Belehnung des Grafen von Nevers mit den Lehen der Diözese.76

– Die Vita secunda Bernhards von Clairvaux, sein Hauptwerk, das er zwischen 1167 und 1170 schrieb und das in der Ausgabe zu den Werken von Bernhard von Clairvaux von Mabillon herausgegeben wurde.77

– Das erwähnte Testament78 und

– ein paar Urkunden, die in der Gallia Christiana herausgegeben wurden.79

Man hat Alanus irrtümlicherweise auch eine Sammlung von Predigten und eine Reihe von Akten in den Sammlungen des dritten Laterankonzils zugeschrieben.80

Soviel zu Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre. Diese Angaben werden in der folgenden Tabelle mit dem, was wir aus der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii über deren Autor wissen, verglichen. Wenn Alanus, Bischof von Auxerre, 1182–1186, mit ungefähr siebzig bis zweiundsiebzig Jahren gestorben ist, und wenn der anonyme Autor 1128 ein puerulus von ungefähr 12–14 Jahren war, ergibt sich aus beidem ein Geburtsdatum im Zeitraum von 1114–1116. Alanus Flandrensis, der Bischof von Auxerre, ist demnach wahrscheinlich der Verfasser der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii.

← 32 | 33 → Tabelle 3: Der Autor.

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← 37 | 38 → II. 2. Die Diskussion um den Autor in der Forschung

Die Zuschreibung der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii an Alanus Flandrensis wurde seit dem Erscheinen des Drucks von verschiedenen Gelehrten diskutiert. Die wichtigsten Argumente sollen nachstehend kurz aufgeführt werden.

Jean Lebeuf (1687–1760) – der in Auxerre geboren wurde und eine Geschichte der Diözese geschrieben hat, und der sich sowohl in der Geschichte der Grafen von Nevers und Auxerre als auch in derjenigen der Bischöfe von Auxerre auskannte – schrieb in seinen Studien über Auxerre und über die beiden Alanus die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii, ohne den leisesten Zweifel zu äussern, Alanus, Bischof von Auxerre, zu.81 Vor ihm hatte schon Caspar von Barth (1587–1658) in seinen Anmerkungen zur Philippide des Wilhelm Brito, die 1657 veröffentlicht wurde, die Explanatio als ein Werk des Alanus Commentator zitiert, wobei er die beiden Alanus zu unterscheiden schien.82

Brial in der Histoire Littéraire de la France führt verschiedene Gegenargumente ins Feld:

Der erste und wichtigste Einwand ist, dass Alanus, Bischof von Auxerre, nicht, wie der anonyme Autor der Explanatio von sich selbst sagt, in Lille geboren sei. Als Beweis wird Bernhards Brief an Papst Eugen III. betreffend die Wahl des Bischofs von Auxerre 1152 angeführt. In diesem Brief bezeichnet Bernhard den Kandidaten für das Bischofsamt ohne weitere Namensnennung mit Regniacensis. Diese Bemerkung wurde von der Histoire Littéraire de la France83 auf Alanus, den späteren Bischof von Auxerre, bezogen. Daraus wurde geschlossen, dass Alanus zwar aus Flandern, nicht aber aus Lille, wie der Autor der anonymen Explanatio, ← 38 | 39 → sondern aus Reninghe stamme.84 Dies scheint jedoch ein Trugschluss zu sein: in Bernhards Brief bezeichnet Regniacensis nicht Alanus sondern einen anderen Kandidaten. Regniacum kann zwar Reninghe in Flandern bezeichnen, aber auch, was hier wahrscheinlicher ist, Régny, das in der Nähe von Auxerre in Frankreich liegt, und zwar aus folgendem Grund: bei der Wahl des Bischofs von Auxerre mussten mehrere Wahlgänge durchgeführt werden, bis die Parteien sich auf einen Kandidaten einigen konnten. Gemäss R. Trilhe, M. Terre und M. Pacaut, wie auch schon gemäss Jean Lebeuf, bezeichnet im genannten Brief Bernhards bezüglich der Kandidaten für das Amt des Bischofs von Auxerre Regniacensis den ersten Kandidaten in den Bischofswahlen, den Abt von Régny, Etienne de Toucy, der aber vom Grafen von Nevers und dem König abgelehnt wurde.85 Regniacensis ist die übliche Bezeichnung von Régny, ← 39 | 40 → einem Tochterkloster von Clairvaux, in der Diözese Auxerre. Es ist auch deshalb unwahrscheinlich, dass Regniacensis Alanus bezeichnet, weil Regniacum zweideutig und missverständlich wäre, was in einem solchen Schreiben ungünstige Konsequenzen haben könnte. Wenn nämlich damit Alanus Flandrensis gemeint wäre, dann hätte dessen Geburtsort Reninghe allgemein bekannt sein müssen. In jener Zeit war es jedoch selten, dass Geburtsort und Geburtsjahr einer Persönlichkeit bekannt waren. Alanus, Bischof von Auxerre, stammte, wie sich aus den uns erhaltenen Dokumenten ergibt, aus Lille: Alanus Episcopus Altisiodorensis, qui in quadam ecclesia oppidi famosi in Flandria, quae Insula nuncupatur, a puero educatus sub beato Bernardo in hac Claravalle habitum Religionis suscepit.86

