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Streiflichter

Deutsche Literatur und Publizistik zwischen Kaiserreich und sechziger Jahren

von Friedrich Albrecht (Autor:in)
©2014 Monographie VI, 336 Seiten
Reihe: Convergences, Band 79

Zusammenfassung

In den hier zusammengestellten 17 Aufsätzen zu Literatur und Publizistik spiegeln sich die kritischen Phasen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert auf vielfältige Weise: der Großmachtchauvinismus des deutschen Kaiserreichs und speziell Wilhelms II., die vier Jahre Völkermord im 1. Weltkrieg, die verratene Revolution von 1918/19, die dem Untergang zutreibende Weimarer Republik, die barbarischen Zustände im Dritten Reich Hitlers und schließlich die Spannungen nach 1945 im Kalten Krieg. Dargestellt werden diese Probleme anhand des Schaffens hoch begabter deutscher Dichter und Publizisten, die heute kaum noch bekannt sind.
Wer erinnert sich noch an den genialen, mit 24 Jahren verstorbenen Dichter Georg Heym, wer an die streitbaren Publizisten Maximilian Harden und Wilhelm Herzog, wer an den mit 25 Jahren im Rhein ertrunkenen Romancier Rudolf Braune, wer an Willi Bredel, dessen Roman über sein Martyrium im KZ Fuhlsbüttel seinerzeit in 17 Sprachen übersetzt wurde? Neue Arbeiten über Anna Seghers beschließen den Band. Die letzte von ihnen ist ein Essay, der unter dem Titel «Anschreiben gegen das Vergessen» ein Grundmotiv ihres gesamten Schaffens verfolgt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Georg Heym
  • Maximilian Hardens Wochenschrift Die Zukunft und Frankreich (1911-1914)
  • Wilhelm Herzogs Beziehungen zu Frankreich im Spiegel seiner Zeitschrift Das Forum (1914-1915)
  • Gescheiterte Hoffnungen. Herzogs Zeitschrift Das Forum im Spannungsfeld der Ideen von 1789 und 1917
  • Nieder mit dem Krieg Zu einer Anthologie Ludwig Rubiners
  • Die junge Generation: Rudolf Braune
  • Willi Bredels Roman Die Prüfung
  • Proletarische Noblesse Zum 100. Geburtstag von Willi Bredel
  • Das «alte Europa» vor der Alternative Faschismus oder Kommunismus Zum Gesellschaftsbild der Neuen Deutschen Blätter
  • Ost und West. Eine Zeitschrift im Kalten Krieg
  • Zu Franz Fühmanns Erzählung Barlach in Güstrow
  • Klaus Manns letztes Jahr
  • Kardinalfrage Textanalyse
  • Janausch Betrachtungen zu einer Figur aus der Dilogie Die Entscheidung/Das Vertrauen von Anna Seghers
  • Anna Seghers – aus der Sicht Wolfgang Borcherts und seiner Generation betrachtet
  • Anna Seghers und die Krisen deutscher Geschichte. Zu ihrem Roman Der Kopflohn von 1933
  • Anna Seghers: Anschreiben gegen das Vergessen Zu einem Grundmotiv ihres Schaffens
  • Register

Einleitung

Der Band vereint 17 Aufsätze, deren Thematik und Problematik sämtlich im 20. Jahrhundert angesiedelt sind. Sie werden nicht nach dem Datum ihrer Entstehung, sondern analog zu ihren inhaltlichen Schwerpunkten angeordnet – der damit erfasste Zeitraum reicht von der Vorgeschichte des 1.Weltkriegs bis zu den Folgen des 2.Weltkriegs. Das Zentrum des Bandes bilden zwei Textkomplexe. Der erste besteht aus den fünf Vorträgen, die ich in den Jahren zwischen1995 und 2000 auf den Kolloquien der Paul-Verlaine-Universität Metz zu den Themen «Frankreich aus deutscher Sicht» bzw. «Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften» gehalten habe. Der zweite Komplex umfasst Arbeiten zum Schaffen von Anna Seghers. Sie sind sämtlich nach dem Erscheinen der Sammlung Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers (1965-2004) entstanden, die 2005 in «Convergences» publiziert wurde, und vervollständigen sie. Hinzugefügt wurde eine Reihe von Aufsätzen, die vornehmlich dem Schaffen von linksorientierten Schriftstellern gewidmet sind. Es sind hochbegabte und verdienstvolle Autoren, die inzwischen an den Rand der Literaturgeschichtsschreibung geraten, wenn nicht vergessen sind. Dass in dieser Sammlung nur Streiflichter auf die deutschen Zustände im 20. Jahrhundert geworfen werden, versteht sich.

