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Metaphysik zwischen Tradition und Aufklärung

Wolffs "theologia naturalis" im Kontext seines Gesamtwerkes

von Juan Li (Autor:in)
©2016 Dissertation 340 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch ist die erste deutschsprachige Monographie zu Christian Wolffs Theologia naturalis, jenes letzten Teils seines großen metaphysischen Systems. Christian Wolff ist die zentrale Gestalt in der deutschen Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aus der Sicht seiner Gegner war Wolff nichts anderes als ein Fatalist, Deist und Atheist. Aber er fällt auch durch ausgeprägt konservative Züge auf, die sich in seinen metaphysischen und religionsphilosophischen Arbeiten zeigen. Wolff selbst hielt es für möglich, dass die Anwendung der philosophischen Methode auf die Theologie der christlichen Religion nicht schaden würde. Wie ist dies möglich? Die Autorin prüft Wolffs Wunderbeweis, seine Spinozismus-Kritik und seine Argumente für die natürliche und offenbarte Religion im Kontext seines Gesamtwerkes. Dies sind die Hauptthemen der damaligen philosophischen Auseinandersetzungen. Dadurch tritt der Charakter der Metaphysik Wolffs zwischen Tradition und Aufklärung in ein neues Licht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zusammenfassung
  • Vorwort
  • Einleitung
  • I. Fragestellung und Forschungszustand
  • 1. Fragestellung: Ambivalenz der natürlichen Theologie bei Christian Wolff
  • 2. Bisherige Erforschung der natürlichen Theologie von Christian Wolff
  • II. Themen und Gliederung
  • Kapitel I. Wunder
  • 1 Die Wunderdebatte
  • 1.1 Die Wunderbegriffe bei Spinoza und Locke
  • 1.2 Die protestantische Reaktion
  • 1.3 Kritik an Wolffs Wunderverständnis
  • 2 Erkenntnistheoretische Begründung der Gotteserkenntnis
  • 2.1 Philosophische Erkenntnis
  • 2.2 Ort der ‚willkürlich‘ konstruierten Begriffe
  • 2.3 Poppos Kritik und Wolffs Antwort auf die Methodenkritik
  • 3 Innerliche Möglichkeit des Wunders
  • 3.1 ,Willkürliche‘ Konstruktion eines möglichen Wunderbegriffs
  • 3.2 Wiederherstellungswunder als Abrundung des Wunderbegriffs
  • 3.3 Das Problem der Verletzung des Prinzips der Sparsamkeit
  • 4 Äußerliche Möglichkeit des Wunders
  • 4.1 ,Willkürliche‘ Konstruktion eines möglichen Gottesbegriffs
  • 4.2 Deduktion der dem Gottesbegriff eigentümlichen Attribute
  • 4.3 Der apriorische Beweis des Zwecks des Wundermachens
  • 5 Nutzen der apriorischen Erkenntnis des Zwecks des Wundermachens
  • Zusammenfassung
  • Kapitel II. Autonomie der Moral
  • 6 Möglichkeit der moralischen Handlung (Theorie)
  • 6.1 Erklärung des Mitwirkens Gottes beim Handeln des Menschen in der Theologia naturalis
  • 6.2 Natürliche Freiheit des Menschen
  • 6.3 Erkenntnis der Richtigkeit der Handlung als Kriterium zur Beurteilung der Gültigkeit des göttlichen Gesetzes
  • 6.4 Autonomie der Moral
  • 7 Wirklichkeit der moralischen Handlung (Praxis)
  • 7.1 Methodologische Überlegungen zur Lösung des Problems
  • 7.2 Dreistufige Zweck-Mittel-Setzung
  • 7.3 Nutzen des Prinzips der Reduktion in der Moralphilosophie
  • 8 Natürliche Religion und Moral
  • 8.1 Tugend und Frömmigkeit
  • 8.2 Allgemeine Regeln der innerlichen und äußerlichen Gottesdienste
  • 8.3 Kernpunkt in Oratio de Sinarum philosophia practica: Ohne die Ausübung können nicht einmal wahre Begriffe der moralischen Dinge erworben werden
  • Zusammenfassung
  • Kapitel III. Atheismus und Spinozismus
  • 9 Fatalismus
  • 9.1 Überblick über das Verhältnis zwischen Fatalismus, Atheismus, Deismus und Naturalismus bei Wolff
  • 9.2 Vergleich zwischen der weisen Verknüpfung der Dinge und dem Fatalismus
  • 10 Atheismus und ‚Deismus‘
  • 10.1 Grundlage des Atheismus
  • 10.2 Grundlage des ‚Deismus‘
  • 10.3 Wann ist es nötig, den Atheismus oder den ‚Deismus‘ zu widerlegen?
  • 11 Spinozismus
  • 11.1 Strategie zur Widerlegung des Spinozistischen Systems
  • 11.2 Irrtümer der Grundbegriffe in der Ethik
  • 12 Der praktische Atheismus
  • 12.1 Größerer Schaden des praktischen Atheismus
  • 12.2 Hilfsmittel gegen den praktischen Atheismus
  • Zusammenfassung
  • Kapitel IV. Offenbarungsreligion
  • 13 Beweisprogramm beim frühen Wolff
  • 14 Dogmatische Offenbarungstheologie
  • 14.1 Hermeneutik der Bibel
  • 14.2 Merkmale der wahren Offenbarung
  • 14.3 Beweis der theoretischen geoffenbarten Wahrheiten
  • 15 Moraltheologie
  • 15.1 Bestimmung der richtigen Handlung des Christen
  • 15.2 Natürliche Tugend und christliche Tugend
  • Zusammenfassung
  • Schlussbetrachtung
  • Verzeichnis der zitierten Schriften
  • I. Quellen
  • 1. Wolff
  • 2. Andere Autoren
  • II. Sekundärliteratur
  • 1. Allgemeines
  • 2. Erkenntnistheoretisches
  • 3. Religionsphilosophisches
  • 4. Moralphilosophisches