Der zweite Einwand gegen die Identifikation des Autors unseres Textes mit Bischof Alanus von Auxerre ist, dass der anonyme Autor gemäss HLF 1140 zu jung gewesen sei, um wie Alanus Flandrensis zum Abt des Klosters Larivour gewählt zu werden, wenn er 1128 noch ein puerulus gewesen sei, wie der anonyme Autor von sich sagt.87 Wenn aber Alanus 1128 ein Junge von zwölf bis vierzehn Jahren gewesen wäre, wäre er 1140 mit ungefähr vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren zum Abt ernannt worden, was vielleicht nicht häufig war, aber doch denkbar ist. Auch Bernhard war erst fünfundzwanzig Jahre alt, als er Abt von Clairvaux wurde.88

Ein dritter Einwand der HLF ist, dass die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii ein zu grosses Wissen für einen jungen, in Clairvaux erzogenen Mönch voraussetze. Dagegen ist vorzubringen, dass Alanus gemäss unserer Rechnung die Explanatio erst mit über fünfzig Jahren verfasste. Zudem wurde Alanus an einer offenbar namhaften Schule in Lille erzogen und war einer der herausragenden jungen Kleriker, die ← 40 | 41 → Bernhard 1131 mit sich nach Clairvaux brachte. Im übrigen gründet der Text vor allem auf Werken zeitgenössischer bekannter Autoren und setzt somit eine grosse Bibliothek – wie zum Beispiel diejenige von Clairvaux – und einen gebildeten Kleriker voraus, der den Umgang mit Büchern kennt.89

Aus all diesen Gründen kann die Explanatio mit grosser Wahrscheinlichkeit dem Bischof Alanus von Auxerre zugeschrieben werden.90

Auch der Inhalt der Explanatio scheint die Hypothese zu stützen:

Der anonyme Autor der Explanatio erwähnt im eingangs zitierten ersten Satz des Prologs, dass die ausserordentlichen Vorkommnisse, die sich in England – das gleich zwei Mal in diesem ersten Satz erwähnt wird – zu jener Zeit ereigneten, ihn zum Verfassen eines Kommentars zu den Prophezeiungen des Merlinus veranlassten, und dass seine Kenntnisse der Geschichte, wie er öfter wiederholt, ihn dazu auch befähigten. Dabei fällt auf, dass der Text genau in der Zeit entstanden sein muss, in der der Streit zwischen Heinrich II. und Thomas Becket – an welchem Alanus als Bischof von Auxerre beteiligt war – seinen Höhepunkt erreicht hatte. Trotz dem wiederholten Hinweis auf die ausserordentlichen politischen Vorkommnisse zur Zeit der Entstehung des Textes finden wir sehr wenige und nur sehr vage Bemerkungen zu bestimmten zeitgenössischen Ereignissen, und Thomas Becket wird im Text nicht namentlich erwähnt. Es fällt auf, dass gemäss kodikologischen Resultaten die Vorlage zu den Prophetia Merlini-Zitaten aus der HRB aus England stammte. Reeve ist der Meinung, dass der Text der Prophetia Merlini aus der HRB, der unserer Handschrift am Ende beigefügt ist, der Handschriftengruppe Non-Continental relatives of G angehört.91 Wie wir oben gezeigt haben, war Alanus Autissiodorensis an den Verhandlungen zwischen Heinrich II. und Thomas Becket einerseits sowie dem König von Frankreich und dem Papst ← 41 | 42 → andererseits direkt beteiligt und könnte auf diesem Weg ein Exemplar, wahrscheinlich sogar mit einem Kommentar versehen, erhalten haben.92