Der am weitesten zurückgreifende Text, geschrieben zum 100. Geburtstag des 1912 gestorbenen Georg Heym, ist der zuletzt entstandene. Er wurde entworfen, um an dieses im Alter von 24 Jahren tragisch verunglückte Genie wieder zu erinnern. Heym ist am ehesten noch bekannt als Repräsentant des Frühexpressionismus, aber kaum als Kritiker seiner Zeit. Er litt unter der wilhelminischen Gesellschaft, seine Konflikte begannen im doktrinär preußisch orientierten Elternhaus, setzten sich am Gymnasium und der Universität fort. Über das deutsche Kaiserreich urteilte er in seinem Essay Genie und Staat mit dem ultimativen Satz: «Die Individualitäten werden zerbrochen.» Seine Kritik machte auch vor Wilhelm II. nicht halt: Er könne sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen, vertraute er seinem Tagebuch an. Sein berühmtes Gedicht Der Krieg von 1911 nahm das Grauen des Ersten Weltkriegs vorweg.

Aus einer anderen Sicht und mit anderen Mitteln werden die deutschen Zustände dieser Zeit von dem Publizisten Maximilian Harden dargestellt, dem der zweite Beitrag des Bandes gewidmet ist. Die Beziehungen zu Frankreich bilden ein zentrales Problem dieses Vortrags. Stefan Zweig über ihn, den manche auch als schillernde Persönlichkeit sahen: «Harden […] stürzte Minister, brachte die Eulenburg-Affäre zur Explosion, ließ das ← 1 | 2 → kaiserliche Palais jede Woche vor anderen Attacken und Enthüllungen zittern.» Andere nannten ihn den größten Publizisten der wilhelminischen Epoche, aber seine Neigung zu extremen Reaktionen führte ihn auch immer wieder zu verhängnisvollen Fehleinschätzungen. Der Vortrag über Harden, 1995 auf dem Internationalen Kolloquium der Universität Metz gehalten, führt bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Die auf den Metzer Kolloquien der nächsten Jahre vorgetragenen beiden Referate beschäftigen sich mit Wilhelm Herzog, dessen Schaffen und Biographie heute so gut wie vergessen sind. Der erste Text dokumentiert anhand seines Journals Das Forum die Jahre 1914 und 1915 – bis zum Verbot der Zeitschrift dieses mit Heinrich Mann und Romain Rolland befreundeten Kriegsgegners. Dokumente aus dem Bayrischen Hauptstaatsarchiv belegen, wie rigoros man gegen Herzogs Blatt, in dem man das Organ einer Gruppe vaterlandsloser Literaten sah, vorging. Wilhelm Herzogs Entwicklung nach dem Krieg wird dann in dem sich anschließenden Vortrag anhand des Forum weiterverfolgt. Die Zeitschrift erschien bis 1929, zeitweise höchst unregelmäßig, und auch Herzogs Position in den Auseinandersetzungen der Zeit wechselte wiederholt. Der Teilnehmer des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale (1920) in Moskau wurde zum Kritiker der Sowjetunion und 1928 auf eigenes Betreiben aus der KPD ausgeschlossen. 1929 prophezeite er, die zum Untergang reife Weimarer Republik werde dem erstbesten Abenteurer oder einem Diktator anheimfallen. 1933 ging er in die Emigration, die ihn bis auf die Karibikinsel Trinidad führte. Enttäuscht vom deutschen Volk und der «Unveränderlichkeit seines lakaienhaften Charakters», fand er über die Jahrzehnte hinweg immer wieder Halt in den großen revolutionären und kulturellen Traditionen Frankreichs.