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Vorwort

Die vorliegende Untersuchung über die natürliche Theologie bei Christian Wolff wurde im April 2014 an der Philipps-Universität Marburg als Dissertation im Fach Philosophie angenommen.

Für zahlreiche Anregungen und für seinen Rat während der Abfassung und der Überarbeitung dieser Arbeit danke ich besonders Herrn Professor Dr. Winfried Schröder und Herrn Professor Dr. Walter Jaeschke.

Shanghai, im August 2015

Li Juan

Abkürzungsverzeichnis

WW Wolff, Christian: Gesammelte Werke, hrsg. von Jean École, Hans Werner Arndt, Charles A. Corr, Joseph Ehrenfried Hofmann und Marcel Thomann, Hildesheim 1962 ff.

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Einleitung

I. Fragestellung und Forschungszustand

1. Fragestellung: Ambivalenz der natürlichen Theologie bei Christian Wolff

Die Metaphysik von Christian Wolff, insbesondere seine Theologia naturalis1, gilt in der neueren Aufklärungsgeschichtsschreibung als Paradebeispiel ← 15 | 16 → für die moderate oder gemäßigte Aufklärungsphilosophie2. Sie ist demnach einerseits nicht spätscholastische Philosophie und protestantische Schulphilosophie, die eine apologetische und pädagogische Funktion für die Offenbarungsreligion haben. Andererseits ist Wolff auch von den radikalen Aufklärern zu unterscheiden, die teilweise – wie die Deisten – die natürliche Theologie bzw. die durch Vernunft gewonnene Gotteserkenntnis als Maßstab der kritischen Prüfung der Offenbarungsreligion setzen, teilweise aber auch – wie die Atheisten – die natürliche Theologie verwerfen3. Wie die anderen moderaten Aufklärer suchte Christian Wolff einerseits die Harmonie zwischen vernünftiger Gotteserkenntnis und christlicher Offenbarung nachzuweisen, andererseits aber die Radikalen zu bekämpfen. Im Vergleich zum 6. Kapitel der Deutschen Metaphysik, das Gott auf 99 Seiten behandelt, werden in der zweibändigen Theologia naturalis auf insgesamt 1820 Seiten viele wichtige Themen im Einzelnen aufgerollt. Dabei sichert Wolff nicht nur die a priori bewiesene Propositionen zusätzlich durch biblische Aussagen ab, um die Übereinstimmung zwischen der vernünftigen Gotteserkenntnis und den biblischen Glaubenssätzen (consensus Theologiae naturalis cum scriptura sacra)4 zu zeigen. Er hebt auch insbesondere die apologetische Funktion der Kriterien für die göttliche Offenbarung hervor, ← 16 | 17 → nämlich: gegen deistische Tendenzen seiner Zeit, die Notwendigkeit der Offenbarungsreligion nachzuweisen.5 Nicht zuletzt widmet er der Widerlegung der radikalen Ismen, insbesondere des Atheismus, des Fatalismus, des Deismus, des Naturalismus und des Spinozismus, einen beträchtlichen Teil im zweiten Teil der Theologia naturalis.

