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Wissenstransformationen in fiktionalen Erzähltexten

Literarische Begegnungen mit jüdischer Erinnerungskultur im Werk von Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa und Moacyr Scliar

von Corinna Deppner (Autor:in)
©2016 Dissertation 484 Seiten
Reihe: Hispano-Americana, Band 52

Zusammenfassung

Wissenstransformationen in fiktionalen Erzähltexten am Beispiel von Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa und Moacyr Scliar belegen ein für die Literatur maßgebliches Verständnis dynamischer Allelopoiese, in welchem historisches und kulturelles Wissen nicht als feststehendes Archiv, sondern als Prozess behandelt wird. Nicht abwechselnde, sondern nebeneinander stehende Aussagen und Aggregatzustände der Schrift leiten zu einem Mehrfachsinn der Textstruktur über. Eine daraus resultierende mehrdimensionale Rezeption stellt Transformationsforschung und jüdische Erinnerungskultur in einen gemeinsamen Deutungshorizont. Die jüdische Tradition kultiviert ausgehend von ihrem Verständnis einer mündlichen und einer schriftlichen Thora Paradigmen, die literarischen Transformationsprozessen zuträglich sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Transformationen im Anschluss an Babel
  • II. Wissensarchivierung als literarische Transformation
  • II.1 Ordnungen des Wissens bei Borges, Vargas Llosa und Scliar
  • II.2 Gedächtniskünste und kulturelles Gedächtnis
  • II.3 Von der mystischen Spekulation zur Polysemie
  • II.4 Das jüdische Dispositiv in der lateinamerikanischen Literatur
  • II.5 Zachor! Spuren jüdischer Erinnerungskultur
  • II.6 Transformationsprozesse als mnemonische Konstruktion
  • II.7 Allelopoietische Transformation
  • III. Borges’ „Funes el memorioso“: Erinnerungsparadigma zwischen den Kulturen
  • III.1 Erinnern und Vergessen: das Gedächtnis von Funes el memorioso
  • III.1.1 Einblicke in eine schwindelerregende Welt
  • III.1.2 Fiktion und Künstlichkeit
  • III.1.3 Überlagerte Erinnerungsparadigmen
  • III.1.4 Leerstelle und Negation als produktive Impulse. Funes im Diskurs der Wissenschaften
  • III.2 Die Nichtrepräsentierbarkeit der Welt im Akt des Erinnerns
  • III.2.1 Der unzuverlässige Erzähler – ein Schreiben im Oxymoron
  • III.2.2 Die bizarre Welt der Sinne
  • III.2.3 Von der Dekonstruktion der Zeichen zur mehrfachen Sinnkonstitution
  • III.2.4 Die Materialität der Zeichen: Funes’ Oralität als verschrifteter Sprechakt
  • III.3 Wissensordnung als Repräsentation
  • IV. Erste Fallstudie: „La biblioteca de Babel“ von Jorge Luis Borges
  • IV.1 Deutungsperspektiven für Borges’ „La biblioteca de Babel“
  • IV.1.1 Borges’ Utopie einer allumfassenden Bibliothek
  • IV.1.2 La biblioteca existe ab aeterno – die Beschreibung der Bibliothek als Erzählung, die Rezeption der Erzählung als Bibliothek
  • IV.1.3 Borges, ein Schriftsteller zwischen jüdischer Kulturtradition und literarischer Moderne?
  • IV.2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • IV.2.1 Der verschriftete Sprechakt als mehrfacher Schriftsinn
  • IV.2.2 Die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • IV.3 Text als Raum. Buchstabe und Zahl im Transformationsprozess
  • IV.3.1 Der heterotope Raum als Sprengkraft
  • IV.3.2 Das Zeigfeld der Sprache
  • IV.3.3 Das Universum aus Buchstaben und Zahlen
  • IV.4 Von der Mehrdimensionalität des Textes zum Text als Bild
  • V. Zweite Fallstudie: El hablador von Mario Vargas Llosa
  • V.1 Deutungsperspektiven für Vargas Llosas El hablador
  • V.1.1 Die Machiguenga in Florenz. Ein Roman zwischen indigener Stammeskultur und europäischer Renaissance in acht Kapiteln
  • V.1.2 Der Autor im Widerspruch
  • V.1.3 Vargas Llosa und die indigenistische Literatur
  • V.1.4 Plurale Erzählformen in einer novela total
  • V.2 Topografie des Fremden
  • V.2.1 Alterität und Interkulturalität im Kontext der Wissenstransformation
  • V.2.2 Fremde Kultur und Außenseiterrolle in El hablador
  • V.2.3 Gesten der Kulturvermittlung
  • V.3 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
  • V.3.1 Der authentische Roman in künstlicher Sprache
  • V.3.2 Machiguenga-Sprache: Die Konstruktion eines sprachlichen Archivs
  • V.3.3 Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Ein medialer Diskurs
  • V.3.4 Indigene Erzählung und moderne Literatur
  • V.4 Transformationsprozesse von Schrift und Bild: Schriftbildlichkeit
  • V.4.1 Fotografie als authentische Künstlichkeit
  • V.4.2 Die emotionalen Anteile des Bildes: Zeugenschaft und Magie
  • V.5 Transformationsprozesse des Erzählers und seiner Figuren
  • V.5.1 Metamorphosen des Erzählers
  • V.5.2 Kafkas Verwandlung und Ovids Metamorphosen: Modifikationsmuster für literarische Transformationen
  • V.5.3 Verwandlung und Abkehr des Erzählers
  • V.6 Wandernde Signifikanten
  • V.6.1 Saúl Zuratas als Palimpsest-Figur
  • V.6.2 Saúl Zuratas, der „ewig wandernde Jude“?
  • V.6.3 Begegnung in Israel und literarische Diaspora
  • V.6.4 Das jüdische Gottesparadigma und die vielen Namen des Tasurinchi
  • V.7 Zur Repräsentation des Jüdischen in der lateinamerikanischen Literatur
  • V.7.1 Verflechtung von indigenem Schicksal und jüdischer Diaspora
  • V.7.2 Konstruktion jüdischer Identitäten bei Borges und Vargas Llosa
  • V.7.3 Das Jüdische als Blick auf den Anderen
  • V.8 Die Vielstimmigkeit der Rede
  • VI. Dritte Fallstudie: A estranha nação de Rafael Mendes von Moacyr Scliar
  • VI.1 Deutungsperspektiven für Scliars A estranha nação de Rafael Mendes
  • VI.1.1 Der Roman als Familiensaga
  • VI.1.2 Von der Iberischen Halbinsel nach Brasilien zum Ort der Fiktionen
  • VI.1.3 Impulse und Energien der „Immigrantenliteratur“
  • VI.2 Mnemosyne und ihre Formen
  • VI.2.1 Intratextuelle Verzweigungen und textuelle Gedächtnisspur
  • VI.2.2 Fotografie und Wiegenlied als Erinnerungskatalysatoren
  • VI.2.3 Übersetzte Geschichte und kollektives Gedächtnis
  • VI.3 Transformationsprozesse und Intertextualität: Lesefiguren in der Zeitreise
  • VI.3.1 Der biblische Jona als Metapher
  • VI.3.2 Jona, ein Mendes im Wechsel der Zeiten
  • VI.3.3 Habakuk ben Tov – der Prophet als Wanderer
  • VI.3.4 Maimonides und die Bewegung des Geistes
  • VI.4 Wandernde Signifikanten: Irrfahrt ohne Heimkehr, Seefahrt mit Schiffbruch
  • VI.4.1 Begegnungen in der Neuen Welt: Mäandernde Wege zum Palimpsest
  • VI.4.2 Rafael Mendes und Christoph Kolumbus: Die Welt als Abenteuer
  • VI.5 Zur Repräsentation des Jüdischen in der lateinamerikanischen Literatur
  • VI.5.1 Ser da nação
  • VI.5.2 Identität in der Diaspora
  • VI.5.3 Der Goldbaum – Börsenspekulation und Schiffbruch
  • VI.5.4 Die Juden und das Geld – Stereotype und Projektionen
  • VI.5.5 Von Ahasver zu Shylock, von Habakuk ben Tov zu Boris Goldbaum
  • VI.6 Genealogie und Wissenstransformation
  • VI.6.1 Der historische Roman als Fiktion
  • VI.6.2 Alterität und Interkulturalität – eine jüdische wie postmoderne Erfahrung
  • VI.6.3 Jona und Maimonides; Scliar und Borges: Eine neue Ordnung der Dinge
  • VI.6.4 Porto Alegre – der Möglichkeitsraum für eine jüdische Identität in Brasilien
  • VI.7 Vom mobilen Archiv über das narrative Palimpsest zum Traumbild
  • VII. Begegnungen mit jüdischer Erinnerungskultur als Reflexion interkultureller Wissensarchivierung
  • VII.1 Ahasver – der Repräsentant des „ewigen Exils“
  • VII.2 Transformation des Wandering Jew in wandernde Signifikationen
  • VII.3 Schibboleth, ein Ausdruck für die Versehrtheit der Zeichen
  • VII.4 Mediale Wandlungen der Textstruktur: Oralität, Literalität, Ikonizität
  • VII.5 Prozessuale Raumkonstitution als semantisierte Topologie
  • VII.6 Allegorische Pluralität des Textes
  • VII.7 Rhetoric of Jewishness oder Begegnung mit jüdischer Erinnerungskultur?
  • VIII. Die lateinamerikanische Literatur als dynamisches Archiv. Eine Relektüre
  • IX. Literaturverzeichnis
  • IX.1 Primärliteratur
  • IX.2 Sekundärliteratur

