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Psychologie der Lebendorganspende

Eine qualitative Studie zu Spendemotivationen, Spendeimperativ und der Relevanz von Geschlecht im Vorfeld einer Lebendorganspende

von Merve Winter (Autor:in)
©2015 Dissertation 424 Seiten
Reihe: Psychoanalyse im Dialog, Band 15

Zusammenfassung

Das vorliegende Buch untersucht die psychische Situation von OrganspenderInnen und -empfängerInnen vor einer Lebendnierentransplantation. Ausgangspunkt für diese empirische Studie war der in den vergangenen Jahren häufig diskutierte Geschlechterunterschied in der Lebendorganspende, wonach Frauen häufiger zum Spenden bereit sind als Männer. Daher wurden Spendemotivationen und Entscheidungsprozesse im Hinblick auf eine Geschlechtsspezifik in den Blick genommen. Zentrales Ergebnis ist die Existenz eines so genannten «Imperativs zur Spende», der zwar für alle Angehörigen gilt, der aber in einer geschlechtsspezifischen Weise wirksam wird. Frauen vernehmen die «Anrufungen zur Spende» in anderer Weise als Männer und kommen diesen Anrufungen an sie häufig zuvor, während Männer vermehrt dann zu spenden scheinen, wenn außer ihnen niemand anderes in Frage kommt. Welche Herausforderung, Zumutung, aber auch Chance diese spezielle Situation im Vorfeld einer Lebendorganspende darstellt und wie sie psychisch verarbeitet wird, davon handelt dieses Buch.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Inhalt
  • Geleitwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Theorieteil: Gender Imbalance, Entscheidungsprozesse, Spendemotivationen in der Organspende
  • 2.1 Terminale Niereninsuffizienz und Transplantation als Behandlungsmethode der Wahl
  • 2.2 Geschlechterunterschiede in der Organspende: Frauen spenden, Männer empfangen
  • 2.3 Forschungsfrage und Literatursichtung: Entscheidungsprozesse, Motivation zur Lebendorganspende und Ansätze der Geschlechterstudien
  • 3. Methodologie
  • 3.1 Fallauswahl und Studiendesign (Leitfaden, Interviewführung und Transkription)
  • 3.2 Methodisches Vorgehen
  • 4. Empirischer Teil I: Fallvignetten Interviews und Falldarstellungen
  • 5. Empirischer Teil II: Typenbildung
  • 5.1 Der Typusbegriff
  • 5.2 Übersicht über die gefundenen Typen
  • 5.3 Die selbstverständlich-euphorischen SpenderInnen mit hoher Spende-Agency (Typ 1)
  • 5.4 Die selbstverständlich-ambivalenten Spender, die „keine Wahl“ haben
  • 5.5 Die ambivalent-widerständige Spenderin
  • 5.6 Zusammenfassung Spende-Typen
  • 5.7 Die Positionen der EmpfängerInnen
  • 6. Wunsch- und Angstthemen im Rahmen der Spende und des Empfangs
  • 6.1 Generative Wunschvorstellungen bei den SpenderInnen
  • 6.2 Wunschvorstellungen auf Seiten der Empfangenden
  • 6.3 Angstthemen auf Seiten der Spende
  • 6.4 Angsthemen auf der EmpfängerInnen-Seite
  • 6.5 Zusammenfassung: Psychische Mechanismen der Wunscherfüllung und der Angstreduktion bei einer anstehenden Lebendnierenspende
  • 7. Diskussion
  • 7.1 Von den Spendemotivationen und Entscheidungsprozessen zum Spendeimperativ
  • 7.2 Geschlecht und Organspende
  • 8. Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang

Geleitwort

Die Öffentlichkeit zeigte sich schockiert: Am 7.1.2013 berichtete ZEIT online – andere Zeitungen und elektronische Medien waren ebenfalls tätig – über die alarmierend geringe Bereitschaft zur Organspende, die seit 2012 den niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreicht hatte und gemäß Information der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) gegenüber 2011 drastisch abgenommen hatte. Besonderen Einfluss hatte dabei der ärztliche Missbrauch im Umgang mit Spendeorganen in mehreren deutschen Kliniken. Die Medien beschäftigten sich intensiv und anhaltend mit den skandalösen Verhältnissen, aber auch mit dem allgemeineren Problem der verminderten Spendemotivation. Nicht nur die Bereitschaft zur postmortalen, sondern insbesondere auch zur Lebendorganspende hat sich verringert.