Dabei drängt sich die Frage auf, ob Wolffs affirmative Stellungnahme zur christlichen Tradition mit seinem autonomen Rationalismus inhaltlich verträglich ist. Denn einerseits ist festzustellen, dass Wolff von Anfang an die Beweisbedürftigkeit der Offenbarungsreligion beim Philosophieren berücksichtigte. Diese konservative Linie schlug er nämlich nicht in opportunistischer Weise erst nach seiner Vertreibung aus Preußen im Jahr 1723 ein, welche durch seine 1721 gehaltene brisante Rede über die praktische Philosophie der Chinesen ausgelöst wurde.6 Schon früh hatte er sich vielmehr mit dem Beweis der Notwendigkeit der christlichen Offenbarung beschäftigt, nämlich in seiner Methodus demonstrandi veritatem religionis christianae von 1707. Auch in der Deutschen Logik behauptete er gegen die Feinde der geoffenbarten Wahrheiten die Möglichkeit der christlichen Geheimnisse, wie Dreieinigkeit und Inkarnation.7 In späterer Zeit kann man in der Deutschen Metaphysik, Deutschen Ethik und Deutschen Politik auch die Zeilen finden, auf denen er die Vortrefflichkeit der christlichen Religion beweist. So ist es kein Wunder, dass sich Wolff, um ← 17 | 18 → seine Ehre zu retten8, in einer Reihe von Schutzschriften von 1723 bis 17269 und dann in dem 1729 verfassten Vorbericht zur vierten Auflage der Deutschen Metaphysik sowie in der Praefatio und den Prolegomena zur Theologia naturalis zur Wehr setzt und die apologetische Funktion seiner Metaphysik bzw. natürlichen Theologie mehrfach betonte. Man könne in seiner Metaphysik alle Waffen gegen die der Religion gefährlichen Strömungen finden, um sowohl die natürliche als auch die christliche Religion zu verteidigen.10 Zudem betonte Wolff mit allem Nachdruck, dass seine Metaphysik in der Tat „bei den Verständigsten unter den Gelehrten“ und ← 18 | 19 → sogar bei den „vornehmsten Gottesgelehrten“ Beifall fand, zu denen die Jesuiten und auch die protestantischen Theologen, wie Pfaff, zählen.11

Für unsere Untersuchung ist es also wichtig zu wissen, dass Wolff als einem frühreifen Philosophen sehr wohl bewusst war, dass man – insbesondere derjenige, der keine politische Macht hat, die der Philosophie ungünstigen institutionellen Umstände zu ändern – von vorherein in den öffentlichen Schriften mit Behutsamkeit verfahren soll, um bei den Verständigsten von allen Seiten Beifall zu gewinnen und schließlich die Wissenschaft und die Vernunftbildung des Menschen weiter voranzubringen.12 Er musste also die möglichen Angriffe von der theologischen Seite vorgesehen haben.13 Dabei handelt es sich nicht nur darum, dass der Lutheraner Wolff, wie er in seiner Selbstbiographie rückblickend sagt, von seiner ersten Kindheit an den konfessionellen Streit zwischen Lutheranern und Katholiken in Breslau wahrnahm, und eines der ernsten Anliegen seiner Philosophie eben darin liegt, ← 19 | 20 → „die Theologie auf unwidersprechliche Gewisheit zu bringen“.14 Wolff war es als Philosoph auch sehr wohl bewusst, dass er vor einem allgemeinen geschichtlichen Hintergrund philosophierte, den er mit vielen verfolgten Denkern seiner Zeit teilte15. Er sah sich also genötigt, ein wissenschaftliches Erkenntnissystem aufzubauen, welches die Bejahung der Offenbarungsreligion ermöglichen und sich durchsetzen konnte.

