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Heikle Versprechen

Bürgschaft und Fleischpfand in der Literatur

von Christine Spiess (Scherrer) (Autor:in)
©2016 Dissertation 322 Seiten

Zusammenfassung

Versprechen sind prekär. Denn nimmt man sie als Worte, verpflichten sie zu Taten. Diese also heiklen Sprechhandlungen sind von literarischem Reiz. Namentlich Bürgschafts- und Fleischpfand-Geschichten verhandeln Versprechen. In einer differenzierenden und systematisierenden Lektüre eben solcher Texte setzt die Untersuchung ihr doppeltes Forschungsvorhaben um: Zum einen lotet sie die Bedingungen des literarischen Versprechens aus – um diese als körperliche, ökonomische und poetische zu erhellen. Zum anderen erörtert sie, auf Bürgschaft und Fleischpfand aufmerkend, zwei Erzähltypen. Die Studie ist diachron angelegt und verfährt komparatistisch. Und sie bedient sich sprechakttheoretischer Überlegungen sowie poetologischer und kulturwissenschaftlicher Ideen. Was die Textauswahl betrifft, werden mehrheitlich mittelalterliche Erzählungen bedacht. Die Arbeit berücksichtigt indes auch eine Fabel von Hyginus, Schillers Bürgschafts-Ballade und Shakespeares Tragikomödie The Merchant of Venice.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Dank
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Hinführung
  • 1.1.1 Kostprobe
  • 1.1.2 Gefangenschaft
  • 1.2 Forschungsinteresse
  • 1.3 Zwei Erzähltypen
  • 1.3.1 Erzähltypus I: Bürgschaft
  • 1.3.2 Erzähltypus II: Fleischpfand
  • 1.4 Textauswahl
  • 1.5 Theorien
  • 1.5.1 John L. Austin: How to do Things with Words
  • 1.5.2 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext
  • 1.5.3 Mary Louise Pratt: Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse
  • 1.5.4 Shoshana Felman: The Scandal of the Speaking Body
  • 1.5.5 Werner Hamacher: Einleitung (zu Rhetorik. Figuration und Performanz)
  • 1.5.6 J. Hillis Miller: Speech Acts in Literature
  • 1.5.7 Die Theorie vorbehalten
  • 1.6 Begriffsklärungen
  • 2 Fallbesprechungen: Bürgschafts-Erzählungen
  • 2.1 Fabel 257
  • 2.1.1 Primärtext
  • 2.1.2 Zusammenfassung
  • 2.1.3 Theoretische Vorbemerkungen
  • 2.1.4 Dilemma
  • 2.1.5 Erzähllogik
  • 2.1.6 Physiologie
  • 2.1.7 Genealogie
  • 2.1.8 Liste
  • 2.1.9 Schlussbemerkungen
  • 2.2 Exempel 108
  • 2.2.1 Primärtext
  • 2.2.2 Zusammenfassung
  • 2.2.3 Theoretische Vorbemerkungen
  • 2.2.4 narratio – moralizacio (diachron)
  • 2.2.5 narratio – moralizacio (synchron) I – Beständigkeit
  • 2.2.6 narratio – moralizacio (synchron) II – Performativität
  • 2.2.7 Schlussbemerkungen
  • 2.3 Schillers Ballade Die Bürgschaft
  • 2.3.1 Primärtext
  • 2.3.2 Unterschiede
  • 2.3.3 Ungereimtheiten
  • 2.3.4 Sprechhandlungsohnmacht
  • 2.3.5 Mundtot machen
  • 2.3.6 Selbstverlust
  • 2.3.7 Handlungsmacht Sprache
  • 2.3.8 Literarisches Sprechhandeln – poetische und poetologische Performativität
  • 2.3.9 Christologisch-poetologische Deutung
  • 2.3.10 Schlussbemerkungen
  • 3 Fallbesprechungen: Fleischpfand-Geschichten
  • 3.1 Exempel 195
  • 3.1.1 Zusammenfassung
  • 3.1.2 Theoretische Vorbemerkungen
  • 3.1.3 Sprechakte
  • 3.1.4 Liebesversprechen
  • 3.1.5 Der Kredit
  • 3.1.6 Das Gericht
  • 3.1.7 Schlussbemerkungen
  • 3.2 Prosafassung
  • 3.2.1 Primärtext
  • 3.2.2 Zusammenfassung
  • 3.2.3 Unterschiede
  • 3.2.4 Theoretische Vorbemerkungen
  • 3.2.5 Die Liebesprobe
  • 3.2.6 Vertrag
  • 3.2.7 Gerichtsverhandlung
  • 3.2.8 Schlussbemerkungen
  • 3.3 Shakespeares Tragikomödie The Merchant of Venice
  • 3.3.1 Primärtext
  • 3.3.2 Theoretische Vorbemerkungen
  • 3.3.3 Zusammenfassung
  • 3.3.4 Unterschiede
  • 3.3.5 Kästchenprobe
  • 3.3.6 Körperdiskurs
  • 3.3.7 Identität/Alterität
  • 3.3.8 Von ganzem Herzen?
  • 3.3.9 Schlussbemerkungen
  • 4 Schluss
  • 4.1 Auswertung
  • 4.1.1 Differenzierende Begründung der Bürgschafts-Erzählungen
  • 4.1.2 Differenzierende Begründung der Fleischpfand-Erzählungen
  • 4.1.3 Systematisierende Begründung der Bürgschafts-Erzählungen
  • 4.1.4 Systematisierende Begründung der Fleischpfand-Erzählungen
  • 4.2 Fortsetzungen
  • 4.2.1 Evolution der Kooperation
  • 4.2.2 Speisewunder
  • Literaturverzeichnis
  • Abkürzungen (Lexika, Wörterbücher, Editionen)
  • Quellen
  • Forschungsliteratur
  • Online-Zeitungen und audiovisuelle Medien
  • Reihenübersicht