Ludwig Rubiner, dem der folgende Beitrag gewidmet ist, war mit Wilhelm Herzog über anderthalb Jahrzehnte befreundet. Dieser gedachte im März 1920 mit einem Nachruf des «toten Kameraden». Beide verband auch die Wertschätzung der französischen Literatur. «Die drei französischen Dichter dieses Buches haben die Ehre des europäischen Gedichtes gerettet» schrieb Rubiner in seinem hier gewürdigten Nachwort zu der Anthologie Kameraden der Menschheit – gemeint waren Marcel Martinet, Henri Guilbeaux und Pierre Jean Jouve. Die Anthologie erschien 1919 und versammelte die Stimmen, die sich in Deutschland gegen den Krieg und für revolutionäre Veränderungen erhoben, darunter Gedichte von Johannes R. Becher, Albert Ehrenstein, Ernst Toller und Franz Werfel.

Mit Rudolf Braune erscheint der Vertreter einer neuen Generation. Fand Georg Heym mit 24 Jahren in einem Eisloch der Havel den Tod, so ertrank der ein Jahr ältere Rudolf Braune, ein waghalsiger Schwimmer, 1932 im Rhein – auch hier endete eine große literarische Begabung auf tragische ← 2 | 3 → Weise. «Wir sind rein, jung und frech geblieben» schrieb der Achtzehnjährige in der von ihm herausgegebenen Dresdner Schülerzeitschrift «Mob»; den Verehrer Brechts faszinierten die Phänomene Amerikanismus, Großstadt, Boxen und Sechstagerennen. Nach dem Verbot des «Mob» durch Schulbehörde und Justiz führte ihn sein Weg nach Düsseldorf, in die KPD und zur kommunistischen Presse. Journalistische Arbeiten von ihm erschienen aber auch in der Weltbühne, der Frankfurter Zeitung und der Literarischen Welt. Seinen Generationsgenossen blieb er treu, das zeigt vor allem sein Roman Junge Leute in der Stadt. Dessen Erscheinen, dem bereits zwei andere Bücher vorangegangen waren, ← 3 | 4 → erlebte der Fünfundzwanzigjährige nicht mehr.

«[…] er erfand keine Gestalten für politische Propagandazwecke, sondern wagte kühne Griffe ins volle Menschenleben» schrieb Willi Bredel über diesen Roman. Der 1901 geborene Hamburger Schriftsteller, der gleichen Generation angehörend, fühlte sich Braune auch durch die gemeinsame politische Gesinnung verbunden. Diese Gesinnung und seine politischen Aktivitäten brachten ihm bereits in der Weimarer Republik Haftstrafen ein. Die erste traf ihn nach dem Hamburger Aufstand von 1923. Als Redakteur der Hamburger Volkszeitung wegen Vorbereitung literarischen Hoch- und Landesverrats 1930 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, schrieb er während dieser Zeit seine ersten Bücher. Der Roman Die Prüfung über Bredels Haft im Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel, eines der ersten Bücher über diese Stätten der Folter und tiefster menschlicher Entwürdigung, erschien seit den dreißiger Jahren in vielen Ländern der Welt, in mehreren Auflagen auch in der DDR, seit 1989 nur noch einmal in einem kleinen Verlag – ein Grund mehr, auf dieses erschütternde Buch wieder aufmerksam zu machen. Es sei dem Verfasser nachgesehen, dass er seinem Nachwort zu einer Taschenbuchausgabe des Reclam-Verlags vom 1981 einen sehr viel später geschriebenen Aufsatz anfügt, in dem auch von einer persönlichen Begegnung mit Willi Bredel die Rede ist. Er bringt Aspekte zu Bredels Biographie aus späterer Sicht ein, die mir unentbehrlich erscheinen.