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I.  Transformationen im Anschluss an Babel

I.

Wissen kann produziert, bewahrt und angewandt werden. Im Rahmen der Anwendung ergibt sich dann eine Modifizierbarkeit des Wissens, wenn Bekanntes an neue Kenntnisse und Bedingungen angepasst wird. Ein Resultat davon sind Neufigurationen und generative Prozesse mit transformativem Charakter.1 Wissenstransformationen erfolgen in der Regel an Wissensorten, an denen Erkenntnisse in Forschungsprozessen professionell objektiviert, überprüft und weiterentwickelt werden. Das betrifft beispielsweise Laborsituationen sowie Bibliotheken und andere Archive.2 Wissenstransformationen im Bereich literarischer und vergleichbarer kultureller Werke, die einer subjektiven Perspektive der Umwandlung von Fakten unterliegen, scheinen sich dagegen von einem Konzept zu lösen, das Wissen als beweisbaren Tatbestand versteht. Ein für die Literatur maßgebliches Verständnis von Wissenstransformation geht von der Aufnahme und Weitergabe historischen und kulturellen Wissens aus, einem Prozess, in welchem Material aus unterschiedlichen Wissenskomplexen „erst im Effekt ihrer Transformation gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert, verfemt, vergessen oder zerstört“3 wird. Ausschlaggebend dafür ist eine konstruierende Rezeptionskultur. Dieses Verständnis, für das von Hartmut Böhme der Begriff „Allelopoiese“ vorgeschlagen wurde, versteht Transformation als dynamischen Vorgang, der die aufgenommenen Elemente wechselseitig anstößt und dadurch neue hervorbringt, sodass die rezeptive Leistung des literarischen Prozesses den inhärenten Wissensbestand nicht nur wandelt, sondern überhaupt erst erkennen lässt.4 Daraus folgt, dass die „Objektivität des Faktischen“ stets an der „systematischen Kraft der Deutung“5 orientiert ist. Seit der metawissenschaftlichen Herleitung epistemischer Wissensformationen durch Michel Foucault wird das in den Literaturen dargestellte Wissen als „Aufeinanderfolge ← 13 | 14 → von Diskontinuitäten und als Palimpsest von Diskursen“6 denkbar. Das Archiv wäre dann nicht mehr nur eine Wissensordnung zur Repräsentation von Wissen,7 sondern vielmehr die Ausgangsbasis für dessen Transformation. In diesem Sinne ist der Wissensbegriff seit dem 20. Jahrhundert immer auch an transformierende Eigenschaften geknüpft.8