Ein ernstes Problem, bleibt doch die Transplantationspraxis weiterhin auf das freiwillige Engagement gesunder Spender oder das intakte Organ einer verstorbenen Person angewiesen. Freiwillige Spender stellen sich entweder anonym zur Verfügung, das ist bei der Postmortalspende der Fall und bei Lebendorganspenden möglich (living unrelated donors); oder die Spende erfolgt im Rahmen einer persönlichen Beziehung, etwa zugunsten eines Angehörigen; dies ist der typische Fall bei Lebendorganspenden. Das Transplantationsgesetz gestattet den chirurgischen Eingriff bei gesunden Personen und die Organentnahme bei Verstorbenen.

In Gesellschaften mit hochtechnisierter Medizin und zunehmend nachhaltigem Transplantationserfolg ist es ein politisches Anliegen, die Bevölkerung zu motivieren, eigene gesunde Organe für Kranke zu medizinischen Transplantationszwecken postmortal oder als Lebendorganspende zur Verfügung zu stellen. Der Bedarf steigt. Prominente lassen sich für mediale Kampagnen gewinnen, um mit hohem moralischem Engagement für eine Selbstverpflichtung zur Organspende zu werben. Spenden sollte im Zeichen der Selbstverständlichkeit stehen, schon um den kriminellen Organhandel abzuwenden, der die Schutzlosigkeit und die Notlage besitzloser Menschen ausbeutet und Profitinteressen bedient.

Die Lebendorganspende als Bürgerpflicht? So einfach ist es nicht. Im Unterschied zur Blutspende findet ein gravierender Eingriff mit psychosozialen Folgen statt. Zwei Drittel der Lebendorganspenden in Deutschland und der Schweiz kommen von Frauen. Für diesen Befund hat sich die Kenn ← 11 | 12 → zeichnung „Gender imbalance“ oder „Gender disparity“ eingebürgert. Ob die Gender imbalance auf einen freiwilligen weiblichen Altruismus hinweist oder auf Kapitulation vor imperativem Druck, ist genauer zu untersuchen. Denn so lange die Transplantationsmedizin auf menschliche Organe angewiesen ist, muss sich die Postmortal- und die Lebendorganspende als Teil einer medizinischen Kultur etablieren. Das medizinische und psychologische Begutachtungsverfahren im Vorfeld der Spende profitiert von den Befunden, besonders bei qualitativen Studien, denn hier werden Beziehungsdynamik, Konfliktspannung und Komplexität der Entscheidungsprozesse sichtbar. Je praxisnäher die Forschung, desto grösser die Chance, dass sich ärztliches Handeln mit psychosozialer und psychologischer Kompetenz verbindet und die Spendesituation als Herausforderung für den einzelnen und für die beteiligten Männer und Frauen ins Blickfeld rückt.

Männer und Frauen: Sie unterscheiden sich zum Teil, was Spenden und Empfangen angeht. Dem geht Merve Winter in ihrem Buch auf den Grund. Gibt es einen Imperativ zur Spende? Die Autorin ist in aufschlussreichen Fallanalysen persönlichen Entscheidungsprozessen auf der Spur. Haben Spendekandidaten und Spendekandidatinnen die Möglichkeit, Risiken, Chancen und Konfliktdimensionen frei zu durchdenken und in ihren Beziehungen zu teilen? Erfahrungsgemäß verbindet sich der Spendeimperativ mit einer ärztlichen Informationspolitik, die das medizinische Risiko als gering darstellt. Das erschwert dem medizinischen Laien, Sorgen und Befürchtungen zu artikulieren. Denn sie oder er ist mit der Asymmetrie der fachlichen Expertise konfrontiert, die ihm oder ihr das Urteil über die Berechtigung eigener Bedenken erschwert; auch steht eine Bedenkenträgerin im Bann normativer Erwartungen.