Chronologisch gesehen schließt sich hier der Metzer Vortrag über die Zeitschrift Neue Deutsche Blätter an, eine der wichtigsten antifaschistischen Exilzeitschriften der Jahre 1933-1935. Er basiert auf einem Nachwort, das der Verfasser 1974 zu dem fotomechanischen Nachdruck des Verlags Rütten & Loening, Berlin, geschrieben hat, aber nicht zuletzt auch auf persönlichen Erinnerungen an Wieland Herzfelde, der – wie der Verfasser – Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Vorlesungen an der Journalistischen Fakultät der Universität Leipzig gehalten hat. Was in diesem Vortrag nicht erwähnt wird, sei hier wenigstens in Stichpunkten nachgetragen. Der Arbeit an den Neuen Deutschen Blättern vorangegangen waren bedeutende Aktivitäten wie die Herausgabe progressiver Zeitschriften – bereits 1916, als Zwanzigjähriger, gab Herzfelde das Antikriegsjournal Neue Jugend heraus – und die Gründung des legendären Malik-Verlags, in dem Bücher von Martin Andersen-Nexö, Upton Sinclair, John Dos Passos, Oskar Maria Graf, Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Theodor Plivier und vielen anderen erschienen. Die in Prag herausgegebenen Neuen Deutschen Blätter gewannen gegenüber anderen Exilzeitschriften wie Klaus Manns Sammlung ein besonderes Profil dadurch, dass sie regelmäßig Beiträge von Mitgliedern der Berliner Ortsgruppe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller brachten; Jan Petersen vertrat diese unter schwierigsten Bedingungen der Illegalität arbeitenden Autoren in der Redaktion der Zeitschrift.

Eine Zeitschrift im Kalten Krieg ist der Vortrag über das vom November 1947 bis zum September 1949 erschienene Journal Ost und West überschrieben, und damit sind auch schon die Probleme angedeutet, denen sich der Herausgeber, Alfred Kantorowicz, gegenübersah. Er hatte das «und» im Titel typographisch hervorgehoben und damit angedeutet, dass er eine Brücke schlagen wollte zwischen den unter wachsenden Spannungen auseinanderdriftenden Teilen des unter anglo-amerikanischer bzw. sowjetischer Besetzung stehenden Deutschland. Ein Blick auf die internationale Politik dieser Jahre zeigt, dass Kantorowicz damit scheitern musste, und hier lagen auch die entscheidenden Gründe für die kurze Lebensdauer dieser Zeitschrift. Dessen ungeachtet gelang es Kantorowicz, eine Reihe bedeutender Schriftsteller für die Mitarbeit zu gewinnen, von deutschen Autoren u.a. Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Stephan Hermlin, Ernst Bloch, Herbert Ihering, Arnold Zweig, aber auch ausländische Schriftsteller wie Ilja Ehrenburg, Albert Maltz, Georges Bernanos, Vladimir Pozner und Konstantin Paustowski. Er sah seine Aufgabe nicht zuletzt darin, seine Leser nach zwölf Jahren Nazidiktatur wieder an freiheitliche Traditionen der deutschen Literatur heranzuführen. Nur am Rande wird erwähnt, dass Alfred Kantorowicz 1957 in die Bundesrepublik flüchtete und für das Ende der Zeitschrift die SED-Parteibürokratie verantwortlich machte.

Es schließt sich ein Vortrag an, der im Juni 2008 auf einer Tagung zum 70. Todestag von Ernst Barlach gehalten wurde. In seinem Mittelpunkt steht Franz Fühmanns Erzählung Barlach in Güstrow von 1963, aber der Rahmen dieses Textes ist sehr viel weiter gespannt. Zunächst wird ein Blick auf das Barlach-Bild eines so anders strukturierten Autors wie Uwe Johnson geworfen, dann aber das kulturpolitische Umfeld skizziert, in dem der Fühmann-Text angesiedelt ist: die doktrinär-verbohrte Kritik einflussreicher Staatsfunktionäre in der Presse der DDR an Barlach, der Konflikt Fühmanns ← 4 | 5 → mit der National-Demokratischen Partei Deutschlands, deren Mitgliedschaft er danach aufkündigte, schließlich die verdienstvolle Arbeit des Rostocker Hinstorff-Verlags unter Kurt Batt und Konrad Reich, der außer «Barlach in Güstrow» noch weitere Publikationen Fühmanns zu diesem genialen Künstler herausbrachte.