Wie eine Bemerkung im Prolog der Vita secunda des heiligen Bernhard, verfasst von Alanus, jedoch zu verstehen gibt, konnte die Nennung von Namen politischer Persönlichkeiten mit Unannehmlichkeiten verbunden sein. Eine neue Version der Vita wurde von Alanus deshalb als notwendig erachtet, weil in der Vita prima gewisse unpassende Dinge gegen authenticas personas, das heisst bekannte geistliche und weltliche Würdenträger geäussert würden, was Clairvaux und dem Orden geschadet haben soll.93 In der Explanatio scheinen Personen, die noch im Amt sind, in der Regel nicht genannt zu werden, wie dies zum Beispiel auch in den Exempla-Sammlungen üblicherweise der Fall ist.94 Zwar werden Heinrich II. und seine fünf Söhne kurz erwähnt, nicht aber die zur gleichen Zeit lebenden kirchlichen Persönlichkeiten, wie Papst Alexander III. und Erzbischof Thomas Becket. Es fällt jedoch auf, dass den Auseinandersetzungen zwischen den Königen Englands und der Kirche ganz allgemein, sowie zwischen dem Normannenkönig Wilhelm II. von England (1056–1100) und dem Erzbischof Anselm von Canterbury95 im speziellen, besonderes Gewicht zugemessen wird. König Wilhelm II. habe wegen seiner respektlosen und geizigen Haltung gegenüber der Kirche und gegenüber Anselm von Canterbury einen ← 42 | 43 → schrecklichen Tod erlitten.96 Da der Kommentator immer wieder darauf hinweist, dass die Geschichte sich wiederhole, könnte dies als warnendes Beispiel für den Streit zwischen Heinrich II. und Thomas Becket dienen. In diesem Zusammenhang könnte die Auslegung von Prophezeiung 12 in Buch III, § 35, eine Anspielung auf das Exil von Thomas Becket darstellen: Stragem non minimam ex obsistentibus facient et linguas taurorum abscident. Taurorum nomine aliquando superbi huius seculi ac potentes, aliquando prelati ȩcclesiȩ designantur. Quorum linguas, si tamen de illis prophetia hoc loquitur, uel iuxta litteram truculenta insania ferro abscident, uel tropice – silentium eis imponendo, seu etiam a suis sedibus expellendo – loquendi auferent libertatem et episcopalis censure auctoritatem.97 Jedoch waren nicht alle Kommentatoren zu jener Zeit so vorsichtig. Die Prophezeiungen wurden, gerade im Umfeld von Thomas Becket, oft zitiert und zwar meist von Klerikern, die hohe politische Stellungen innehatten, wie zum Beispiel Johannes von Salisbury, dem späteren Bischof von Chartres, der mit Thomas nach Frankreich ins Exil gehen musste, oder von Arnulf, Bischof von Lisieux, in einem Brief an Thomas Becket,98 die damit das Tagesgeschehen kommentierten. Interessanterweise stammt die Handschrift Den Haag, ms. 78 D 18, ursprünglich aus dem Kloster Saint-Bertin, das heisst aus dem Kloster, das Thomas Becket als erstes auf dem Kontinent heimlich aufnahm und ihm half, eine Zuflucht vor Heinrich II. zu finden.