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1 Einleitung

1.1 Hinführung

1.1.1 Kostprobe

Dass das Fernsehen bisweilen geschmacklos ist, mag kaum jemand bezweifeln. Vor vier Jahren hat das wenig schmeichelhafte Etikett jedoch an Tiefenschärfe gewonnen, als sich zwei holländische Moderatoren – zumindest in je zwei kleinen Teilen – vor laufender Kamera gegessen haben. Zur Erläuterung eine Rückblende ins Jahr 2011: Valerio Zeno und Dennis Storm sind begierig, zu erfahren, wie Menschenfleisch schmeckt, und wollen die Öffentlichkeit an ihrer Probe teilhaben lassen. Im Vorfeld des Experiments sind diverse Vorbereitungen zu treffen, die in zeitgeraffter Form in die Fernsehsendung vom 21.12.2011 eingespielt werden: Nach der Beratschlagung mit einem Metzger lassen sich die beiden Männer an ‚geeigneten‘ Stellen fingerhutgrosse Portionen Fleisch aus dem Körper schneiden – Zeno aus dem Bauch und Storm aus dem Po –, wobei der Schönheitschirurg, der das Messer führt, die Moderatoren vor dem Eingriff örtlich betäubt und nach dessen Beendung sauber verarztet. Nach dem Metzger und dem Mediziner kommt – nun live in der Sendung – der Fernsehkoch zum Zug. Er brät die zwei Fleischklümpchen in reichlich Kochfett und lässt sie, je auf einem Teller, den beiden Moderatoren auftragen. Diese spiessen die Klumpen wie Klösschen auf die Gabel, riechen, schmecken, kauen das Fleisch und schlucken es endlich hinunter.

Dass der kannibalische Akt zu Diskussionen führen würde, haben Dennis Storm und Valerio Zeno wohl absehen können; Fernsehzuschauer bringen in Chats ihren Ekel zum Ausdruck, Journalisten messen sich in Kalauern – an den „Grenzen [des] guten Geschmacks“1 wird das Fernsehen auch als „Brechmittel“2 angepriesen –, und selbst die Juristen sehen sich in der Verantwortung, zum Experiment Stellung zu beziehen. So gewiss, wie die ← 13 | 14 → Moderatoren die Verunglimpfung ihrer Show aber erwartet haben müssen, so interessant muss sich die Frage nach ihrem Motiv ausnehmen. Was mag sie dazu angetrieben haben, ihr Publikum derart in Aufruhr zu versetzen? Oder allgemeiner gefragt: Worin liegen Sinn und Zweck ihrer Fernsehsendung? Zur Erhellung kann es sich lohnen, die Show einstweilen anhand ihres Namens zu beleuchten. Proefkonijnen meint auf deutsch ‚Versuchskaninchen‘ und beansprucht also die Leistung für sich, mit (pseudo)wissenschaftlicher Methode brennende Fragen (ndl. knagende vragen) zu beantworten: ob man in einem Papierflieger fliegen kann, ob und wie es möglich ist, sich selbst zu kitzeln oder, wie angesprochen, wie Menschenfleisch schmeckt.

Der für Proefkonijnen konstitutive experimentelle Rahmen – der übrigens durch den kritischen Blick an der Show partizipierender ‚weiser Männer‘ garantiert wird3 – rückt in der ausgewählten Sendung nun zuvorderst den Körper in ein prekäres Licht. Zum einen ist seine – hier kulinarische – Erwägung nur zum Preis seiner Lädierung zu leisten. Zum anderen muss in und an ihm der obligate Versuch zwangsläufig zum Selbstversuch werden: Wer wissen will, wie Menschenfleisch schmeckt, kommt nicht umhin, sich selbst zu essen, denn kein anderer würde sich für das schmerzhafte Experiment zur Verfügung stellen. Kein anderer? Lediglich auf der Folie einer Kostprobe ist tatsächlich nicht zu erklären, warum sich die beiden Männer nicht je selbst verspeisen und stattdessen synchron über das Kreuz verköstigen. Und also kann sich im Fernsehzuschauer der Eindruck einstellen, dass die Prüfung, zu der sich die holländische TV-Sendung in ihrem Namen bekennt, nicht nur die degustative Beziehung von Zeno/Storm zum je eigenen Körper verhandelt, sondern auch ein noch zu qualifizierendes Verhältnis zwischen den beiden Moderatoren erprobt.