Mit der Fokussierung auf die Frage nach Wissenstransformationen in fiktionalen Erzähltexten am Beispiel von Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa und Moacyr Scliar ist der Anspruch formuliert, allgemeingültige Erkenntnisse über die Transformation von Wissen als rezeptionsorientierte Schreibakte am Beispiel lateinamerikanischer Literatur zu gewinnen. Dabei liegt eine Zusammenführung dieser drei Autoren nicht auf der Hand. Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihre Werke und ihre Biografie. Während Borges’ Erzählungen zwischen den Gattungen der Kurzgeschichte und des Essays oszillieren, schreiben Vargas Llosa und Scliar Romane. Borges’ Werke überzeugen zunächst durch metafiktionale Erörterungen, welche das klassische Verhältnis zwischen Autor, Werk und Leser befragen. Vargas Llosas Bearbeitung sozialer und kultureller Konflikte kolonial besetzter Länder findet keine unmittelbare Entsprechung in Borges’ Universalliteratur. Scliar widmet sich wiederum den Ideen und Utopien, die aus der Situation einer jüdischen Diaspora erwachsen und sich an einer konfliktgeladenen Wirklichkeit stoßen. Die Themen und Schreibweisen der genannten Autoren haben in der literaturwissenschaftlichen Rezeption folglich sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Borges gehört unzweifelhaft zu den weltweit meistdiskutierten Literaten Lateinamerikas; Scliar ist in Europa kaum bekannt. Vargas ← 14 | 15 → Llosa hat 2010 den Literaturnobelpreis erhalten. Er kandidierte 1990 für das Amt des Präsidenten in Peru und ist als Politiker umstritten.9 Borges war Bibliothekar der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires. Scliar praktizierte als Arzt in Porto Alegre. Ebenso differieren die nationalen Zugehörigkeiten der drei Autoren: Borges ist Argentinier, Vargas Llosa Peruaner und Scliar Brasilianer. Die Herkunftsländer der drei Literaten fungieren oftmals als Handlungsorte und sind als jeweils unterschiedliche literarische Kontexte zu begreifen. An den gewählten Literaturen fallen jedoch auch Gemeinsamkeiten auf: Alle Autoren sind literarisch wie kulturell mit Europa verbunden und verknüpfen diese Orientierung mit speziell lateinamerikanischen Gegebenheiten. So ist die Begegnung von westlicher mit indigener Kultur von allen drei Autoren reflektiert worden. Die These lautet, dass insbesondere dort, wo differente Kulturen und Denktraditionen aufeinandertreffen, nicht nur Gegensätze, sondern gleichfalls produktive Dialoge entstehen, aus denen nützliche Formationen für die Erzeugung literarischer Prozesse abgeleitet werden können. Dies kann vor allem für die lateinamerikanische Literatur gelten, da die zahlreichen Migrationsbewegungen und das Zusammentreffen westlicher und indigener Lebensformen in der sogenannten Neuen Welt zu einer eigenständigen, mehrschichtig und interkulturell argumentierenden poetischen Literatursprache geführt haben.10

In den drei gewählten Fallbeispielen der vorliegenden Arbeit lassen sich zwei vergleichbare inhaltliche Perspektiven aufzeigen. Erstens sind in den untersuchten Werken Hinweise auf Wissensspeicher gegeben, die Auslöser für wissensgenerierende Dynamiken sind oder gar selbst Wissen hervorbringen. Borges’ Kurzgeschichte „La biblioteca de Babel“11 (1941) beschreibt eine Bibliothek mit selbstgenerierenden Eigenschaften, durch welche sie über das Potenzial einer normalen Bibliothek hinausweist: Ihre Ordnung ist durch die Kombination von Buchstaben einer beständigen Dynamik unterzogen. Darin ist eine Generierung von Wissen als Prozess impliziert. Der Leser wird dazu animiert, die Inhalte der Bibliothek selbst zu konfigurieren (vgl. Kap. IV.). Die anderen beiden Fallbeispiele enthalten Archive anderer Art: In El hablador12 (1987) kommt es zu einem Zusammentreffen von unterschiedlichen Kulturen und ihren Archiven: Der Ich-Erzähler stößt 1985 in Florenz, der Stadt europäischer Hochkultur, auf eine Glasvitrine, die Fotografien über das Amazonasgebiet zeigt. Die Ausstellung fungiert als Bildarchiv, als kulturelles Zeugnis über das Leben der Machiguenga-Indianer. ← 15 | 16 → Es wird zum Auslöser von Erinnerungen an einen sich in die indianische Kultur vertiefenden jüdischen Schulfreund. Die Rekonstruktion einer Begegnung lässt Zivilisation und Wildnis zunächst als Suche nach Sinn, dann als Konfrontation und schließlich als gescheiterten Dialog erscheinen (vgl. Kap. V.). In Scliars Roman A estranha nação de Rafael Mendes (1983)13 sind es Manuskripte, die dem Protagonisten vererbt werden und in denen dessen Familiengeschichte aufgezeichnet ist. Das persönliche Archiv wandelt sich zu einem kollektiven Gedächtnis, in dem die Erfahrungen einer aus Europa eingewanderten jüdischen Familie Universalcharakter für einen vergessenen Teil der Geschichte Brasiliens erhalten und tradiertes Wissen über die sephardische Kultur in die Romangegenwart überführt wird (vgl. Kap. VI.).