Auch wenn wir beinahe keine namentlich erwähnten Persönlichkeiten oder Hinweise auf bestimmte politische Ereignisse jener Zeit in der Explanatio finden, so spiegelt ihr Inhalt doch die aktuellen Themen und Fragen des politischen und kulturellen Lebens des 12. Jh. wider, ← 43 | 44 → wie zum Beispiel den innerkirchlichen Kampf um die Metropolitansitze,99 die normannische Herrschaft in England und auf dem Festland sowie die daraus entstehenden Bürgerkriege, die Auseinandersetzungen zwischen dem Papst, dem französischen und dem englischen König sowie die Sitten am Hof und in den Klöstern, dann auch die sich immer wiederholende Geschichte bis zum Weltuntergang. Der Kommentator stützt sich für seine Auslegung unter anderem auf die klassischen Texte wie Isidor und Beda, aber auch auf zeitgenössische Texte wie die Bestiarien sowie auf die Werke des Historikers Wilhelm von Malmesbury oder des grossen Philosophen Wilhelm von Conches und natürlich für die frühe Geschichte Englands auf Galfridus von Monmouth und seine Historia Regum Britannie. Auch scheinen verschiedene Stellen auf die Kenntnis heute weniger bekannter Texte jener Zeit hinzuweisen, wie zum Beispiel auf das unechte Dekret Karls des Grossen,100 das in den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und König Heinrich II., sowie dem Gegenpapst Paschalis III. und Papst Alexander III. im Zusammenhang mit der Heiligsprechung Karls des Grossen von Kaiser Friedrich Barbarossa in seine Urkunde vom 8. Januar 1166 eingefügt worden ist. Die Kenntnis eines solchen Textes weist darauf hin, dass der Autor den politischen Kreisen jener Zeit angehören musste.

So verweist auch der Inhalt der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii auf den Bischof von Auxerre, der sich gemäss seiner Grabschrift sowohl in klösterlichen wie auch weltlichen politischen Fragen auskannte.101 Umgekehrt scheint die Laufbahn des Alanus Flandrensis, Bischof von Auxerre, eines gebildeten Mönchs aus Lille, der als Abt von Larivour und dann als Bischof von Auxerre in Ordensfragen wie auch weltlichen Dingen wichtige Aufgaben übernahm, auf den Verfasser der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii zu passen.

← 44 | 45 → III. Die Textzeugen

Die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii ist in drei Handschriften und einem Frühdruck von 1603 überliefert:

P PARIS, Bibliothèque nationale de France, Fonds latin, 7481, Nordfrankreich, Ende 12./Anfang 13. Jh.102

V VALENCIENNES, Bibliothèque municipale, ms. 792 (589), Kloster Notre-Dame, Vicoigne,103 14. Jh.104

H DEN HAAG, Koninklijke Bibliotheek, ms. 78 D 18, Kloster Saint-Bertin in Saint-Omer, zweite Hälfte 15. Jh.105

Der Codex von P und H enthält ausschliesslich die Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii, welcher am Ende die Prophetia Merlini des Galfridus beigefügt ist. Der Text von V, ebenfalls gefolgt von der Prophetia Merlini, ist Teil einer Sammlung historischer Texte. Die Herkunft von P ist nicht bekannt. V stammt aus dem ehemaligen Praemonstratenser Kloster Notre-Dame, Vicoigne, in der Nähe von Valenciennes im heutigen Nord Pas de Calais, im Nordwesten Frankreichs, und H aus dem Kloster Saint-Bertin in Saint-Omer, ebenfalls im heutigen Nord Pas de Calais, unweit von Vicoigne. In allen drei Handschriften ist der Text anonym überliefert.

Der erste Druck des Textes gründet auf einer vierten, uns nicht erhaltenen Handschrift:

← 45 | 46 →fProphetia Anglicana. Merlini Ambrosii Britanni […] Vaticinia et prædictiones […] una cum septem libris Explanationum […] Alani de Insulis […], Francofurti, Typis Ioachimi Bratheringij, 1603.

Zwei weitere Auflagen wurden in Frankfurt 1608 und 1649 gedruckt, die auf der Ausgabe von 1603 gründen, bei denen aber joachimitische Prophezeiungen beigefügt wurden.106 Diese Ausgaben tragen leicht veränderte, dem neuen Inhalt angepasste Titelseiten.

Im Unterschied zu den Handschriften geht in allen gedruckten Ausgaben der Text der Prophetia Merlini Ambrosii Britanni ex Translatione Galfredi Monumetensis (HRB §§ 111–117, P 1–74) dem Text der Explanatio voraus.