Die Befunde sind reichhaltig. Sie sind ergiebig, was Spendemotivationen, Entscheidungsprozesse und Spendeimperativ angehen. Zu Geschlecht und Organspende fanden sich Geschlechterdifferenzen im Vorfeld einer Lebendnierenspende. Der Bedeutungshorizont der Lebendorganspende wurde als weiblich und männlich konnotierte Praxis sichtbar. Es fanden sich geschlechterdifferente Positionierungsweisen, Wunsch- und Angstphantasien und geschlechtsspezifische Ausdrucksformen für das Anliegen, eine Organspende zu erhalten. Diese Anrufungsprozesse gestalten sich für Frauen und Männer nicht gleich. Frauen kommen häufig den Anrufungen an sie zuvor. Männer lassen sich im Rahmen der Organspende gerne als Helden anrufen. Frauen legen ein stärkeres Gewicht auf die Beziehungsgestaltung durch die Lebendorganspende. Sie genießen einerseits die aktive und potente Position als SpenderInnen, empfinden sich aber um ← 12 | 13 → gekehrt als bedürftige EmpfängerInnen nicht gleichermaßen depotenziert wie die Ehemänner in vergleichbarer Position. Die Ehefrauen gönnen ihren Männern die Position des heldenhaften Spenders. Ehemänner dagegen sehen ihre Frauen offenbar weniger gern in heldinnenhaften Positionen. Es ist nicht das Geschlecht allein, das die Einstellung zu einer Spende bestimmt. Die Identitätspositionen als Frau und Mutter/Ehefrau/Schwester sind ineinander verwoben und wirken auf unterschiedlichen Ebenen zusammen. Ob und wie stark die Anrufungen zur Organspende angenommen werden, hängt einerseits stark von der jeweiligen persönlichen Lebenslage und der Beziehung zur potentiell empfangenden Person, andererseits aber auch von den jeweiligen Identitätspositionen der Spendenden als Mutter, Vater, Ehefrau etc. ab. Was die Bereitschaft, ein Organ zu spenden, für den einzelnen bedeutet und wie er diese lebenswichtige Gabe versteht, wird genau rekonstruiert und in Zusammenhang mit der Beziehung und der Lebenssituation gesetzt.

Die Lebendorganspende – so die Einschätzung – ist grundsätzlich hilfreich, zugleich aber für die Beteiligten eine ernst zu nehmende und langfristige Belastung. Die Autorin warnt ausdrücklich davor, diese Risiken zu bagatellisieren. Als langjährige Expertin in psychologischer Begutachtung von Spendewilligen formuliert Merve Winter Perspektiven einer Beratungs-, Unterstützungs- und Begleitungspraxis und illustriert das überzeugend an einem ausgewählten Beispiel. Dort wird unmittelbar evident, wie wichtig die informierte Zustimmung als Chance zur genauen Orientierung als auch die Chance zur Thematisierung von Ambivalenzen und Konfliktspannungen ist. Das äußerst lesenswerte Buch vermittelt in bester Weise praxisnahe Forschung und lebensweltliche Anschauung. Und es lädt mit fundierten Argumenten dazu ein, in der politisch, ethisch und psychologisch Debatte um die Organspende Stellung zu beziehen.

Brigitte Boothe

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1.Einleitung

Das Thema Organspende war in den vergangenen Jahren ein viel diskutierter Topus in den öffentlichen Medien. Vor allem die Organspendeskandale an den Kliniken in Göttingen, Leipzig, München rechts der Isar und Münster, die seit dem Sommer 2012 nach und nach ans Licht kamen, haben viele Menschen empört und verunsichert, so dass in Folge die Organspendezahlen bei der Postmortalspende deutlich zurückgegangen sind. Auch die Validität der Hirntoddiagnostik, die bis dato als verlässlich und sicher galt, wird seit dieser Debatte zunehmend auf den Prüfstand gestellt und kritisch hinterfragt.