Welcher Art dieses Verhältnis sein könnte, lassen diverse kameradschaftliche Bemerkungen, ja subtil homoerotische Anspielungen im Verlauf der Sendung vermuten. Und eine freimütigere Reflexion erfährt die Beziehung am Sendungsschluss, wenn die beiden Männer ihre an und für sich schon enge Verbindung ausdrücklich als durch das anthropophagische Geschehnis gestärkt bewerten. Die deutlichsten Worte zur Erörterung ihres Verhältnisses findet Storm derweil in einem Interview, das er nach der Aufzeichnung von Proefkonijnen, aber im Vorfeld von dessen Ausstrahlung ← 14 | 15 → am 21.12.2011 ABC News gewährt. „[I]t is weird to look into the eyes of a friend when you are chewing on his belly“4, verkündet der Moderator und lässt derart keinen Zweifel daran offen, dass sich im kannibalischen Speiseakt, der realisiert wird als eine reziproke Einverleibung, eine wechselseitige Freundschaft radikalisiert.5 Im erörterten Zusammenhang kann dann auch von Interesse sein, wie Storm im weiteren Verlauf des Interviews seine Narbe bewertet: „[N]ow I have a good story about that scar“,6 gibt er zu Protokoll. Wenn hier der Moderator sein Wundmal als erzählendes und also sinnstiftendes in den Fokus rückt, ist das den beiden Freunden innewohnende Gefühl der Verbundenheit mit dem anthropophagischen Akt nun auch äusserlich beglaubigt: Einerseits verleiht das Wundmal ihrer freundschaftlich-treuen Gesinnung, die auch den Schmerz und die Entstellung nicht scheut, überhaupt erst einen Ausdruck;7 andererseits macht die persistente Blessur – die an Zenos Körper ein Pendant findet – die beiden Männer nach dem Muster eines altbewährten Topos zu Freunden; durch eine über das Zeichen bewerkstelligte Identifikation.8

Mit der Narbe, die beide Moderatoren offenkundig lustvoll im Verlauf ihrer Sendung präsentieren, rücken sie aber allenfalls nicht nur einen Beweis und ein Mahnmal ihrer Freundschaft in den Blick. Insofern sich Storm unmittelbar vor Zenos Verstümmelung scheinbar hämisch die Hände reibt, die Schadenfreude aber prompt relativiert, indem er den indessen von Schmerzen geplagten Kollegen mit der Aussicht auf die eigene Mal­trätierung zu trösten versucht, lässt sich das Körpermal rückblickend auch als Manifestation einer reziproken Vergeltungsmassnahme begreifen. Der Wiedergutmachung, welche die TV-Produktion bzw. -Regie ergo ← 15 | 16 → über denjenigen verhängt, der als zweiter Proband zunächst noch gut Lachen hat, eignet aber nicht nur ein im skizzierten Sinne intrinsischer Wert – den insbesondere auch die Fernsehzuschauer als ‚gerecht‘ empfinden dürften (und über anhaltende Einschaltzeiten mit barer Münze vergelten).9 Ihr Zweck besteht ferner auch nicht bloss darin, dass die beiden Männer die Busse, die sie sich als Kannibalen und „Hehler des eigenen Fleisches“10 einhandeln könnten, vor laufender Kamera gleich (an sich) selbst vollziehen. Eine reziproke Vergeltung ist auf eine intrikate Weise auch der weiter oben unterstellten Freundschaft zuträglich. Wenn Storm damit rechnen muss, dass sich Zeno in genau dem Masse über seine Qualen belustigen wird, wie er es selbst vorgemacht hat, kann sich in dieser Antizipation, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird,11 paradoxerweise die Freundschaft perfektionieren; dies in dem Sinne, als Zeno, der Mut und Kraft aus der Aussicht auf eine Gelegenheit zur Revanche gewinnt, sein Gegenüber offensichtlich nicht nur in der Freundschaft zu imitieren gedenkt, sondern auch in der latenten Feindschaft.12 Insofern mit der vorweggenommen reziproken Vergeltung andererseits aber noch im Vorfeld die Untreue geahndet wird, zu der es in der neu eingerichteten, weil in actu blutig besiegelten, Freundschaft gar nicht erst kommen soll,13 ist der Körper – zumal in seinem fast schon emphatisch zur Schau gestellten Zuschnitt – in seinem Sinn und Zweck insgesamt nicht leicht festzulegen. Je nach Blickwinkel scheint er zwischen Verheissung, Erfüllung und Drohgebärde zu schwanken; und also präsentiert er sich einerseits als signifikantes Pfand, geht – im fernseh-spezifischen Setting als effektive Massnahme arrangiert – aber andererseits auch in die vom Pfand verbürgte Manifestwerdung über. ← 16 | 17 →