Des Weiteren werden in allen drei Beispielen durch die Protagonisten und Themen Topoi jüdischer Tradition aufgerufen. Bei Borges sind es die in der hebräischen Bibel überlieferte Legende vom Turmbau zu Babel und die u. a. daran ableitbare Auslegungspraxis in rabbinischer Tradition – einschließlich kabbalistischer Zahlenmystik.14 Vargas Llosa verknüpft die Außenseiterexistenz eines Juden mit der randständigen Existenz eines peruanischen Indianerstammes. Scliar thematisiert anhand einer Familiengenealogie die jüdische Diaspora in Brasilien seit der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492. Borges und Vargas Llosa sind keine jüdischen Autoren, vielmehr reflektieren sie die jüdische Tradition in den gewählten Fallbeispielen. Sie verkörpern eine Rezeption jüdischer Kultur, die sich von einer (inner-)jüdischen Perspektive unterscheidet. Folglich ist ihren Texten eine Begegnung mit jüdischer Kultur inhärent. Scliars Reflexionen jüdischer Geschichte in Brasilien fungieren dagegen als Archiv eigener Erfahrungen, die gleichwohl fiktionale Züge tragen.

II.

Literatur ist immer auch Wissensverarbeitung. In der modernen Lyrik sind diesbezüglich Methoden entstanden, die – Hugo Friedrich zufolge – mithilfe „dissonant[er] Vielstimmigkeit“15 sowie mit Maskierungen des Erzähler-Ichs bzw. der Protagonisten einen magischen Vielklang der Sprache zu erzeugen vermögen. Mit zerbrochenen Worten, irrealen Bildern, sinnlicher Schärfe sowie dem „Zertrümmern syntaktischer Ordnungen“ und einer „durchdachte[n] ← 16 | 17 → Verstrebung der Themen“ entstehen komplexe Denk- und Assoziationsgebäude.16 An diesen Strukturmerkmalen hat sich auch der moderne Roman orientiert. An die Stelle eines zentrierten Relationsgefüges treten Vielstimmigkeit, Dissonanz und ein produktives Missverstehen.17 Mithilfe dieser strukturellen Eingriffe in das literarisch eingearbeitete Wissen wird jedoch nicht allein ein poetisch-künstlerischer Effekt erzielt, sondern auch ein transformativer. Darin ist z. B. eine Auflösung hierarchischer Ordnungsmuster zu erkennen, wie sie für die Postmoderne beschrieben wurde.18 Entsprechend sind die Merkmale der Postmoderne bereits in den Stilmitteln der modernen Literatur enthalten. So verweist Peter Bürger darauf, dass „alle Versuche, die Postmoderne zu bestimmen, immer wieder auf Merkmale stoßen, die man bislang zur Charakterisierung der Moderne verwendet hat“.19 Paul Valéry habe bereits 1919 „bei der Schilderung der Kultur der Vorkriegszeit das Nebeneinander des Sich-Ausschließenden als spezifisch modern“20 ausgemacht. Die hier vorgestellten Texte belegen, wie sich auf der Basis literarischer Transformationen die Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne auflösen und die aufklärerischen Impulse des modernen Romans mit der Pluralität postmodernen Denkens verknüpft werden, entsprechend einer inzwischen von Wolfgang Welsch formulierten „postmodernen Moderne“.21 In der lateinamerikanischen Literatur kommt verstärkt die Verknüpfung mit interkulturellen und ethnologisch differenten Wissenstraditionen hinzu. Neu an der hier formulierten Forschungsfrage ist, dass es sich bei diesem mehrdimensional ausgerichteten Literaturverständnis auch um Transformationen von Topoi der jüdischen Kultur handelt.22

Mit dieser Akzentsetzung ist ein Zusammenhang gegeben, der in der aktuellen Transformationsforschung eine prominente Stellung einnimmt. Obwohl die Transformationsforschung den kulturellen Wandel anhand des Umgangs mit der griechisch-römischen Antike in der europäischen Rezeptionsgeschichte zum Ausgangspunkt gewählt hat, beginnt der 2007 erschienene erste Band eines diesbezüglich eingerichteten Sonderforschungsbereiches an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Beitrag, der sich anhand der Geschichte der ← 17 | 18 → Bibelübersetzungen explizit mit der Bedeutung rabbinischer Textkultur für die Kulturen der Moderne auseinandersetzt.23 Darin werden – ausgehend von Übersetzungsfehlern in der christlichen Bibel – in den hebräischen Texten Deutungsmuster mit transformativer Wirkung freigelegt, wie sie vergleichsweise erst wieder in der Literatur des 20. Jahrhunderts zur Anwendung kommen. Klaus Reichert weist darauf hin, dass bereits die ersten christlich motivierten Übersetzungen den spezifischen pluralen Gestus der hebräischen Texte verkennen, worin er eine „Hellenisierung“ der Bibel ausmacht. Dies habe eine Vereinseitigung der Interpretation auf Kosten der Mehrstimmigkeit bewirkt. Die in rabbinischer Tradition gepflegte Textdeutung, die eine Umstellung der Buchstaben und Silben einschließt, sei hingegen ein „Prozess permanenter Transformation“24, da die Wörter „gewissermaßen permutiert werden und zu ganz unterschiedlichen Bedeutungen ausgefaltet werden können“25. Als erweiterbarer Sinn fungieren beispielsweise die Lettern zugleich als Zahlenwerte. Diese durch die Vielschichtigkeit und den Mehrfachsinn der hebräischen Buchstaben ermöglichten Transformationen seien maßgeblich etwa für James Joyce gewesen, dessen Wortspiele in Finnegans Wake (1939) u. a. auf die Kombinatorik der Buchstaben des hebräischen Alphabets zurückzuführen sind.26