Wie sich die Debatte um die rechtlichen Grundlagen der Organtransplantation auch inhaltlich verschoben hat, macht ein Blick in die Historie dieser Debatte deutlich: Wurde 2007 noch ein Alternativvorschlag des Deutschen Ethikrats (damals noch Nationaler Ethikrat) zum bestehenden Transplantationsgesetz heftig kritisiert, weil in diesem Elemente einer sogenannten „Widerspruchsregelung“ integriert waren, so sieht die am 25. Mai 2012 vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit beschlossene Reform des Transplantationsgesetzes vor, künftig alle Krankenversicherten ab dem 16. Lebensjahr regelmäßig hinsichtlich ihrer Einstellung zur Organspende zu befragen. Damit hat Deutschland zwar noch keine Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz verankert, aber so einfach wie bisher soll es den BundesbürgerInnen nun nicht mehr gemacht werden, sich dem Thema Organspende zu entziehen: Der heutige Außenminister und damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, der im August 2010 medienwirksam eine Niere für seine Frau spendete, drückte es in seiner Erklärung zum Gesetzesentwurf im Bundestag folgendermaßen aus: „Wir wollen den Menschen tatsächlich etwas mehr auf die Pelle rücken, indem wir fragen und nachfragen“. „Es gibt kein unverbrüchliches Recht, in Ruhe gelassen zu werden“1. Auch der damalige Fraktionsvorsitzende der FDP Rainer Brüderle äußerte sich in ähnlicher Weise: „In Deutschland sterben derzeit im Schnitt jeden Tag drei Menschen, weil sie keine Organspende ← 15 | 16 → erhalten können. Ich wiederhole: Es sind jeden Tag drei Menschen. Uns obliegt eine ethische und politische Verantwortung dafür, dass sich diese tragische Lage ändert“2. Der Diskurs, der im Rahmen der Änderung des Transplantationsgesetzes im Frühjahr 2012 im Bundestag geführt wurde, zeigt deutlich, dass die Organspende mittlerweile ein Thema ist, mit dem sich zwangsläufig beschäftigt werden muss und dem sich künftig niemand mehr entziehen kann. Mit den Worten der Soziologin Mona Motakef kann man konstatieren: „Der Ruf nach Organspenden ist laut geworden, Organspende geht alle an“ (Motakef 2011, S. 11).

Ausgangspunkt für die Änderung des Transplantationsgesetzes war ein seit Jahren bestehender Mangel an Organen: So standen im Jahr 2011 in Deutschland ca. 12 000 PatiententInnen auf der Warteliste für ein neues Organ. Transplantiert wurden aber nur 4.932 Organe, davon waren 2.850 Nieren, 366 Herzen, 1.199 Lebern und 337 Lungen (vgl. DSO 2012a). Im Jahr 2013 wurden – vermutlich als Folge der Organspendeskandale – nur 4059 Organe transplantiert (DSO 2013, S. 64). Der Mangel verschärft sich momentan also eher, als dass er behoben wird. Dieses Missverhältnis von benötigten und gespendeten Organen hat dazu geführt, dass die Bundesregierung gesundheitspolitisch schon seit Jahren Anstrengungen unternimmt, das Ungleichgewicht zwischen Bedarf auf der einen und transplantierbaren Organen auf der anderen Seite zu reduzieren. Hierzu bieten sich prinzipiell zwei Möglichkeiten an: eine Erhöhung der Postmortalspenden sowie ein Ausbau der Lebendorganspenden. Die jüngste Gesetzesänderung nimmt dabei primär den Ausbau der Postmortalspenden in Angriff, auch wenn in Deutschland wie bereits erwähnt – und anders als in anderen Ländern – keine Widerspruchslösung eingeführt wurde (was aber ein sicheres Instrumentarium wäre, die Zahlen innerhalb der Postmortalspende zu erhöhen). Der Diskurs des „Organmangels“, auf den im Rahmen dieser öffentlichen Debatten so häufig Bezug genommen wird, ist dabei jedoch selbst zu hinterfragen, wie Motakef (2011) kritisiert:

Der eingeführte Begriff des Organmangels suggeriert eine scheinbar neutrale Feststellung eines zahlenmäßig begründbaren Mangels. Er setzt jedoch voraus, dass eine bestimmte Anzahl von Organen einen Mangel darstellt und enthält damit eine normative Festlegung: Die Nachfrage nach Organen soll bestimmen, wie weit die Transplantationsmedizin ausgedehnt wird (ebd., S. 16). ← 16 | 17 →