Der Vortrag Klaus Manns letztes Jahr von 2002 ergänzt die Sammlung meiner Arbeiten zu diesem Autor, die 2009 unter dem Titel Klaus Mann der Mittler bei Convergences erschienen ist. Aktueller Anlass war die Entstellung der späten Biographie Klaus Manns im Sinne alter Klischees, die Heinrich Breloer in den seinerzeit wiederholt gesendeten Fernsehfilmen über die Familie Mann vorgenommen hatte. Das dort vermittelte Bild hat, so war zu befürchten, ein Massenpublikum nachhaltig beeinflusst. Mein Anliegen war es, diesem Zerrbild den wirklichen Klaus Mann gegenüberzustellen, dessen letzte von Tragik überschattete Lebensphase von Leistungswillen und hoher Produktivität gekennzeichnet war. Dazu wurde ein reiches Faktenmaterial eingesetzt, das ich u.a. im Münchener Klaus-Mann-Archiv gefunden hatte – so etwa die höchst aufschlussreichen, bis heute weitgehend unbekannten Materialien zu dem Romanprojekt The Last Day, an dem Klaus Mann bis in seine letzten Wochen gearbeitet hatte.

Die letzte Abteilung des Bandes bilden Arbeiten zum Schaffen von Anna Seghers. Wie schon erwähnt, ergänzen sie den 2005 bei Convergences erschienenen Band Bemühungen. An ihrer Veröffentlichung in zusammenhängender Form ist mir deshalb gelegen, weil sie den Abschluss von Studien bilden, die sich über mehr als fünfzig Jahre erstrecken. 2002 bot sich ein Anlass für einen kritischen Rückblick auf die Gesamtheit dieser Studien und ihr literaturwissenschaftliches Umfeld. Dieser Text mit dem Titel Kardinalfrage Textanalyse eröffnet das Kapitel Seghers. Der hier eingefügte 2007 gehaltene Vortrag Anna Seghers – aus der Sicht Wolfgang Borcherts und seiner Generation betrachtet bringt einen neuen Aspekt in das Seghers-Bild: Gezeigt wird durch den Borchert-Bezug ihrer Erzählung Der Mann und sein Name, dass die Fortsetzung eines literarischen Oeuvres über eine solche Zeitenwende wie das Jahr 1945 auch für sie mit enormen Problemen verbunden war. Da war die Wiederbegegnung mit einem Land, aus dem sie vertrieben wurde und in dem viele ihr nahestehende Menschen zugrunde gegangen waren: die psychische Verfassung, aus der heraus Borchert sein Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür geschrieben hatte, war ihr wohlvertraut, der junge Walter Retzlow aus ihrer Erzählung Der Mann und sein Name und Borcherts Dramenfigur Beckmann finden sich in der gleichen Heimatlosigkeit wieder.

Der Aufsatz über Janausch, eine zentrale Figur aus der Dilogie Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968), ist ein Beitrag zum ← 5 | 6 → Spätwerk von Anna Seghers anhand von zwei Romanen, die nach ihrer Erstveröffentlichung in den beiden Teilen Deutschlands äußerst kontrovers diskutiert wurden, dann aber für lange Zeit fast in Vergessenheit gerieten. Er schließt damit an den Aufsatz Anna Seghers’ letzte Märchenfigur aus der Textsammlung von 2005 an. Auch der Beitrag über den Roman Der Kopflohn von 1934 setzt ein Werk, das zur Zeit seiner Erstveröffentlichung so gut wie ignoriert und später lange Zeit in seinem Wert verkannt wurde, in ein neues Licht. Er wird vor allem als Beispiel für die Auseinandersetzung der Seghers mit den Krisen der deutschen Geschichte dargestellt. Zugleich aber ist er Zeugnis einer entschiedenen Wende in ihrem Schaffen, wie sie durch die tragischen Ereignisse des Jahres 1933 zwingend notwendig geworden war. Die Ignoranz der Kritik gegenüber der neuen Qualität von Kopflohn setzt sich, wie hier nachgewiesen, fort in vielen Kritiken ihrer späteren Meisterwerke Transit (1944) und Die Toten bleiben jung (1949). Damit werden charakteristische Merkmale der frühen Seghers-Rezeption ins Blickfeld gerückt.