Unter dem Strich lässt sich der in Proefkonijnen vollzogene kannibalische Akt als gute Geschichte („good story“), Freundschaftsbeweis und Vergeltungsmassnahme erfassen. Darüber hinaus ist er aber ein Geschäft, insofern sich die Moderatoren für die physischen Strapazen mit einer entsprechenden Gage entschädigen lassen, und ein juridischer Kasus, zumal die Show nach ihrer Ausstrahlung im Strafrecht versierte Anwälte beschäftigt.14 So oder so ist er aber Tabubruch, weil er die Freundschaft an der Feindschaft bemisst, weil er die Selbstjustiz verherrlicht und geltende Gesetze missachtet,15 weil er – im Spekulieren auf Einschaltquoten – den Körper verkauft16 und weil er die (hier kulinarische) Erkenntnis der Physis an ihre Entstellung knüpft. Ausgehend vom offensichtlich mehrdeutigen und multifunktionalen Körper lässt sich derweil generell befinden, dass die Probe, zu der Zeno und Storm einmal angetreten sind, mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert. Dies mag nun die – bemerkenswert diffus bleibende – Empörung der Zuschauer erklären, die eben diese im Anschluss an die TV-Show in Leserbriefen und Chatforen bekunden. Eingedenk der Tatsache, dass ehedem einer aus ihren Reihen die in der Sendung verhandelte knagende vraage gestellt hat, animiert sie – ob bewusst oder nicht – vielleicht gar nicht der Ekel zum Protest, sondern der Wissenshunger, den die Fernseh-Show in ihrem Verlauf nur gefördert hat: Das menschliche Fleisch bleibt nämlich tatsächlich in dem Sinne ‚geschmacklos‘, als es Zeno und Storm ungeachtet ihres präparativen Aufwandes bis zum Schluss der Sendung gar nicht wirklich beschreiben können.17 ← 17 | 18 →

In Aufregung versetzen dürfte das Publikum aber fernerhin, dass das von Zeno und Storm personifizierte menschliche Fleisch in seiner überbordenden semantischen und funktionalen Vielfalt Irritationen verursacht, wobei die Verwirrung von den Fernsehzuschauern wohl als umso einschneidender empfunden wird, als mit dem schillernden Körper dem Menschen das schlechterdings Intimste bzw. Vertrauteste befremdlich wird. Das Oszillieren der Physis erschöpft sich aber nicht in und am Körper, sondern stellt – was die Verunsicherung des Publikums verstärken kann – auch andere Semantiken und Pragmatiken zur Disposition: was Freundschaft bedeutet, was ein Geschäft beinhaltet, was Gerechtigkeit meint und nicht zuletzt, ob nicht alles nur ein ausgekochtes Theater ist. Vor diesem Hintergrund kann nun endlich auch die tragende Idee hinter der hier analysierten Proefkonijnen-Ausgabe erfasst werden. Geprüft werden vermutlich nicht nur das menschliche Fleisch auf seinen Geschmack und die beiden Moderatoren auf ihre Loyalität, sondern auch das Publikum; auf seine Ideen von der eigenen kulturellen Lebenswelt und auf das Vermögen, eben diese Ideen als solche zu reflektieren.

1.1.2 Gefangenschaft

Im Jahr 1994 sind John Nash, Reinhard Selten und John Harsanyi mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet worden. Die Königlich-Schwedische Akademie, die alljährlich den renommierten Forschungspreis verleiht, hat den drei Mathematikern bzw. Ökonomen18 damals das Verdienst zugesprochen, die Spieltheorie massgeblich gefördert zu haben. Ein besonderer Reiz dieser „Wissenschaft vom strategischen Denken“19 bestand und besteht heute noch darin, dass sie weder nur in der Mathematik noch bloss in den Wirtschaftswissenschaften angewendet werden ← 18 | 19 → kann, sondern auch Erkenntnisse in diversen anderen Disziplinen generiert: In den Politikwissenschaften kommt sie ebenso zum Zug wie in der Verhaltenspsychologie. Unter welchen Voraussetzungen die Spieltheorie gar die vorliegende philologische Untersuchung zu erhellen vermag, soll im folgenden Abschnitt angedeutet werden. In enger Anlehnung an Avinash K. DIXIT und Barry J. NALEBUFF sei hierfür zunächst das Gefangenen-Dilemma erklärt, das nicht bloss generell als das bekannteste Spielszenario gilt,20 sondern sich auch als Folie für die noch zu bestimmenden Primärtexte eignet.

Während der sowjetischen Stalin-Ära war ein Dirigent mit dem Zug zu seinem nächsten Auftritt unterwegs und schaute sich einige Partituren an, die er am Abend dirigieren sollte. Zwei KGB-Beamte beobachteten ihn dabei, und weil sie meinten, daß es sich bei den Musiknoten um einen Geheimcode handeln müsse, verhafteten sie den Mann als Spion. Der protestierte, erklärte, daß es sich bei den Aufzeichnungen nur um ein Violinkonzert von Tschaikowski handele, aber es half alles nichts. Am zweiten Tag der Inhaftierung kam der verhörende Beamte siegessicher herein und sagte: „Sie erzählen uns besser alles. Wir haben Ihren Freund Tschaikowski ebenfalls erwischt, und er hat bereits ausgepackt.“21