Noch moralisierender wird die Diskussion dann, wenn mit Blick auf den Organmangel gar vom „Tod auf der Warteliste“ (Breyer et al. 2006) gesprochen wird, wie dies in zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Organspende und in der öffentlichen Debatte regelmäßig geschieht. Motakef führt hierzu aus:

Die geringe Spendebereitschaft wird hier in direkter Relation zum Bedarf potentieller Spenderinnen und Spender gesetzt. Die Unterlassung der Organspende wird zwar nicht bestraft, dafür werden Menschen, die ihre Organe nicht spenden wollen, in dieser Logik bezichtigt, den Tod anderer potentiell in Kauf genommen zu haben. Es wird suggeriert, dass Patientinnen und Patienten sterben, weil kein Organ für sie gespendet wurde (ebd., S. 16–17).

Man könnte also auch sagen: Es herrscht ein Imperativ zur Spende, und zwar sowohl in der Postmortalspende als auch in der Lebendorganspende. Vor allem Letzteres wird diese Studie unter anderem aufzeigen. Der Imperativ zur Spende ist auch deshalb interessant, weil er anscheinend auf den Bereich der Organspende beschränkt bleibt, in anderen gesellschaftlichen Bereichen aber nicht in vergleichbarer Weise zu finden ist: So unterliegt beispielsweise das Spenden von Geld an bedürftige Menschen nicht der gleichen normativen Logik wie das Spenden von Organen. Es wird zwar zum Spenden für hungernde Kinder in Afrika aufgerufen, aber es wird nicht die Gleichung aufgemacht, wonach Nicht-SpenderInnen in direkter Weise für den Tod dieser Kinder in den Entwicklungsländern verantwortlich sind. Dabei könnte man annehmen, dass es viel leichter fällt, Geld zu spenden als ein eigenes Organ.

Dass der Diskurs um die Organspende erstaunlich ideologisch aufgeladen und mit Attributen der Mitmenschlichkeit versehen wird, kann auch an der bereits erwähnten Bundestagsdebatte zur Änderung des Transplantationsgesetzes aus dem Jahr 2012 gezeigt werden: Dort schwärmte der Vorsitzende der CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag Volker Kauder: „In einer Bürgergesellschaft ist es doch für jeden, auch für jeden von uns, etwas Wunderbares, wenn er durch die Fußgängerzone gehen und sagen kann: Eine ganze Reihe dieser Menschen ist bereit, mir zu helfen, wenn ich wirklich Hilfe brauche“3. Frank-Walter Steinmeier (SPD) ergänzte: „Es geht um Verantwortung. Es geht um die Verantwortung, die wir für Menschen übernehmen, die unserer Hilfe bedürfen“ (ebd.). Und ← 17 | 18 → Rainer Brüderle (FDP) fügte an: „Wer eine neue Niere oder ein neues Herz braucht, der verdient die Unterstützung der Gesellschaft.“ Der fraktionsübergreifende Gesetzesentwurf zeige dabei, dass das Parlament die Fähigkeit besitze, „bei ethischen Fragen und bei Fragen der Existenz und des Miteinanders auch außerhalb des politischen Wettbewerbs, der zur Demokratie und zum Parlament gehört, solche Regelungen auf den Weg zu bringen“ (ebd.). Jürgen Trittin (Grüne) wies in seiner Rede auf die ungleiche Geschlechterverteilung hin, die er allerdings mit einer – meines Kenntnisstandes nach überhöhten – 80/20 Verteilung angab, woraus er schlussfolgerte: „Wir haben also die Aufgabe, den geschlechtsspezifischen Unterschied in der Spendebereitschaft zu verändern und auch Männer dazu zu bringen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen“ (ebd.).

Dieser kurze Einblick in die Debatte des Deutschen Bundestages lässt erstaunt fragen, ob das Thema Organspende tatsächlich dazu angetan sein sollte, zerstrittene Parteien zu versöhnen und über das Thema Organspende einen Ort der selbstverständlichen und selbstlosen Mitmenschlichkeit in dieser Gesellschaft zu kreieren, der sich ansonsten nur selten findet. Auch Motakef wundert sich im Zuge ihrer Diskursanalyse zur Organspende über die Form, in der öffentlich über die Organspende gesprochen wird:

Die gesellschaftliche Vermittlung des Themas Organspende kann verwundern: Bildet die Praxis der Organspende ein Refugium altruistischen Handelns in einer sonst durch und durch egoistisch-kapitalistischen Welt? (Motakef 2011, S. 13).