Der abschließende Text gibt einen skizzenhaften Gesamtüberblick über das Segherssche Schaffen anhand eines Grundmotivs, das ich «Anschreiben gegen das Vergessen» genannt habe. Anna Seghers hat einmal als ihr Anliegen bezeichnet, von «ganz unheroischen Menschen» zu erzählen. Diese Menschen seien nur ihr bekannt: «Wenn ich, die einzige, die sie kennt, nicht über sie schreiben würde, so würde niemand erfahren, dass sie existieren. Wie sollte ich sie also verlorengehen lassen […].» Dieses Motiv nun verfolge ich von dem Roman Die Gefährten bis zu dem Licht auf dem Galgen, dabei u.a. auch ihr Projekt Totenbuch, die Romane Der Weg durch den Februar, Transit und Die Toten bleiben jung sowie Erzählungen wie Der Prophet, Das Duell und die karibischen Novellen berührend. Was diese Werke trotz ihrer unterschiedlichen Thematik verbindet, ist Anna Seghers’ tiefer Sinn für Gerechtigkeit, ihr Engagement für die im Schatten, die zu Unrecht Verurteilten, die in den Kämpfen des Jahrhunderts Gefallenen, die Vergessenen.← 6 | 7 →

Georg Heym1

Wer war Georg Heym? Er ist heute, an seinem 100. Todestag, kaum noch bekannt. Für mich ist er einer der bedeutendsten, zugleich aber auch erstaunlichsten Dichter seiner Zeit. Er war 24 Jahre, zwei Monate und 16 Tage alt, als er starb. Ein kurzes Leben also, aber randvoll ausgefüllt mit Aktivitäten, auch wenn man von seiner literarischen Arbeit absieht. Heym schloss das Gymnasium mit der Reifeprüfung ab, er studierte in Würzburg, Jena und Berlin Jura, beendete das Studium mit der Promotion, war Referendar in Berlin und Wusterhausen. Er war auch ein geselliger Mensch, vor allem immer hinter den Mädchen her, er trieb Sport – Boxen, Fechten, Tennis, Schwimmen, Schlittschuhlaufen – , nahm am studentischen Korpsleben teil, kannte fast jeden Winkel von Berlin. Konnte da überhaupt noch Zeit zum Dichten bleiben? Angesichts dieser Umstände ist der Umfang seines literarischen Schaffens fast unbegreiflich. Zu seinen Lebzeiten erschienen freilich nur ein schmaler Gedichtband und ein dramatischer Text, aber Freunde und engagierte Wissenschaftler machten sich daran, aus seinem Nachlass – ein Wust von Unleserlichkeiten, der fast einen Zentner wog, wie es heißt – schließlich, in den sechziger Jahren, eine Werkausgabe von fast 2000 Seiten zusammenzustellen. Wie ist diese Riesenmasse an Texten entstanden? Seine Freunde haben berichtet, dass Heym im Grunde immer dichtete, jedes greifbare Stück Papier mit seinen Einfällen bedeckte. Auch in seinem Tagebuch finden sich Passagen, die von diesem elementaren Drang zeugen. Es heißt da über seine Vorbereitungen auf eine Prüfung:

[…] es geht dann so eine Weile fort, immer gesenkten Hauptes durch die juristische Scheiße durch, bis ich plötzlich gezwungen werde zu dichten. Meine Fassungskraft für die juristische Scheiße ist eben zuende, mein Gehirn ist schon längst wieder mit dichterischen Bildern überfüllt, und ich setze mich hin und schreibe los.2

Und an anderer Stelle: «Ich bin bei den Göttern nahe daran, wahnsinnig zu werden. Überhäuft mit einer grässlichen Arbeit, voll Auswendigpaukens, dass mir der Schädel kracht – […] die dichterischen Bilder rauchen mir aus den Ohren heraus, statt dass ich sie zu Papier bringe.»3←7 | 8 →