Über Joyce lässt sich eine Brücke zu Borges schlagen, wobei Letzterer dessen Ulysses (1922) als maßgeblich für seine eigene Literaturauffassung beschrieb. Ein Zeichen dafür ist die Erschaffung der Funes-Figur als übernatürlichen Wissensspeicher. In der Erzählung „Funes el memorioso“27 (1944) konstruiert Borges ein allumfassendes Gedächtnis, das u. a. in der Lage ist, einen Tag in allen Details aufzubewahren und wiederzugeben (vgl. Kap. III.). In der Konfiguration des Ulysses, in der Joyce alle Erlebnisse und Ereignisse um den Protagonisten an einem Tag zu einem Bezugspunkt zusammenführt, sieht Borges diese Fähigkeit als literarische Struktur umgesetzt.28 Transformiert ist bei Joyce ferner der griechische ← 18 | 19 → Held und Abenteurer Odysseus in einen Alltagsmenschen des 20. Jahrhunderts, der einen jüdischen Namen trägt: Leopold Bloom.29

Eine These dieser Untersuchung lautet, dass die Transformationsleistungen jüdischer Textkultur – einschließlich der Erzeugung eines vielfachen Sinnes – auf unterschiedliche Weise ihre Spuren in den gewählten Werken von Borges, Vargas Llosa und Scliar hinterlassen haben. Die in den genannten Erzähltexten vorkommenden Wissensspeicher konservieren einerseits Wissen für die Nachwelt, wodurch eine bewahrende Funktion des jeweiligen Textes erfüllt ist, die in jüdischer Tradition eine Entsprechung in der Thora erfährt. Andererseits ist ihnen ein konstruierendes Moment eigen, was mit den Ausdeutungen des die hebräische Bibel kommentierenden Talmuds korreliert.30 In dieser dialektischen ← 19 | 20 → Ausrichtung erfordert die Offenbarung der Thora einen Kommentar – mit der Folge, dass sich ihr Textsinn „bunt, mannigfaltig und widerspruchsreich“ entfaltet.31 Die von Borges thematisierte Legende vom Turmbau zu Babel kann als eine Metapher für die auf der Differenz innerhalb der Sprache basierende Pluralität verstanden werden.32 Insbesondere Walter Benjamin, dessen Denkbilder in der vorliegenden Arbeit in unterschiedlichen Kontexten aufgerufen werden, sah in der Spaltung von Laut und Bedeutung den Verlust der göttlichen Ursprache als ontologische Einheit (vgl. Kap. III.3 und VII.6).33 Die babylonische Sprachverwirrung wandelt aus dieser Perspektive zu einer Vielfalt der Sprachen. Mit der Spaltung der Sprachen sei zugleich die Arbitrarität der Zeichen aufgerufen und der Bedarf an Zeichen- bzw. Wissenstransformation geweckt.34 Die biblisch übermittelte Auffassung einer Sprachenteilung setzt somit bereits die Übersetzung als einen transformierenden Dialog der Sprachen als Aufgabe in die Welt.

Anhand der vorliegend gewählten Fallstudien wird nachvollziehbar gemacht, dass sowohl das Auftreten sprachgeschichtlich gewendeter Bibelexegese als auch die Thematisierung von Wissensordnungen ein dynamisches Potenzial enthält – jenes der Auslegung und der Transformation. Diese jüdisch konnotierten Paradigmen werden von allen drei Autoren in poetische Bilder verwandelt, die Medien Sprache und Bild erfahren dabei eine literarische Transformation in verschriftete Bild- oder Sprechakte.35 Anschaulich wird dieser Effekt von medialer Wissenstransformation u. a. dann, wenn erkannt wird, dass sich in den Literaturen Prozesse der Schriftbildlichkeit ausfindig machen lassen: Borges operiert mit der Anschaulichkeit einer Bild gewordenen Bibliothek, Vargas Llosa lässt ein fotografisches Archiv zum Auslöser und Bezugspunkt des gesamten Romans werden und Scliars Entdeckungsreise zur jüdischen Geschichte findet in einer ← 20 | 21 → Erinnerung auslösenden Fotografie aus der Kindheit einen strategisch wichtigen Bezugspunkt. Das Bildparadigma des Zeigens36 wird Text und umgekehrt erhält der Text eine deiktische Funktion. Ein weiterer medienreflexiver Aspekt ist die Inszenierung von Mündlichkeit.37 Das Stimmengewirr in der babylonischen Bibliothek (Borges), der Erzähldiskurs des indigenen Geschichtenerzählers (Vargas Llosa) und die Erinnerung an ein Wiegenlied (Scliar) sind diesbezüglich vergleichbar, entspringen jedoch unterschiedlichen Intentionen. Der in die Mündlichkeit einbezogenen Schriftlichkeit, die einem doppelseitigen Textverständnis entspricht,38 kommt dabei ein wichtiger Stellenwert zu. Bei Borges wird die Mündlichkeit durch die wechselnden Semantiken von Buchstaben und Zahlen gesteigert. In A estranha nação de Rafael Mendes ist die Resonanz des Unbewussten für die Transformationsprozesse von Bedeutung. Mit den sich überlagernden Traumbildern des Protagonisten Rafael Mendes ist eine surreal anmutende Form der Wissensgenerierung angesprochen.39