Obwohl die Anekdote vom Dirigenten und dem KGB auch Lacher provoziert, ist das fiktive Verhör zweier Zeugen – zumal aus spieltheoretischer Sicht – doch eine ernstzunehmende Angelegenheit. Werden nämlich zwei nicht nur ideal-musisch, sondern auch real-praktisch verbundene Männer einer gemeinsamen Untat geziehen und getrennt voneinander befragt, müssen sie im Ansinnen, vernünftig zu reagieren, zwangsläufig unvernünftig handeln. Dies ausgehend von ihrer dilemmatischen Entscheidungssituation: Gesteht der Zeuge A und belastet also den Zeugen B, hält man ihm in der Bestimmung des Strafmasses die Geständigkeit zugute, aber den Komplizen trifft die ganze Härte des Gesetzes. So gewiss, wie der Zeuge A sich anschickt, Zeugen B zu verraten, wird dieselbe Strategie auch vom Zeugen B verfolgt; auch der Zeuge B sucht die Judikativgewalt günstig zu stimmen, indem er den Mittäter und Zeugen A anschwärzt. Weil nun je der eine die Strategie des anderen als seine eigene voraussehen kann, setzt sich im Gefangenen-Dilemma ein Verhalten durch, das zwar dem Einzelnen vernünftig erscheint, ← 19 | 20 → für die Gemeinschaft aber unvernünftig ist. Würden nämlich beide Männer auf unschuldig plädieren und sich derart gegenseitig decken, wären sie unmöglich zu überführen und würden endlich ihre Freiheit geniessen.22

Man möchte einwenden, dass sich die beiden Komplizen im Vorfeld besprechen und sich auf eine optimale Strategie einigen könnten. Vorausgesetzt, sie hätten vor der Isolationshaft überhaupt Gelegenheit dazu, bliebe das Problem in seinem Kern dennoch bestehen: Wer garantierte denn dem Zeugen A, dass sich der Zeuge B an sein Wort hielte? Und wer versicherte analog dem Zeugen B, dass der Zeuge A nicht meineidig würde?23 Dass sich in der erläuterten Situation einer unproduktiven Befangenheit also nicht nur die sich im Stillen vollziehende Erwägung der Vernunft, sondern auch die Kommunikation bzw. die wechselseitige Absprache als prekäres Moment konturiert, verdient als Nachtrag zum spieltheoretischen Paradefall betont zu werden. Insofern nämlich die Übereinkunft das Problem einer (ir)rational choice nicht löst, sondern bestenfalls reflektiert, ist das Gefangenen-Dilemma a) stringent auf reziproke Sprechhandlungen und b) unverfänglich auch auf vormoderne Kommunikations-Szenarien zu beziehen; zwar ist die (Un-)Vernunft in prä-cartesianischen Diskursen ein in puncto relativer Chronologie prekärer Begriff.24 Doch das Verabredungen, Verheissungen und Versprechungen immanente Risiko liegt durchaus schon im antiken bzw. mittelalterlichen Bewusstseinshorizont.25

Die Probe aufs Exempel eines reziproken Sprechakts als Ausgestaltung des Gefangenen-Dilemmas ist der Freundschaftsbund.26 Ein Freund fühlt sich ← 20 | 21 → als solcher prinzipiell nur einem Menschen verpflichtet, den er sich a priori als Freund ausmalt.27 Weil aber sein Gegenüber im Vorfeld der Verbindung die gleiche Erwägung trifft, muss die Freundschaft entweder in ihrer Genese gehemmt werden, sich im unmittelbaren Vollzug etablieren oder als Institution ihrer Einrichtung zuvorkommen. Eine Freundschaft avant la lettre ist aber nur durch ein vermittelndes Drittes zu gewährleisten. Das heisst, wie die optimale Aussage der beiden Zeugen im obigen Beispiel einer Absprache bedürfte, sind auch die Freunde im Treuebund auf eine Versicherung angewiesen.

Man kann sich ganz verschiedene Mittel und Strategien ausmalen, mit denen Vereinbarungen und Übereinkünfte zu garantieren wären. Dass sich aber insbesondere die Geschichte – d.i. grundsätzlich die Wiedergabe vergangenen Geschehens in sprachlicher Aufzeichnung28 – zur Versicherung wechselseitiger Loyalität anbietet, legen vertiefende Forschungen im Bereich der Spieltheorie nahe. Inspiriert von Nash, Harsanyi und Selten lädt der Politikwissenschafter Robert AXELROD im Jahr 1979 mathematisch und statistisch interessierte Spieler rund um den Erdball zu einem virtuellen Turnier ein.29 Die möglichen Teilnehmer sind dazu aufgerufen, „Strategien in Form von Computerprogrammen“30 einzureichen, um im sukzessiven Turnus in wiederholten simulierten Zweikämpfen gegeneinander Gefangenen-Dilemma ← 21 | 22 → zu spielen. Doch gegeneinander muss im Spielturnier aus oben erwähnten Gründen letztlich miteinander heissen: Nur wer zu kalkulierter Kooperation bereit ist, setzt sich nicht notorisch dem Risiko vernichtender Gegenschläge aus und kann für sich (und die Gemeinschaft) Punkte verbuchen.31 Nach 200 Spielzügen in jeder Paarung sollte das Turnier abgebrochen werden, damit sich herausstelle, wie der Weg aus dem Gefangenen-Dilemma aussehen könne, d.h. mit welcher Strategie Kooperation zu gewährleisten sei.32 Ohne bereits an dieser Stelle den ‚Gewinner‘ in AXELRODS Turnier zu nennen – die Strategie, die für den Einzelnen und die Gemeinschaft am einträglichsten ist, eignet sich zur wissenschaftlichen Pointe am Schluss –,33 sei hier herausgestrichen, dass sich Kooperation überhaupt einstellt.34 Wenn das Gefangenen-Dilemma aufgezeichnet wird und also sprachlich registriert das zukünftige Verhalten bestimmt, lernen die Akteure offensichtlich einen freundschaftlichen Umgang miteinander. Oder in Zuspitzung: Dem Verrat und der Untreue wird ganz generell dann ein Riegel geschoben, wenn das Gefangenen-Dilemma zur Geschichte wird.