Georg Heym hat Gedichte, Novellen und Dramen geschrieben, allein die Sammlung seiner Lyrik umfasst 730 Seiten. Es ist eine fast unendliche Flut von poetischen Bildern, die da auf den Leser einströmt, auch eine enorme, kaum zu überblickende Themenvielfalt. Da gibt es die traditionellen Motive Natur und Liebe, das Erlebnis der Großstadt Berlin spiegelt sich hier, vieles aus dem deutschen Alltag der wilhelminischen Ära, den der junge Dichter als öde und trist erlebte, dann aber auch poetische Gegenwelten zu dieser ihn abstoßenden Wirklichkeit. Er geht zurück in die Geschichte, bedichtet die Schlacht von Marathon, das Griechenland des Alkibiades und Sokrates, das Rom des Spartakus und Catilina, die Französische Revolution und Paris als Stadt seiner Sehnsucht, Robespierre und Danton, immer wieder auch Napoleon; er begibt sich in exotische Landschaften, in die Urwälder Guineas, in die von einem Taifun heimgesuchte pazifische Inselwelt, folgt einer Expedition zum Südpol. Er nimmt auch quasi science fiction vorweg, indem er die von einer Klimakatastrophe heimgesuchte Welt beschreibt und sich in einem Aeroplan mit seiner Geliebten in die Höhe von 18 000 Metern begibt (damals, 1911, wurden gerade einmal 155 Meter erreicht). Das kleine Prosastück zeigt, was Georg Heym in dieser fernen Welt suchte – etwas, was er in der Realität nicht fand: den ewigen Traum der Stille und der Liebe.4

Die Frage ist: wie lässt sich hinter dieser ausufernden Textfülle der reale Mensch Georg Heym ausmachen? Das ist in der Tat nicht einfach, aber da kommen einem autobiographische und biographische Zeugnisse zu Hilfe – umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und viele Erinnerungen von Zeitgenossen. Vor allem eines wird hier deutlich: Heym litt an seiner Zeit, lebte mit ihr in ständigem Konflikt. Er gehörte zwar einer privilegierten Schicht an, aber seine Leiden begannen bereits im Elternhaus. Sein Vater, ein verknöcherter Staats- und Militäranwalt, hatte für die poetische Leidenschaft seines Sohnes keinerlei Verständnis. Heym schrieb über ihn einmal: «Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte.»5 Ein Freund urteilt: «Nach vielen Details, die Georg uns erzählt hat, muss dieser Vater einer der widerwärtigsten preußischen Beamtentypen gewesen sein […] es kam zu schweren Zerwürfnissen mit der ganzen Familie.»6 Bis zuletzt war Georg an die elterliche Wohnung gefesselt; ein möbliertes Zimmer wurde ihm nicht gestattet, obwohl die Familie wohlhabend war. Auf dem Gymnasium konnte er sich nicht den strikten Regeln unterordnen. Wegen nicht ausreichender Leis Wegen nicht ausreichender Leistun ← 8 | 9 → tungen – auch in Deutsch erhielt er ein mangelhaft! – und Verstößen gegen die Schulordnung wurde er 1905 nicht in die nächste Klasse versetzt. Er konnte den Schulbesuch am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Neuruppin fortsetzen, aber das war für den Großstädter ein bitteres Exil. Seine Konflikte vertieften sich. Seine Lehrer nannte er im Schuldienst erstorbene Pedanten, und weiter in seinem Tagebuch: «Den Lehrer, der ihm Freund sein sollte, fand er nicht.»7 Den Siebzehnjährigen verfolgten Selbstmordgedanken, und er verfasste einen Brief, den er vor seinem Suicid an das Provinzialschulkollegium in Berlin schicken wollte.8