Weitere Textzeugen

Die Chronik des Aubri de Trois-Fontaines (gestorben nach dem 25. Januar 1252),107 entstanden zwischen 1227 und 1241, enthält längere Zitate aus der Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii,108 die wahrscheinlich auf einer weiteren, uns nicht bekannten Handschrift gründen. Trois-Fontaines, 1118 von Bernhard gegründet, ist das erste Tochterkloster von Clairvaux.109

← 46 | 47 → III. 1. Die Handschriften

PParis, Bibliothèque nationale de France, Fonds latin, 7481

Pergament · 195 Bl. · 17/17.5 x 11/12 cm · Nordfrankreich · Ende 12. Jh./Anfang 13. Jh.110

Inhalt

ff. 1v–4v

Incipit Prologus in expositione Merlini Ambrosii. Cum multos rerum nouitate […] lenis incedas. Explicit prologus.

ff. 5r–185r

Incipit Explanatio in Prophetia Merlini Ambrosii […] per predicationem Helie et Enoch.

ff. 185v–194v

Incipit <Prophetia Merlini>. Sedente Wortigirno […] sydera conficient. Explicit Merlinus.111

f. 194v

Incipit <Prophetia Merlini>. Sedente Wortigirno […] aper Cornubiȩ deuorabit.112

A. Äusseres

1. Einband

– Die Handschrift trug ursprünglich keinen Einband. Auf f. 1r befindet sich als Federprobe der leoninische Pentameter: Ne faciam uanum duc pia uirgo manum. Der Text beginnt auf f. 1v. Die Hälfte des letzten, unbeschriebenen Blattes 195 ging verloren und Blatt 194 ist ziemlich beschädigt.

– Die Handschrift wurde um 1700 mit einem Ledereinband der Bibliothèque Royale, rotes Maroquin, 12.5 x 19 cm, mit Goldprägung versehen. Sie trägt den Rückentitel: MERLINI || AMBROS. || PROPHETI || DE REB. || ANGL. Mit dem Einband wurden vorne und hinten ein Vorsatz und je 2 Blätter Papier angebracht.

← 47 | 48 → 2. Beschaffenheit des Pergaments

Die Handschrift besteht aus derbem, manchmal sehr dünnem Pergament, mit Gebrauchsspuren und Löchern; es wurden zahlreiche Einzelblätter verwendet; es gibt fehlende Stücke, Ecken und Löcher am Pergament; zugenähte Löcher und Risse mit Fäden; beschädigte und abgenützte Blätter; bei Blatt 185 ging die äussere obere Ecke des Blattes mit Text verloren; Blatt 194 ist beschädigt und teilweise unleserlich. Die Hälfte des unbeschriebenen letzten Blattes 195 ist verloren.

3. Lagen und Foliierung

Die Handschrift umfasst 22 Lagen: .i.: II4; .ii.: (IV + 1)13; .iii.: (II + 1)18; .iiii.: (IV + 2)28; .v.: V38; vi: IV46; vii: V56; viii: (III + 3)65; ix: (VI + 1)78; x: (III + 3)87; xi: IV95; xii: (III + 2)103; xiii: V113; xiiii: (IV + 2)123; xv: IV131; xvi: V141; xvii: IV149; xviii: V159; xix: IV167; xx: (V + 1)178; xxi: (II + 2)184; xxii: (V + 1)195.

Erläuterung der Lagenformel:

– Kleine römische Zahl: die Lagennummer;

– In Klammer: die Zusammensetzung der Lagen; grosse römische Zahl die Bifolia; arabische Zahl die Einzelblätter.

– Im Exponent: das letzte Blatt der Lage.

Alle Lagen wurden von einer zeitgenössischen Hand mit römischen Zahlen am unteren Rand durchnummeriert. Es gibt keine Wortreklamanten. Der Text trägt eine neuere Foliierung im oberen Rand.

Details

Seiten
VI, 864
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783035107913
ISBN (ePUB)
9783035194609
ISBN (MOBI)
9783035194593
ISBN (Paperback)
9783034316002
DOI
10.3726/978-3-0351-0791-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Schlagworte
Artuslegende Hofleben anglo-normannisches Reich Zauberer Merlin
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 360 S. (1. Teil), 870 S. (2. Teil)

Biographische Angaben

Clara Wille (Autor:in)

Clara Wille (*1944) studierte französische Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Lateinische und Mittellateinische Literatur an der Universität Zürich. Danach war sie als Gymnasiallehrerin an der Kantonsschule Küsnacht (Zürich) und als Lehrbeauftragte am Romanischen und am Mittellateinischen Seminar der Universität Zürich tätig. 2014 promovierte sie an der dortigen Philosophischen Fakultät.

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Titel: Prophetie und Politik
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