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Jenseits

Eine mittelalterliche und mediävistische Imagination. Interdisziplinäre Ansätze zur Analyse des Unerklärlichen

von Christa A. Tuczay (Band-Herausgeber:in)
Konferenzband 286 Seiten
Reihe: Beihefte zur Mediaevistik, Band 21

Zusammenfassung

Der Konferenz-Band ist den Jenseits-Imaginationen des Mittelalters gewidmet. Die Konferenz ging in der Hauptsache der Frage nach, wie einzelne Epochen und Kulturen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod manifestieren. Der zeitliche Bogen spannte sich dabei von der Antike bis zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Je nach Epoche und Kultur waren auch die Theorien und Narrationen in unterschiedlichen Kontexten verortet. Das Mittelalter band u.a. die Narrationen in den Kontext der Frömmigkeitsgeschichte ein, wobei viele mittelalterliche Visionsberichte nicht nur als Affirmationen für ein Jenseits fungierten, sondern auch Reformbewegungen stützten und als Mittel zum Zweck instrumentalisiert wurden. Mittelalterliche Imaginationen und Diskurse zum Jenseits einerseits und neue interdisziplinäre Interpretationsansätze und Methoden der Mediävistik andererseits stehen im Fokus des Sammelbandes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Formen des Jenseitsglaubens und ihre Funktion im Diesseits
  • Die Kunst des Sterbens: Vom guten und schlimmen Tod im Mittelalter
  • Hol über! ruft es vom andern Strand: Der Fährmann als Grenzgänger zwischen Diesseits und Jenseits
  • Blissful Dead, Desperate Dead: Purgatory goes to Hell in Early Modern Spain
  • Die Höllenfahrt des Visionärs – eine Anweisung zur Mitleidslosigkeit? Überlegungen zu Dantes ‚Inferno‘
  • Zwischen himmlischen Freuden und Höllenpein: Visionen vom Jenseits im spanischen Raum der Frühen Neuzeit
  • Reisen zum Irdischen Paradies. Mittelalterliche Annäherungen, Interaktionen und göttliche Gaben an Edens Grenze
  • Thomas von Villach und das Lebende Kreuz in der Pfarrkirche St. Andreas zu Thörl – kulturhistorische Betrachtungen
  • Die mittelniederdeutsche Apokalypse unter der Perspektive zisterziensischer Frömmigkeit
  • Zeit in Umbruch: eine kürzere niederdeutsche Apokalypse: Historische Faktoren bei der kurzen Redaktion der mittelniederdeutschen Apokalypse
  • Jenseitsvorstellungen beim Mönch von Salzburg
  • „Es hat got allen dingen ir zeit geben.“Was Paracelsus über das Sterben und den Tod zu sagen weiß
  • Angst vor dem Tod: Jämmerliche Männerfiguren in der deutschen Literatur des Spätmittelalters (von Mauritius von Craûn zu Heinrich Kaufringer und Till Eulenspiegel)
  • Der Tod in der Kunstwelt Tirols: Todesimaginationen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit
  • ‚Stimmen aus dem Jenseits’: Postmortale Befunderhebungen an menschlichen Überresten: Skelette, Gräber und Nekropolen als Spiegel der Welt der Lebenden
  • Filmisches Jenseits. Vorüberlegungen zu einer Theorie des Verpassens
  • Autoren

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Vorwort

„Sei wie du wilt namenloses Jenseits – bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu – Sei wie du willt, wenn ich nur mich selbst mit hinübernehme – Außendinge sind nur der Anstrich des Manns – Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“ (Schillers Werke, Nationalausgabe, B. III, S. 110) Dieses Zitat aus Friedrich Schillers Schauspiel Die Räuber war das Leitmotiv der vom 31. Oktober bis 3. November 2013 in Wien stattgefundenen Tagung.