Es kam die Studienzeit. Das Studium der Jurisprudenz erfolgte wiederum auf Anordnung des Vaters, und der väterlichen Tradition folgend musste er sich einem Corps anschließen. Aber auch das war ihm zuwider. Seinem Tagebuch vertraute er an: «Das Corpsleben ist furchtbar, geisttötend, stumpfsinnig, lächerlich»,9 und Wochen später: «Eine Qual ist das. Wer weiß, wielange ich noch mitmache. Die Rücksicht auf meinen Vater bestimmt mich noch, zu bleiben.»10 Ein Jahr später tritt er aus. Welche Qualen es ihm bereitete, bei der Vorbereitung auf das Examen endlos Paragraphen zu büffeln, war bereits deutlich geworden. Sein Tagebuch ist voll von wütenden Ausfällen gegen die Professoren, und damals entstand auch ein Gedicht, in dem sie so dargestellt werden: «Kahlköpfig hocken sie in den Folianten,/Wie auf dem Aas die alten Tintenfische.»11 Heym bestand mit Müh und Not das Referendarexamen. Zur weiteren Ausbildung ging er an das Amtsgericht Berlin-Lichterfelde, wurde dort aber nach vier Monaten entlassen. Der Grund war dies: Heym hatte eine Grundbuchsache zur Erledigung erhalten. Da er damit nicht zurecht kam, entschloss er sich, die Akten zu vernichten. Eines Tages funktionierte die Wasserspülung im Amtsgericht nicht mehr. Die Installateure fanden bald die Ursache: Heym hatte die Akten kurzerhand der Toilette übergeben. Die Atmosphäre dort («[…] wo viele Schläfer ruhn mit Häuptern kahl,/Staub auf der Glatze, Staub auf dem Gesicht») schilderte er in einem langen satirischen Gedicht, «Das Grundbuchamt».12

Ein temperamentvoller, rebellischer Kerl, den nicht nur Schule, Universitäts- und bürokratischer Amtsbetrieb bedrückten, sondern die gesamte Atmosphäre im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit. Zu den Wahlen von 1912 schreibt er: ← 9 | 10 →

Was soll das alles? Wird die Welt durch einen neuen Reichstag ein neues Gesicht bekommen, werden irgendwelche große Taten geschehen […]? Nichts wird geschehen! Große Reden werden gehalten werden, mächtige Interpellationen werden in dem Reichstag erschallen. Die Regierung wird antworten oder nicht antworten, wie es ihr beliebt […] So sieht Deutschland 1912 aus, hundert Jahre nach dem ersten Wetterleuchten der Freiheitskriege oder vierundsechzig Jahre nach den Tagen der Märzrevolutionen und der Paulskirche.13

Seine Kritik lässt auch den Kaiser nicht aus. Am 6. Juli 1910 schreibt er in sein Tagebuch: «Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte.»14 Eine Generalabrechnung mit diesen Zuständen ist sein Essay Genie und Staat. In ihm heißt es:

Die Individualitäten werden zerbrochen. Der jahrelange Aktendienst verstaubt ihre Gehirne. Von den Vorgesetzten werden sie bis auf das Blut gepeinigt […]. Die jungen Genies blühen bei uns nur in den Dachstuben. Man glaube nicht, dass es keine gäbe. Es gibt ihrer unzählige, denn die Natur ist niemals sparsam mit ihnen. Aber sie müssen verwelken.15

In einem Aufsatz mit dem Titel Eine Fratze listet er auf, was die Krankheiten dieser Zeit sind, und er kommt zu dem Ergebnis: «Unsere Krankheit ist, in dem Ende eines Welttages zu leben, in einem Abend, der so stickig ward, dass man den Dunst seiner Fäulnis kaum noch ertragen kann.»16

Details

Seiten
VI, 336
Jahr
2014
ISBN (ePUB)
9783035197693
ISBN (PDF)
9783035202434
ISBN (MOBI)
9783035197686
ISBN (Paperback)
9783034314596
DOI
10.3726/978-3-0352-0243-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2013 (Dezember)
Schlagworte
Literatur und Publizistik deutscher Geschichte Chauvinismus Völkermord Literatur im Weltkrieg
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2014. VI, 336 S.

Biographische Angaben

Friedrich Albrecht (Autor:in)

Friedrich Albrecht, geb. 1930, arbeitete viele Jahre lang in einer Forschungsgruppe der Akademie der Künste der DDR (Arbeitsgebiet: deutsche sozialistische Literaturtradition in der Weimarer Republik und im Exil). Später war er ord. Professor am Leipziger Literaturinstitut und von 1991-1994 Gastprofessor an der Université Paul Verlaine in Metz. Seine Hauptarbeitsgebiete sind : deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, speziell Anna Seghers; Klaus Mann; sozialistische Literatur seit der Novemberrevolution; Exilliteratur.

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Titel: Streiflichter
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