Die epistemische (d. h. wissensgenerierende) Qualität von Wissensordnungen ist ferner auf literarischer Ebene in polyvalenten Referenzen, Paradoxien und Oxymora strukturell nachvollziehbar. So ist beispielsweise die bei allen drei Autoren feststellbare Intertextualität40 eine literarische Umsetzung des Wechselverhältnisses zwischen Nachahmung und produktiver Schöpfungskraft. Insbesondere diesbezüglich gilt: Indem ein Schriftsteller auf bestehende literarische Muster zurückgreift und Bücherwissen konserviert, implantiert er den alten Text in einen anderen Kontext, wodurch wiederum neues Wissen generiert wird. Das Oxymoron und das Paradoxon fungieren ebenfalls als Potenziale zur Wissensgenerierung und sind im Wirkungsspektrum der Intertextualität anzusiedeln. Sie sind semantische Verknüpfungen, die ihre Produktivität aus dem Widerspruch ihrer Aussagen generieren. Bei diesen poetologischen Formen geht es nicht um eine wörtliche Bedeutung, sondern um einen Mehrwert, der durch aktive Deutung entsteht. Das Ergebnis ist eine Vieldeutigkeit, welche die zuweilen gegenläufigen Argumente nebeneinander wirken lässt – ebenso wie ein intertextuelles Literaturverständnis unterschiedliche Literaturen als Vorläufer- und Folgetexte ← 21 | 22 → gedanklich nebeneinander stellt und sie als reziprok potenzierende Semantiken vergegenwärtigt. Ein weiteres Stilmittel zur Generierung gegensätzlicher Aussagen ist die Ironie. Dies trifft in den hier formulierten Forschungshypothesen insbesondere auf die Infragestellung der Stereotype als absurde Konstellationen bei Scliar zu. Aber auch Borges’ Bezugnahmen auf die Kabbala z. B. sind als ironisierte Hinwendungen zu verstehen. Damit wird einer „Negation der gängigen Vorstellungen“41 entsprochen, wie sie für den Surrealismus von Peter Bürger formuliert wurde.

Der Gedanke der Produktion durch Negation ist nicht nur Stilmittel vieler rhetorischer Figuren (z. B. Ironie, Metapher, Metonymie), sondern wurde von Harold Bloom als literarische Transformation des jüdisch-kabbalistischen Gottesparadigmas gedeutet: Gott ist anwesend und abwesend zugleich; da er vollkommen ist, musste er sich selbst zurückziehen (negieren), um die Welt schaffen zu können. Die kabbalistische Emanationslehre ist somit zusätzlich eine Sprachtheorie: „[T]he God who manifests Himself is the God who expresses Himself“.42 Gott wird dieser Vorstellung zufolge durch Sprache präsent gehalten, hinter der er sich zugleich verbirgt. Für die Sprache bedeutet dieser Doppelsinn eine Bewegung, die in poetischen Formen der Mehrdeutigkeit ihren höchsten Ausdruck erfährt.

III.

Neben den Bezugnahmen auf die mystischen Dimensionen der jüdischen Quellen und deren mehrdeutiger Auslegungstradition43 lässt sich in den hier behandelten Werken auch eine rhetoric of jewishness feststellen, die die Kenntnisse über jüdische Tradition als Repräsentation von Wissen einsetzt und diesbezüglich auf Topoi zurückgreift, die insbesondere in der antisemitischen Literatur zu finden sind. Dieses wird beispielsweise an der Thematisierung der Andersheit als Verkörperung des wandernden Juden deutlich (vgl. Kap. V.6.2 und VI.3.3) In den drei fokussierten Erzähltexten vollzieht sich ein Bedeutungswandel dieser metaphorischen Figur, die zu einem wandernden Zeichen transformiert.44 Sie formt sich zu einer allegorischen Gestalt, in der sich mehrere Aspekte ← 22 | 23 → bündeln. Strukturell wird in dieser Wendung eine „Dynamik[…] der kulturellen Produktion“45 angesprochen, die auf den in den drei Literaturen präsenten Wissensbegriff zutrifft. So, wie sich das wandernde Zeichen in stetigen Neukombinationen wiederfindet, speist sich das in den drei gewählten Beispielen enthaltene Wissen aus einem heterogenen und bewegten Textgefüge. Die daraus resultierende Hervorbringung neuer Vernetzungen verändert das in den Literaturen archivierte Wissen und transformiert es, um es „als Kommunikat in der jeweils gegenwärtigen Kultur wirksam“46 zu machen. Während bei Borges die Aufnahme jüdischer Tradition in abstrakte Formen überführt und bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst wird, sind bei Scliar und Vargas Llosa deutliche Referenzen auf Repräsentationen jüdischer Vorstellungsbilder aufzufinden. Die aus den Deutungsprozessen in jüdischer Tradition ableitbaren komplexen Zeichenverschiebungen sind entsprechend vom Verwenden stereotyper Redewendungen innerhalb einer rhetoric of jewishness zu unterscheiden (vgl. Kap. VII.2).