Die Konferenz ging in der Hauptsache der Frage nach, wie einzelne Epochen und Kulturen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod manifestieren. Der zeitliche Bogen spannte sich dabei von der Antike bis zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Je nach Epoche und Kultur waren auch die Theorien und Narrationen in unterschiedlichen Kontexten verortet. Das Mittelalter band u.a. die Narrationen in den Kontext der Frömmigkeitsgeschichte ein, wobei viele mittelalterliche Visionsberichte nicht nur als Affirmationen für ein Jenseits fungierten, sondern auch Reformbewegungen stützten und als Mittel zum Zweck instrumentalisiert wurden. Ziel der Tagung war es zu klären, wie sich Vorstellungen und Funktionalisierungen, aber auch die Art der Darstellungsformen über die Jahrhunderte hinweg veränderten bzw. fortschrieben.

Der vorliegende Band ist den Jenseits-Imaginationen des Mittelalters gewidmet. Eine umfassende detaillierte Einführung in die Thematik hat der Herausgeber der Reihe Mediaevistik, Peter Dinzelbacher, mit seinem ersten Beitrag unternommen. Ausgehend von antiken textuellen Zeugnissen und deren Einfluss auf die mittelalterlichen Schriftsteller, betrachtet er die Vorstellung vom Sein nach dem Tod und ihre unterschiedlichen Funktionen: Während schon frühere Kulturen den Tod nicht als natürliches Ende, sondern als gewaltsamen Eingriff begriffen haben, werden in den christlichen Kulturen Strategien entwickelt, um dem Tod den Schrecken zu nehmen, Trost über den Verlust von Verstorbenen zu spenden und die Aussicht auf ein schönes Jenseits geschürt. Die Neuerung des Christentums bestand in der Ausbildung von speziellen Strukturen der Tradierung, die nunmehr nicht allein der familiären Gemeinschaft vorbehalten war, sondern den Vertretern der Institution Kirche mit einer eigens dafür abgestellten Literatur zukam. Aus der Analyse antiker und mittelalterlicher Texte erstellt er eine grundlegende Typologie der kulturell wichtigesten Imagination: die Idee einer nach dem Tod des Körpers weiterlebenden Seele, deren Reise in die jenseitgen Orte, mit der Erfindung des Fegefeuers, Möglichkeiten der Reinigung und Abwendung der ewigen Verdammnis, der Auferstehung vom mit der Seele vereinigten Körper, um nur die wichtigsten zu nennen. Weiters werden die Funktionweisen dieser Imaginationen in der mittelalterlichen Kultur ausgelotet, deren Inanspruchnahme durch die christliche Kirche als Mittel der Disziplinierung und Herrschaft.

Dinzelbachers einleitende Überschau hat die Vielfalt der Themen, Diskurse und Funktionen vorgestellt, die den mittelalterliche Verstehens- und Wahrnehmungshorizont auf das Jenseits bestimmen, und um deren Analyse und Einordnung sich die Mediävistik bemüht und in neueren interdisziplinären Ansätzen abarbeitet. Wiewohl der eng gesteckte Rahmen nicht die ganze Fülle der angesprochenen Themen zu bearbeiten erlaubte, bietet die hier präsentierte Auswahl einen durchaus facettenreichen Blick auf die mittelalterliche Vorstellung eines Jenseits: Der Band widmet sich den im jeweiligen Diskursprozeß und Kontext entstandenen Jenseits-Imaginationen und ← 9 | 10 → ihren spezifischen Bezügen, den Formen und Funktionen der direkten und indirekten Verarbeitung und Umschreibung historischer, ethnologischer, medizinischer, literarischer und bildlicher Quellen.