1.2 Forschungsinteresse

Es wäre an und für sich reizvoll, den kulinarischen Versuch hier und das Gefangenen-Dilemma da je als Folie einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zu veranschlagen; dies insbesondere auch deshalb, weil beide Momente Experimente und als solche letztlich wie Dichtungen bzw. Schauspiele Fiktionen sind.35 Um wieviel interessanter muss es dann aber ← 22 | 23 → sein, einen philologischen Ansatz dort zu verorten, wo die beiden Szenarien eine Engführung erlauben? Wenn konkret die Übereinkunft im Gefangenen-Dilemma elementare Risiken von Versprechen offenbart, der Körper in der Kostprobe aber diverse Verbindlichkeiten beansprucht, ist das Forschungsinteresse der vorliegenden Abhandlung zumal in seinen Grundzügen erfasst: Zum einen stellt die Untersuchung ganz grundsätzlich die Effektivität von Versprechen, Verabredungen und Übereinkünften in Frage. Zum anderen prüft sie die Leistung des Körpers, wenn eine entsprechende Sprechhandlung36 einer Versicherung bedarf. Anderweitig denkbare Strategien zur Verbürgung von Versprechen, Übereinkünften und Verabredungen will die vorliegende Analyse indes nicht ausblenden, sondern analog dem Körper auf ihre Chancen und Grenzen hin ausloten.

Ausgehend vom Forschungsinteresse lässt sich nicht nur der eigentlich literarische Gegenstand bestimmen, sondern auch eine adäquate Theorie und eine zweckdienliche Methode. Der literarische Gegenstand konturiert sich zunächst dort, wo sich das holzschnittartig erfasste Forschungsproblem poetisch gestaltet und entsprechend verdichtet: namentlich in der Erzähltradition von der Bürgschaft einerseits und vom Fleischpfand andererseits. Noch ehe die beiden Traditionen in zwei Erzählmotiven37 gebündelt werden, sei im Licht des oben skizzierten Forschungsinteresses deren Verhältnis zueinander skizziert: In beiden Erzähltraditionen werden Verheissungen, Verabredungen, Übereinkünfte problematisiert. Während aber die Bürgschafts-Erzählungen ihre Spannung aus der Frage beziehen, ob das zentrale Versprechen überhaupt eingehalten wird, ist in den Fleischpfand-Geschichten mit dem Bruch des Versprechens erst die Voraussetzung für den eigentlichen Konflikt geschaffen: Die Fleischpfand-Erzählungen arbeiten sich an der Frage ab, ob das Pfand, nachdem die Übereinkunft gescheitert ist, blutig eingelöst wird oder nicht. Der Körper beansprucht aber hier wie da Verbindlichkeiten. In den Fleischpfand-Erzählungen wird eine physische Sicherheit insofern explizit thematisiert, als der Körper im Rahmen eines Kredit-Vertrags gegen Geld abgewogen, seine Versehrung aber per Gesetz unter Strafe gestellt wird. In den Bürgschafts-Erzählungen erscheint die körperliche Garantie hingegen insofern implizit verhandelt, als eine Stellvertretung in Gefangenschaft einerseits und eine Todesstrafe ← 23 | 24 → andererseits nur denkbar sind, wenn der eine Freund für den anderen buchstäblich und der Körper für den frevelnden Geist im übertragenen Sinn in Haft genommen werden.38

Vom literarischen Gegenstand aus besehen sind nun auch die ihm angemessenen Theorien zu bestimmen. Wenn sich Bürgschafts- und Fleischpfand-Erzählungen im Moment des prekären Versprechens berühren, rückt der problematische Sprechakt39 in erster Linie Sprechakttheorien als vielversprechende doktrinäre Ansätze in den Blick. Und im Licht von Theorie und Gegenstand lässt sich endlich schlüssig auch eine zweckdienliche Methode ermitteln: Ein Vergleich von ausgewählten Bürgschafts- bzw. Fleischpfand-Erzählungen soll es möglich machen, das Versprechen in seiner heiklen Logik zu erfassen und die Leistung der Versicherungen Bürgschaft und Fleischpfand gegen die Effektivität von allfälligen anderweitigen Garantien abzuwägen. Und wenn dieser Vergleich bewusst diachron angelegt ist, sind in dessen Vollzug die Resultate auch in den erwartbaren kulturgeschichtlichen Differenzen zu registrieren. Im Zusammenspiel von literarischem Gegenstand, Theorie und Methode läuft die Abhandlung letztlich auf ein doppeltes Erkenntnisziel hinaus. Zum einen ist die Untersuchung wie angesprochen bemüht, den Sprechakt in literarischen Texten zu erörtern, zum anderen ergreift sie die sich abzeichnende Chance, zwei ausgewählte Erzähltypen zu ergründen.