Andererseits zeichnet sich die rationalistische Philosophie von Wolff vor allem durch folgende Elemente aus, die sich der radikalen Position annähern: Erstens hat er sich die durch Spinozas Tractatus Theologico-Politicus als zentrales Anliegen der Aufklärung gestellte Forderung der ‚libertas philosophandi‘16 zu eigen gemacht. Die Freiheit des Philosophierens besteht demnach nicht nur darin, dass man sich in Beurteilung der Wahrheit nach sich selbst richten soll, sondern auch darin, dass man seine philosophische Meinung öffentlich bekannt machen darf.17 Daher moniert er das Verbrechen gegen die Philosophen mit scharfen Worten. Zweitens fordert seine strenge philosophische Methode, dass man keine Zustimmung zu einem Urteil geben darf, bevor man es aus den richtigen Begriffen und dem gültigen Schluss ableitet. Schließlich ist Wolff auch ein Verteidiger einer autonomen Moral. Es steht nämlich in der Macht des Menschen, die Glückseligkeit zu erreichen, ohne sich auf die christliche Offenbarung stützen zu müssen.

Zwar betont Wolff selbst voller Zuversicht, dass die Zulassung der ‚libertas philosophandi‘ keineswegs die christliche Religion aufs Spiel setzen würde, wenn man nach seiner philosophischen Methode philosophiert. „Wenn die ganze Freiheit zu philosophieren denjenigen gestattet wird, die mit der philosophischen Methode philosophieren, dann ist keine Gefahr für ← 20 | 21 → die Religion, die Tugend und den Staat zu fürchten.“18 Doch scheint dies auf den ersten Blick nicht selbstverständlich zu sein. Daher ist es sehr naheliegend, dass seinen Gegnern zufolge – vor allem dem pietistischen Theologen Joachim Lange sowie den orthodoxen Theologen Johann Franz Budde und Johann Georg Walch19 – Wolffs rationalistischer Anspruch und die religiöse Forderung nach der Unterordnung der Vernunft unter den Glauben nicht kompatibel sind. Sie erhoben daher folgende Vorwürfe: Seine auf der strengen Methode beruhende mechanisch-kausale Erklärung der Welt und des Menschen schließe einerseits die Möglichkeit und die Wirklichkeit aller christlichen Geheimnisse aus und leugne andererseits die Willensfreiheit und den freien Willen Gottes als den Grund der moralischen Verbindlichkeit. Seine Philosophie führe also zum Spinozismus und Atheismus20 und zur Abschaffung der christlichen Religion. Sicher standen hinter ihren Angriffen auch politische Interessen und persönliche Motive; dennoch haben sie geahnt, dass Wolffs Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie und Theologie eine fatale Konsequenz für den auf historische Fakten gegründeten christlichen Glauben haben könnte. ← 21 | 22 →

Daraus ergibt sich die Ambivalenz: Ihre markant aufklärerischen Elemente und ihre dezidiert konservative Orientierung verleihen der Wolffschen natürlichen Theologie zumindest auf den ersten Blick einen widersprüchlichen Zug. Bei diesem Widerspruch handelt es sich um die Fragen, wie Wolff seine philosophische Methode auf die natürliche Theologie anwendet, so dass der Gebrauch der Vernunft unbeschränkt wird und zugleich dies der Religion nicht schaden würde, und inwiefern wir sagen können, dass Wolff mit dieser Behauptung recht hat. Diese Fragen zu beantworten ist zugleich auch in erster Linie das Motiv für vorliegende Arbeit.

2. Bisherige Erforschung der natürlichen Theologie von Christian Wolff

Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in der heutigen Forschung der Wolffschen Philosophie wider.21 Man schätzt einerseits ihre aufklärerischen Elemente: Wolff verteidige zwar nicht die absolut unbeschränkte Denkfreiheit, die der Gebrauch der philosophischen Methode voraussetze, wie Spinoza meine22, aber er fordere die Freiheit, nach der philosophischen Methode selbstständig und ungehindert zu denken;23 Seine Philosophie ← 22 | 23 → sei kein pedantischer Dogmatismus, sondern aufgeklärtes Systemdenken24; Er habe auch die sittliche Autonomie der Vernunft zur Geltung gebracht.25 Man könne nämlich sich Gesetze geben und nach ihnen handeln.