Aus den Deutungsschwerpunkten der vorliegenden Arbeit, in denen literarische Inszenierungen von Wissenstransformationen unter Einbeziehung jüdischer Erinnerungskultur auf vergleichbare Merkmale hin befragt werden, ergeben sich weitere Themenkomplexe, die in Bezug auf die gewählten Primärliteraturen von besonderem Interesse sind. Zunächst ist diesbezüglich die Frage nach Alterität und Interkulturalität zu nennen. Mit diesen Aspekten ist die Problematik der Fremderfahrung gegenüber der Bewahrung der eigenen Kultur aufgerufen; ein Thema, das insbesondere im inter- wie transkulturellen Kontext ← 23 | 24 → Lateinamerikas und in Verbindung mit jüdischer Diasporaerfahrung auf ein ebenso aktuelles wie vieldiskutiertes Forschungsfeld verweist.47

Die nachgezeichneten Transformationsprozesse sind ferner Resultate aktivierter Archive des Wissens, die einen Zusammenhang mit jüdischer Erinnerungskultur verdeutlichen. Darin kommt die Bewahrung der Tradition nicht eindimensional zur Wirkung, sie ist vielmehr dialektisch mit Handlung generierenden Prozessen verbunden. Erinnerung, als ein Merkmal jüdischer Kultur zur Aufrechterhaltung einer Zugehörigkeit stiftenden Erfahrungsgemeinschaft in der Diaspora48 – das betrifft Riten und Gedenktage ebenso wie den Stellenwert der biblischen Überlieferungen –, ist entsprechend als ein übergeordnetes Potenzial für das Verhältnis zwischen Archiv und Transformation zu deuten: „La biblioteca de Babel“ erinnert ausgehend von einer biblischen Ortsbezeichnung mittels intertextueller Verweise an andere Texte zum Thema und aktualisiert diese zugleich. Die Erinnerung des Erzählers in El hablador, die beim Betrachten von Fotografien in Gang gesetzt wird, wird zum Anlass der Romanhandlung, die sich an der Identitätssuche eines ebenso jüdischen wie außenseiterischen Schicksals ausrichtet. Die kollektive Erinnerung an die Einwanderungserfahrung der Sepharden bildet den Konstruktionsrahmen für eine Familiensaga in A estranha nação de Rafael Mendes.

Dass sich angesichts der Kombination dieser Intentionen die einzelnen Werke als vielgestaltige Textstrukturen präsentieren, wird in den abschließenden Kapiteln der Fallstudien aufgezeigt. Dadurch soll einsichtig werden, wie sich das Wissen hinsichtlich der Zusammenführung von Heterogenitäten über verknüpfbare Muster als eine allelopoietische Wirkungsästhetik erweist. Insgesamt wird mit der Bezugnahme auf die Allelopoiese als Konfiguration wissenstransformierender Prozesse eine Brücke zwischen Kultur- und Literaturwissenschaft vorgeschlagen. Entsprechend werden auch die hier gewählten Literaturen in ein intermediäres Feld aus historischer Forschung, linguistischen Parametern und philosophisch-theologischen Reflexionen gestellt sowie an sich überschneidenden Diskursen49 um Erinnerung, Topologie und Interkulturalität beteiligt. ← 24 | 25 →

Der Aufbau der Studie entspricht einer deduktiven Methode, sodass der wissenschaftstheoretische Rahmen vor den hermeneutisch ausgerichteten Fallstudien platziert ist. Insofern zeigt das anschließende Kapitel Wissensarchivierung als literarische Transformation das methodisch-theoretische Instrumentarium auf, welches sich für die gedankliche Herleitung einer allelopoietischen Wissenstransformation aus den Diskursen um Gedächtnis, Erinnerung und Archiv als zielführend herausgebildet hat. Danach wird die literarische Umsetzung dieses Dispositivs anhand der Erzählung „Funes el memorioso“ vorgestellt (Kap. III.). Die Untersuchung von Borges’ Erzählung ist als Konvergenzpunkt zwischen theoretischer Reflexion und den in den Fallstudien aufgezeigten wissenstransformativen Prozessen formuliert. Das Kapitel fungiert als Bindeglied, da die Erzählung einer literarischen Spiegelung des gedanklichen Weges zwischen Wissensorganisation und allelopoietischer Transformation entspricht.

Die anschließenden Fallstudien (Kap. IV. bis VI.) akzentuieren den Argumentationsverlauf neu, indem sie sich induktiv aus den Werkanalysen entwickeln. Die jeweils ersten Kapitel (IV.1; V.1 und VI.1) geben einen Überblick zu den Deutungsperspektiven innerhalb der formulierten Fragestellung unter Einbeziehung des Forschungsstandes. Die darauf folgenden Kapitel sind nach den Akzentsetzungen der hermeneutisch ausgerichteten Studien in Themengebiete geteilt, die auf eine Vergleichbarkeit der drei Autoren setzen. Die letzten Kapitel der Fallstudien (IV.4; V.8 und VI.7) sind als Schlussfolgerungen bezüglich der Wissenstransformation und dem damit verbundenen mehrfachen Schriftsinn formuliert. Diese zeigen auf, dass die beschriebenen Archive nicht als authentische Dokumente konzipiert sind, sondern als falsifizierte Medien, deren Aussage durch die Anwendung modelliert wird. Ihr Wissen vermittelnder Inhalt wird durch die Transformation in fiktive Welten freigesetzt. Sie transponieren ein potenzielles Wissen, das Raum für weitere Wissensgenerierungen eröffnet. Die Ergebnisse der Fallstudien werden in Kapitel VII. unter dem Aspekt einer Begegnung mit jüdischer Erinnerungskultur, die sich von einer rhetoric of jewishness unterscheidet, zusammengedacht. ← 25 | 26 →


1 Vgl. Bergemann/ Dönike/ Schirrmeister/ Toepfer/ Walter/ Weitbrecht (2011): 39–56.

2 Vgl. Hoof/ Jung/ Salaschek (Hgg.) (2011).

3 Böhme (2011): 8.

4 Das Wort Allelopoiese ist abgeleitet aus dem griechischen Allelon – gegenseitig – und poiesis – Herstellung, Erzeugung. Vgl. Bergemann/ Dönike/ Schirrmeister/ Toepfer/ Walter/ Weitbrecht (2011): 39.