Hiermit ist die vorliegende Arbeit – was den wissenschaftlichen Ansatz betrifft – in allen wesentlichen Punkten umrissen. Und bevor die Abhandlung zur genaueren Ausarbeitung von Gegenstand, Theorie(n) und Methode voranschreitet und sich hierauf in philologischen Fallstudien konkretisiert, sind erste Inspirationen für die geplanten Lektüren durchaus aus den eingangs reflektierten Experimenten zu beziehen. Dazu vorweg eine Randbemerkung: Der Anspruch, dass das Gefangenen-Dilemma und die kannibalische Kostprobe für die hier relevanten Probleme zu sensibilisieren vermögen, geht mit der Annahme einher, dass die Traditionen von der Bürgschaft und dem Fleischpfand (unter Absehung der in Dienst genommenen ← 24 | 25 → Medien) bis in die Moderne bestehen. Heute noch – so die These, die am Ende der Untersuchung noch einmal aufgegriffen wird – geben Bürgschaften und Fleischpfänder zu reden. Und wenn sie hier von der intellektuellen Elite mit einem Nobelpreis gewürdigt werden, da aber im gemeinen Volk einen shitstorm40 auslösen, haben sie als Geschichten (‚good stories‘)41 heute nicht nur das Interesse erlesener Kreise, sondern die Aufmerksamkeit ganzer Gesellschaften für sich.

Dass das Gefangenen-Dilemma die sprachliche Aufzeichnung als Garantin für das Versprechen profiliert, ist im vorhergehenden Kapitel bereits angesprochen worden. Und insofern sich da konkret die Kooperation über ein Geschehen als Geschichte einstellt, könnten auch den hier inte­ressierenden Primärtexten entsprechende poetologische Implikationen innewohnen. Ausgehend von der Kannibalen-Show ist den erzählten Bürgschaften und Fleischpfändern derweil grundsätzlich eine prekäre semantische und pragmatische Mehrdeutigkeit zu unterstellen; dies insbesondere wenn man bedenkt, dass der Körper in der Fernsehsendung von einer Verheissung in eine Erfüllung bzw. von einem Pfand in eine Manifestwerdung zu kippen scheint. Davon abgesehen rückt die Sendung Proefkonijnen die Physis in ein ökonomisches Licht, wenn die Verstümmelung den beiden Moderatoren eine doppelte Entschädigung beschert: die Genugtuung einer adäquaten Reaktion auf die Traktierung durch den Freund42 und die sich an den Einschaltquoten bemessende Entlöhnung durch den Fernsehsender. Ob und, wenn ja, inwiefern die Wirtschaft auch in den ausgewählten Primärtexten bedeutsam ist, könnten die auf dem Plan stehenden Lektüren klären.

Weiter legt die holländische TV-Show nahe, die Physis als Moment einer umfassenden Inszenierung zu begreifen. Liesse sich der Körper auch in den hier ausgewählten Primärtexten als konstitutiver Teil eines Spiels erfassen, sollten indes ebenda auch mögliche Erwägungen des Rechts ansetzen; was legitim ist und was nicht, muss notgedrungen die Dimension(en) der (blossen) Aufführung berücksichtigen. Davon abgesehen wären die Grenzen einer allfälligen Inszenierung – mit Rücksicht auf die brennende Frage (knagende vraage), welche die besprochene Ausgabe von Proefkonijnen ← 25 | 26 → erst veranlasst hat – auch aus einer wissensspezifischen Warte zu bewerten. Sollten die Texte eine Ergründung des Körpers antizipieren, müsste sorgfältig geprüft werden, ob sie die vorweggenommenen Erkenntnisse nicht wie die Fernsehsendung letztlich schuldig bleiben. Endlich schärft Zenos und Storms Show den Blick für das schillernde physische Tabu. Insofern es in der TV-Show erst zum Ausdruck kommt, wenn es schon gebrochen ist, lohnt sich im interpretativen Umgang mit den Primärtexten eine Aufgeschlossenheit gegenüber dekonstruktiven Tatbeständen und – zumal der Tabubruch zum Zwecke der Erkenntnis oder der Kunst allenfalls relativiert werden kann – gegenüber diskursiven Formationen.43

1.3 Zwei Erzähltypen

Bürgschaft und Fleischpfand sind als poetische Motive zu begreifen, zumal sich beide Momente dem Begriff nach durch Texte bewegen (von lat. movere). Die vorliegende Untersuchung richtet sich aber nicht nur in dem Sinne motivgeschichtlich aus, als sie die Bahnen der Motive durch einzelne erzählende Texte44 nachvollzieht, sondern auch insofern, als sie deren Spuren im Verlauf umfassender narrativer Traditionen verfolgt. Das heisst: Die Analyse will zwar als Katalog einer bestimmten Zahl von Einzellektüren verstanden sein. Doch sie verfolgt das übergeordnete Ziel, die poetische Resistenz und – über weit gesteckte Zeitgrenzen hinweg – die bedingte Varianz von Bürgschaft und Fleischpfand in ein Verhältnis zu setzen.45 Konkret ist die Untersuchung bestrebt, zwei Erzähltypen zu ergründen.