Es ist auch eine verbreitete Auffassung, dass der deutsche Deismus eine Radikalisierung der Wolffschen Philosophie ist,26 insofern die radikalen Wolffianer die bei Wolff noch latent vorhandenen Schlussfolgerungen bei der Anwendung der philosophischen Methode auf die Offenbarungsinterpretation deutlich ausgesprochen haben und das Prinzip der Denkfreiheit propagierten. An erster Stelle ist an Johann Lorenz Schmidt zu denken, den begeisterten Anhänger Wolffs und Übersetzer der berüchtigten „Wertheimer Bibel“ (1735), der „Bibel des Deismus“ Christianity as Old as the Creation von Matthew Tindal (1741) und der Ethica von Spinoza (1744).27 Zu nennen ← 23 | 24 → sind auch Hermann Samuel Reimarus, der in seiner nachgelassenen Apologie die Bekenner der vernünftigen Religion in Schutz genommen hat28, und Johann Christoph Gottsched, der die natürliche und vernünftige Redekunst als Gegengift zu der die Jugend verführenden Redekunst der Predigten ansah29. Übrigens weist man auch aus der theologiegeschichtlichen Perspektive darauf hin, dass die Rechts- oder theologischen Wolffianer (die Grenzen zwischen den gemäßigten und den radikalen Wolffianern sind durchlässig30), wie Reinbeck, nicht wirklich Vertreter der Gedankenwelt Wolffs sind, insofern Wolff einen deistischen Mechanismus vertritt.31

Aber andererseits, wenn man Wolffs Argumentation für die Herrschaft und Vorsehung Gottes und die christlichen Geheimnisse in der natürlichen Theologie heranzieht, zieht man oft folgende Konklusionen: Seine Philosophie sei dem Inhalt nach weitgehend konservative metaphysische ← 24 | 25 → Philosophie;32 Seine moralische Autonomie sei nur eine ‚relative‘ Autonomie33, weil das Naturgesetz seinen Grund letztlich im göttlichen Verstand findet; Wolffs Naturrecht sei im Grund nichts anderes als die praktische Seite der natürlichen Theologie.34 Damit hängt zusammen, dass die theoretische Leistung der Wolffschen natürlichen Theologie oft geringgeschätzt ist. Denn man nimmt häufig an, dass er einen scholastischen kosmologischen Gottesbeweis liefert, der von der Kontingenz der materiellen und geistlichen Welt und damit von der Vorstellung Gottes als Existenzgrund der Welt ausgeht, welcher wiederum von Immanuel Kant von Grund auf als falsch abgelehnt und zermalmt wurde.35 Nicht zuletzt sucht man auf Grund Wolffs zugespitzter religionsapologetischer Position in seinen späteren Briefen zu zeigen, dass die religionskritische Weiterverwendung ← 25 | 26 → seiner Metaphysik vielmehr eine Entfremdung als eine Konsequenz seines Denkens war.36

Beides scheint zutreffend zu sein. Dies ist der Zwiespältigkeit der Wolffschen Philosophie zu verdanken, die ein eindeutiges Urteil erschwert.37 Es bedeutet jedenfalls nicht, dass diese gegensätzlichen Interpretationen Wolffs eigener Position gerecht geworden sind. Die aufklärerische Interpretation behauptet zwar, dass die christlichen Geheimnisse durch seine mathematische Methode und seinen deistischen Mechanismus ausgeschaltet werden, aber eine solche Interpretation würde Wolff selbst zurückweisen38. Die konservative Interpretation weist zwar mit Recht auf die scholastischen und lutherischen Elemente in seiner natürlichen Theologie hin, aber aus diesem Blickwinkel kann man nur schwer verstehen, warum Wolffs natürliche Theologie trotz ihres äußeren Erfolgs bei vielen Zeitgenossen Anstoß erregte. Hier sprechen wir nicht von den theorie-externen Motiven, die hinter den ← 26 | 27 → Streitigkeiten standen. Die Angriffe waren in der Sache nicht gegenstandslos: Gerade die aus der logischen und methodologischen Reflexion hervorgegangene Gotteserkenntnis beunruhigte seine theologischen Gegner.39