Motakefs Verwunderung ist nachvollziehbar; denn die Dramatik, mit der die Missstände innerhalb der Organtransplantation angeprangert werden und im gleichen Zuge an ein menschliches Mitgefühl appelliert und eine Spende als moralische Handlung ausgezeichnet wird, findet sich tatsächlich nur in der Rhetorik um die Organspende, nicht aber im ökonomischen Sektor. Hier könnte man aber ein ähnlich tragisches Missverhältnis von realem Mangel auf der einen und einem Überfluss auf der anderen Seite konstatieren, der jeden Tag sehr viele Menschenleben kostet. Volker Kauders Wunsch nach mehr Mitmenschlichkeit in Fußgängerzonen geht an der Realität vorbei, wenn man bedenkt, wie wenige Menschen in Gefahrensituationen wirklich bereit sind, sich für andere einzusetzen und Zivilcourage zu zeigen, womöglich unter Inkaufnahme eigener Risiken. Selbst der Euro für die bettelnde Person, die ganz offensichtlich in Not ist, fällt vielen Menschen schwer. Eine Mehrzahl ist überhaupt nicht bereit zu spenden, auch wenn es sich nur um einen sehr geringen Betrag handelt. Die Ethnologin Vera Kalitzkus kritisiert, dass die BefürworterInnen der Transplan ← 18 | 19 → tationsmedizin die Dimension derselben innerhalb des gesamten Gesundheitssystems nicht mehr klar erkennen könnten. Dies zeige sich daran, dass sie die Knappheit an Spendeorganen als „eines der drängendsten Probleme der Medizin in unserem Land“ (Breyer et al. 2006, zit. nach Kalitzkus 2009, S. 222) bezeichneten. Kalitzkus weist im Gegenzug darauf hin, dass es „viele andere mindestens genauso drängende Probleme gibt“ (ebd.) und nennt als Beispiele die Lebenserhaltung durch „verbesserte Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung, Prophylaxe, Unfallvermeidung und Schutz vor Selbsttötung“ (ebd.). Ein Mangel in diesen Bereichen würde jedes Jahr viele zehntausend Menschenleben kosten. Durch radikalere Geschwindigkeitsbegrenzungen oder aber die „Unterstützung und Förderung sozialer Randgruppen“ könnten ebenfalls viele Menschenleben gerettet werden. Entsprechend fragt sich Kalitzkus, wieso solche Maßnahmen nicht mit ähnlicher Vehemenz eingefordert werden wie der Ausbau der Organtransplantation. Nicht stimmig erscheint auch das Argument des Gesundheitsministers Daniel Bahr (FDP) in der bereits erwähnten Bundestagsdebatte, demzufolge es ein Widerspruch sei, dass es in Deutschland eine hohe Bereitschaft gebe, ein Spendeorgan bei eigener Bedürftigkeit anzunehmen, die Bereitschaft aber, sich für einen Organspendeausweis zu entscheiden, sehr gering ausgeprägt sei4. Bekanntlich gewinnen die meisten Menschen nun einmal lieber im Lotto, als ihrerseits eine hohe Summe an Bedürftige zu spenden. Dies sollte eigentlich nicht verwundern. Der Theologe Arne Manzeschke führt die Unwilligkeit vieler Bürgerinnen und Bürger zur Organspende auf die Unsicherheiten zurück, die sich unter den jetzigen Bedingungen hinsichtlich der Hirntotdiagnostik ergeben und die bei manchen Menschen die Sorge auslösen könnten, ob sie im Krankenhaus als TrägerInnen eines Organspendeausweises auch wirklich noch gut versorgt werden würden (Manzeschke 2008, S. 311). Der scheinbare Widerspruch beziehungsweise das auf diese Weise vom Gesundheitsminister Daniel Bahr oder dem Schauspieler Til Schweiger als unethisch gebrandmarkte Verhalten, selbst keinen Organspendeausweis zu führen, bei Bedarf aber ein Organ anzunehmen, wird auch gesundheitspolitisch in sogenannten „Marktlösungen“ kritisch diskutiert: Solche Lösungen sehen in Konsequenz vor, künftig Personen, die selbst eine Organspende in An ← 19 | 20 → spruch nehmen würden, selbst aber keinen Spendeausweis führen wollen, aus dem System der Organspende herauszuhalten. Eine solche Regelung ist bislang noch nicht eingeführt. Noch gibt es in unserem Transplantationssystem den gleichen Zugang für alle zu einer Organtransplantation unabhängig von der eigenen Spendebereitschaft. Die Frage ist indes, wie lange das noch so sein wird.