5 Böhme (2011): 10.

6 Nünning (Hg.) (2004): 148, S.V. Episteme.

7 Vgl. Kittler/ Nickenig/ Siebenborn/ del Valle (2010): 11–25.

8 Das trifft auch dann zu, wenn „Wissensbestände irrelevant werden, Wissenskonzepte scheitern oder aber eine vorgegebene Wissenskonfiguration sich in etwas völlig anderes transformiert.“ Hoof/ Jung/ Salaschek (Hgg.) (2011): 8. Diese von Florian Hoof, Eva Maria Jung und Ulrich Salaschek formulierte Auffassung von Wissensdynamiken verdeutlicht, dass ein Wissensort lokal verankert, adaptiv und transportabel zugleich ist. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Wissens- und Erkenntnisforschung dazu übergegangen, Überlegungen zu entwickeln, ob und auf welche Weise auch Objekte zu Trägern von Wissen werden können. Hans Jörg Rheinberges Konzept der „epistemischen Dinge“ geht davon aus, dass materielle Gegenstände „Auslöser und Transformator für Erkenntnisse sind.“ Hoof/ Jung/ Salaschek (Hgg.) (2011): 12. Die Beobachtung von Dynamiken der Wissensorte und –objekte hat darüber hinaus dazu geführt, wissenschaftlich gewonnenes Wissen an Schnittstellen zu untersuchen, da sich insbesondere dort, wo sich die Paradigmen und Disziplinen überkreuzen, transformatives Potenzial entfaltet.

9 Vgl. Roldán (2000).

10 Vgl. Ette (2013).

11 Borges (1996/1923–1949): 465–471.

12 Vargas Llosa (1999/1959–1988): 321–581.

13 Scliar (1983).

14 Vgl. Schmidt (Oktober 1998): 90–111.

15 Friedrich (2006): 69.

16 Vgl. Friedrich (2006): 60, 38, 200.

17 Vgl. „creative misreading“; Bloom (2003/1975): 4.

18 Vgl. Hassan (1988): 47–56.

19 Bürger (2000): 7.

20 Bürger (2000): 7.

21 Vgl. Welsch (2008). Peter Bürger verweist darauf, dass diese Verknüpfung auch auf surrealistische Impulse zurückzuführen ist; vgl. Bürger (2000): 106–114; 132–152.

22 Vgl. Valentin (2000): 279–295.

23 Vgl. Böhme/ Rapp/ Rösler (Hgg.) (2007).

24 Reichert (2007): 3.

25 Reichert (2007): 5.

26 Vgl. Reichert (2007): 1–18; vgl. Reichert (1989): 203.

27 Borges (1996/1923–1949): 485–490.

28 Entsprechend heißt es in „Fragmento sobre Joyce“: „Del compadrito mágico de mi cuento cabe afirmar que es un precursor de los superhombres, un Zarathustra suburbano y parcial; lo indiscutible es que es un monstruo. Lo he recordado porque la consecutiva y recta lectura de las cuatrocientas mil palabras de Ulises exigiría monstruos análogos.” Borges (1999/1931–1980): 168.

29 Diese literarisch konstruierte Zusammenkunft ist fundamental für die Begegnung jüdischer und griechischer Kultur. Unter anderem hat Jacques Derrida diesbezüglich zukunftsweisende Denkstrukturen ausgemacht, die insbesondere die Moderne beflügeln. In Anlehnung an die von Joyce formulierte Komposita aus dem Ulysses: „Jewgreek is greekjew. Extremes meet“ (Joyce (1992/1922): 622) heißt es in L’écriture et la différence: „Sommes-nous des Juifs? Sommes-nous des Greces? Nous vivons dans la différence entre le Juif et le Grec, qui est peut-être l’unité de ce qu’on appelle l’histoire.“ Derrida (1967b): 227. Dem Kapitel „Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas“ ist als Motto das erhellende Zitat von Matthew Arnold vorangestellt: „Hebraism and Hellenisn, – between these two points of influence moves our world.“ Derrida (1967b): 117. Derridas Bezugnahme auf Joyce habe ich in meiner Magisterarbeit bereits erläutert. Die These ist, dass auch Borges eine Produktivität in der Zusammenkunft der beiden Kulturen sah. Vgl. Deppner (2016/2009).

Details

Seiten
484
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631692479
ISBN (PDF)
9783653067323
ISBN (MOBI)
9783631692486
ISBN (Hardcover)
9783631674031
DOI
10.3726/978-3-653-06732-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien. 2016. 481 S.

Biographische Angaben

Corinna Deppner (Autor:in)

Corinna Deppner studierte Hispanistik und Germanistik an der Universität Hamburg. Sie war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und arbeitete als Lehrbeauftragte des Romanistischen Instituts der Universität Hamburg sowie als freie Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden.

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Titel: Wissenstransformationen in fiktionalen Erzähltexten
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