In seiner Untersuchung über das Verhältnis Wolffs zur Scholastik in der Metaphysik kam Jean École zu dem Ergebnis, dass sich Wolffs signalisierte Zustimmungen und die impliziten Bezugnahmen nicht auf eine bloße Wiedergabe scholastischer Positionen reduzieren lassen, sondern dass er auch oft seine eigenen Thesen hinzufügt hat bzw. die scholastischen Thesen umwandelte, um sie in sein eigenes System zu integrieren.40 Fest steht also, dass Wolff die christliche Religion nicht mit einer bloßen apologetischen Absicht verteidigt hat. Gerade im Gegenteil glaubt er: Wenn er zeigt, dass man mit der philosophischen Methode die ‚Notwendigkeit‘ der Offenbarung zwingenderweise ableitet, dann kann er die Theologen von der Gefahrlosigkeit und Nützlichkeit des ungehinderten Gebrauchs des Verstandes überzeugen. Denn alle seine Bemühungen zielen letztlich darauf ab, die akademische, kirchliche sowie staatliche Unterstützung und Beförderung der Vernunft- und Moralbildung des Menschen zu gewinnen. Wolff selbst ist auch nie müde geworden, dies zu betonen: Er philosophiert um praktischen Nutzen. Zur Erreichung dieses Ziels braucht man ihm zufolge eigentlich nicht alles Hergebrachte zu zermalmen, oder, wie er selbst oft sagt, „das Kind mit dem Bade aus(zu)giessen“41, sondern man soll die Tradition verbessern42. ← 27 | 28 →

Hier sind zweifellos weitere Detailstudien vonnöten. Erst aufgrund einer sorgfältigen Prüfung seiner Argumentationsstrategie in der natürlichen Theologie und der natürlichen Religion kann es deutlich werden, wie Wolff seine philosophische Methode auf die Theologie anwandte, so dass er es für möglich hielt, dass der Gebrauch des Verstandes unbeschränkt wird und dies zugleich der Religion nicht schaden würde.

II. Themen und Gliederung

Um der komplexen Frage nach dem Verhältnis der natürlichen Theologie zur christlichen Religion in all ihren Facetten bei Wolff gerecht zu werden, ist es ratsam, von vier Hauptbeschuldigungen, die damals gegen Wolff erhoben wurden, auszugehen: Die erste Beschuldigung bezieht sich auf seinen Wunderbegriff. Die Zweite zielt auf seine Moralbegründung ab. Bei der Dritten handelt es sich um die atheistische bzw. deistische Konsequenz seiner Religions- sowie Moralphilosophie und die vierte Kritik beinhaltet letztlich das alte Problem vom Verhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung: Für die Gegner ist es von großem Belang, die absolute Autorität der Offenbarung anzuerkennen. Aber sie glauben, dass Wolffs Lehre gerade das Gegenteil bewirkt: Man kann die Offenbarung leugnen und die christliche Religion für eine Fabel halten43.

In der vorliegenden Arbeit wird die Wolffsche natürliche Theologie bzw. natürliche Religion in ihrem Spannungsverhältnis zur Offenbarungsreligion einerseits und zur autonomen Moral andererseits untersucht. Wir werden auf die Gründe eingehen, aus denen der größte Rationalist und Systematiker der deutschen Hochaufklärung die Möglichkeit der christlichen Geheimnisse und die Offenbarungsnotwendigkeit angenommen und die Radikalen verworfen hat.

Die Gliederung der Arbeit orientiert sich an diesen vier Themen. Die Interpretation innerhalb der einzelnen Kapitel ist systematisch, weil sie die ← 28 | 29 → betreffenden Begriffe aus deren systematische Funktion im Begründungszusammenhang zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Theorie und Praxis erläutert. Im vierten Kapitel wird auch der Entwicklungsgeschichte von Wolffs Argumentation für die Wahrheit der Offenbarungreligion ein Abschnitt gewidmet.

Details

Seiten
340
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783035109429
ISBN (ePUB)
9783035196351
ISBN (MOBI)
9783035196344
ISBN (Paperback)
9783034320740
DOI
10.3726/978-3-0351-0942-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Metaphysik Aufklärung Philosophie
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 340 S.

Biographische Angaben

Juan Li (Autor:in)

Juan Li wurde 1982 in China geboren und absolvierte ihr Studium der Philosophie an der Fudan-Universität und dann in Prag, Luxemburg und Bochum im Rahmen des Erasmus-Mundus-Europhilosophie-Masterprogramms. Sie promovierte an der Philipps-Universität Marburg und ist seit 2015 Dozentin für Philosophie an der Jiao-Tong-Universität in Shanghai.

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