Dieser kurze Einblick in die kürzlich geführten gesundheitspolitischen Debatten sollte verdeutlichen, dass die Appelle zur Spende im Feld der Organtransplantation sehr viel moralischer vonstattengehen und hier andere Maßstäbe hinsichtlich ethischer Fragen und Fragen der Existenz und des Miteinanders von Menschen angelegt werden als beispielsweise im Finanzsektor oder im gesamten Sozialwesen, wo sich solche Fragen (gerade in dieser Zeit) aber nicht weniger dringlich stellen.

Menschen sterben – das ist festzuhalten – zuallererst an ihrer Erkrankung und nicht, weil keine Organe zur Verfügung stehen. Sie sterben an den Folgen eines Organversagens, das man mittlerweile mit Hilfe der Hochleistungsmedizin für einige Jahre – inzwischen sogar auch Jahrzehnte – aufhalten könnte. Es ist wünschenswert, dass weniger Menschen an einem Organversagen sterben müssten, weil man ihnen mit einem Transplantat helfen könnte. Ein Recht auf ein Organ leitet sich daraus aber nicht ab. Das betonen auch die PolitikerInnen einmütig. Gerade vor dem Hintergrund, dass es die medizinisch-technischen Möglichkeiten der Organtransplantation gibt und die Ergebnisse der Transplantationsmedizin so gut sind, scheint eine Organspende heute fast schon zu einer zwischenmenschlichen Pflicht geworden zu sein, so zumindest vermitteln es die Plädoyers der PolitikerInnen. Auch wenn von politischer Seite vehement betont wird, dass niemand unter Zwang gesetzt oder zur Organspende verpflichtet werden soll, scheint es mittlerweile doch einen zunehmenden Druck hin zur Organspende zu geben. Ein Recht darauf, „in Ruhe gelassen zu werden“, gibt es nach dem neuen Transplantationsgesetz nun nicht mehr. Mit dem Thema Organspende wird den Menschen – mit Steinmeiers Worten – zunehmend „auf die Pelle gerückt“.

Die vorliegende Studie, die der Frage nachgegangen ist, wie die psychische Situation im Vorfeld einer Lebendnierenspende erlebt wird und ob und in welcher Weise sich hier Geschlechterunterschiede finden, konstatiert einen solchen Spendeimperativ auch im Feld der Lebendorganspende, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. ← 20 | 21 →

Details

Seiten
424
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783035108057
ISBN (ePUB)
9783035196092
ISBN (MOBI)
9783035196085
ISBN (Paperback)
9783034315128
DOI
10.3726/978-3-0351-0805-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Organspende Geschlechtsspezifik Innere Medizin
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 424 S., zahlr. Abb.

Biographische Angaben

Merve Winter (Autor:in)

Nach ihrem Psychologiestudium an der FU Berlin war Merve Winter von 2006 bis 2009 Kollegiatin im Basler Graduiertenkolleg «Gender in Motion». Ihr Dissertationsprojekt, dessen gekürzte Fassung hier vorliegt, wurde in dieser Zeit vom Schweizerischen Nationalfond gefördert. Für das Universitätsklinikum Leipzig ist Merve Winter seit 2005 als psychologische Gutachterin bei Lebendorganspenden tätig, außerdem arbeitet sie als Lehrbeauftragte und befindet sich seit 2013 in psychoanalytischer Weiterbildung am IfP in Berlin.

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Titel: Psychologie der Lebendorganspende
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