Zwei Erzähltypen zum Ausgangspunkt einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zu machen, ist als Methode so vielversprechend wie problematisch. Vielversprechend ist der Ansatz, weil er den Vergleich als ein griffiges Analyseinstrument profiliert. Problematisch ist er, weil die opportun komparatistische Anordnung ein Verhältnis zwischen Texten vorwegnimmt, das ← 26 | 27 → der Vergleich doch erst zu belegen sucht. Dass der Beziehungsstiftung zwischen Einzelerzählung und Erzähltypus demnach der Zirkelschluss droht, ist als grundsätzliche Schwierigkeit, insbesondere vor dem Hintergrund philologischer Paradigmenwechsel, besprochen worden.46 Doch obschon ein wissenschaftliches Bewusstsein für das entsprechende Risiko besteht, muss das Problem zumindest aus einer analytisch-praktischen Warte bestehen bleiben: Ein narratives Schema ist als heuristische und operationale Grösse für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ausgewählten Erzähl­zusammenhängen unerlässlich, setzt aber einen festen Begriff von Erzähltypus voraus, der sich selbst nur als Ausfluss der zu untersuchenden Einzeltexte konstituiert.

Christian KIENING versteht die prekäre Beziehung zwischen Typus und Einzelerzählung als Spezifizierung einer umfassenderen philologischen Schwierigkeit: dem diffizilen Verhältnis von Text und Kontext. Vor diesem Hintergrund schlägt er zur Untersuchung spezifischer Erzähltypen exemplarische Lektüren vor, die „sich zu beweisen haben an der Stringenz und Relevanz der vorgenommenen Kontextualisierungen.“47 Wenn sich KIENING mit dem Begriff Kontext nicht nur auf die historischen, sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen der Erzählungen bezieht, sondern auch auf den Erzähltypen als gemeinsamer Nenner einzelner Narrative, verlangt dies von der vorliegenden Untersuchung zweierlei: Zum einen müssen sich die vorausgesetzten Erzähltypen – als die „Schnittmenge[n]“48 verwandter Narrative – mit Rücksicht auf die vorliegenden Primärtexte verfestigen und gegebenenfalls berichtigen. Zum anderen sind die Erzählvarianten nicht bloss am geteilten narrativen Typus zu bemessen, sondern auch in ein Verhältnis zur Welt ausserhalb des Textes zu setzen; das heisst, die einzelnen Narrative müssen historisch, soziologisch und, zumal sich Geschichte und Gesellschaft auch als (Kon-)Texte zu lesen geben, literaturwissenschaftlich gedeutet werden.49 ← 27 | 28 → Eine gezielte Verortung der Primärtexte in umfassenderen Textkulturen schliesst also die Beliebigkeit einer Konturierung des Erzähltypus prinzipiell aus. KIENING schreibt:

Mit KIENINGS Stellungnahme sind die wesentlichen Eckdaten für eine Interpretation vorgegeben, die den ausgewählten Erzählungen als Typen und als Unika gerecht wird. Aber noch in einer weiteren Hinsicht bietet sich KIENINGS Konzeption von Erzähltypen für die geplante Untersuchung als Ausgangspunkt an: Zumal sich bei ihm „narrative Muster“ und „kulturelle Konfigurationen“ wechselseitig bedingen,51 wird er mit seinem Ansatz insbesondere der vormodernen Literatur gerecht, die mit drei bzw. vier Erzählungen – je nachdem, wo man Shakespeares Drama52 verortet – in der vorliegenden Untersuchung den Schwerpunkt bildet: Vormoderne Texte sind ohnehin nicht als stabile Gebilde konzipiert, sondern erscheinen als immer neue Spielarten von ausgewählten Traditionen.53

Den Vorüberlegungen in diesem Kapitel ist nachzutragen, dass es verfänglich sein kann, die Erzählungen von der Bürgschaft auf der einen und die Geschichten vom Fleischpfand auf der anderen Seite je unter der Kategorie eines Erzähltypus zu subsumieren. Denn letztlich überkreuzen sich hier wie da verschiedene Erzähltraditionen. Im Erzähltypus Bürgschaft gehen etwa die Motive Tyrannenmord und Doppelgänger ineinander auf. Und im Erzähltypus Fleischpfand sind mindestens die Momente Freierprobe, Schlafzauber und Kleider- bzw. Rollentausch verwoben. Die nun folgende Skizzierung zweier Erzähltypen ist entsprechend auch aus dieser Warte als analytischer Behelf zu verstehen. Und wenn die sich in ihnen verzahnenden Einzelaspekte auch nicht im literaturgeschichtlichen Detail ← 28 | 29 → besprochen werden können, so wird ihnen doch in den Textlektüren die grösstmögliche Aufmerksamkeit geschenkt.

Details

Seiten
322
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9781453917985
ISBN (ePUB)
9783035197921
ISBN (MOBI)
9783035197914
ISBN (Paperback)
9783034320245
DOI
10.3726/978-1-4539-1798-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Versprechen Sprechakt Sprechakttheorie Vertrag Übereinkunft Erzähltyp Erzähltradition Bürgschaft Kreditor Literatur Recht Ökonomie Theater Fleischpfand
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 322 S.

Biographische Angaben

Christine Spiess (Scherrer) (Autor:in)

Nach ihrem Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Allgemeinen Geschichte und Politikwissenschaft schrieb Christine Scherrer rund eineinhalb Jahre für die Handelszeitung. Dann kehrte sie ans Deutsche Seminar der Universität Zürich zurück, um am Lehrstuhl von Prof. Dr. Christian Kiening zu assistieren und zu promovieren. Seither ist sie Redaktorin beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF.

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Titel: Heikle Versprechen
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