Der erste Teil des Bandes konzentriert sich auf allgemeine Bezüge zum Jenseits. Wie und mit welchen Strategien unterstützt von einem eigenen Literaturgenre die mittelalterlichen Menschen einen guten Tod erreichen wollten bzw. einen üblen vermeiden, spürt mein eigener Beitrag nach. Die Überleitung zur Untersuchung der Jenseitsorte und Jenseitsreisen bildet Karin Lichtblaus Beitrag zur Figur des Totenfährmanns, der die abgeschiedenen Seelen an der imaginären Grenze zwischen Diesseits und Jenseits abholt. Anhand des wohl berühmtesten Beispiels, Dantes göttlicher Kömödie, diskutiert Maria Tausiet den Stellenwert der Erfindung des Fegefeuers und den dahinterstehenden radikalen Hoffnungsanspruch. Meinolf Schumacher geht bei den eindrücklichen Darstellungen der Höllenfahrten der Frage nach, ob die Hörer der Texte mit den Sündern und ihren Strafen Mitleid empfinden sollten, während Classen die Angst vor dem Tod im Genre der Märendichtung in den Blick nimmt. Iris Gareis demonstriert am Beispiel der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen spanischen Jenseitsvisionen den interkulturellen Austausch mit der christianisierten indigenen Bevölkerung. Dem als real begriffenen, deshalb auch kartographierten irdischen Paradies und den Reisen dorthin geht Manuel Schwembachers Beitrag nach. Obwohl der Sündenfall das Paradies in unerreichbare Ferne für die Menschheit zu rücken schien, hat die Erzählliteratur erfolgreiche Reisen nach Eden imaginiert. Schwembacher nimmt drei Reisende in den Blick, Seth, Alexander und Brandan, die auf unterschiedliche Weise das Paradies erreichen und mit dessen Bewohnern in Interaktion treten. Um den Garten Eden und die Topographie des Jenseits geht es auch im Freskenzyklus des Thomas von Villach in der Pfarrkirche zu Thörl, den Grabmayer im den Kontext der Diskurs- und Ideengeschichte vorstellt.

Der nächste Abschnitt des Bandes konzentriert sich auf individuelle Stimmen im Textekanon. Martin Langner und Erika Langbroek betrachten die mittelniederdeutschen Versionen der Apokalypse und ihren unterschiedlichen, auf das jeweilige Publikum zugeschnittenen, Funktionen und Fassungen. Peter Mario Kreuter stellt Paracelsus Reden vom Jenseits und dessen eigenen Tod und die daran angeschlossenen Theorien in den Mittelpunkt seines Beitrags. Dem vor allem im Spätmittelalter immer lauter werdenden Ruf und der radikalen Aufforderung zum Gedenken an den Tod, wie er in den Texten Frauenlobs, Walthers von der Vogelweide, Oswalds von Wolkenstein und dem Mönch von Salzburg zu Tage tritt, geht Siegrid Schmidts Beitrag am Beispiel des Salzburger Mönchs nach.

Harald Kreinz, Jan Cemper-Kiesslich, Mark Mc Coy und Fabian Kanz eröffnen die kunstgeschichtliche und archäologische Perspektive. Kreinz behandelt die künstlerische Darstellung des Todes in seiner Entwicklung als Botschafter an den Menschen: die über die Jahrhunderte differente Wahrnehmung des Todes selbst, vom gnadenlosen Triumphator in Tiroler Darstellungen bis hin zu den Personifkationen des Todes als Skelett bzw. Mumie mit Pfeil, Bogen und Sense. Die altbekannte archäologische These, dass Ausgrabungen von Gräbern und Nekropolen die vergangene Welt der Lebenden widerspiegeln, stützen Cemper-Kiesslich et al. mit einem interdisziplinären Ansatz. Die Überreste des Menschen offerieren eine breite Vielfalt an Information über Lebensbedingungen und Umstände ihres Todes. Cemper-Kiesslich et al. geben Einblick in die Fragenstellungen und Methoden der interdisziplinären Archäologie, die historisch-anthropologische und die klassisch-archäologische Perpektive mit forensich-technischen Analyse kombiniert: ← 10 | 11 → dieser methodisch unabhängige Zugang der Verwertung von Daten, bietet nicht nur neue Möglichkeiten der Verfikation bzw. Falsifikation von Hypothesen, sondern auch neue Einsichten in vergangene Gesellschaften.

Thomas Ballhausens Beitrag zur Mittelalter-Rezeption im Medium Film diskutiert die Entwicklung des Historiographie-Diskurses an drei berühmten Regisseuren der Filmgeschichte. Die unterschiedliche Zugänge Bergmanns, Monty Pythons und Tarkowskijs zum mittelalterlichen Memento Mori-Thema runden den Beitragsband auf einfühlsame Weise ab.

Zu danken habe ich an dieser Stelle nicht nur unseren Beiträgern, sondern auch der Kulturabteilung der Stadt Wien, der deutschen Forschungsgemeinschaft und der österreichischen Forschungsgemeinschaft für den Druckkostenzuschuss. ← 11 | 12 →

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Peter Dinzelbacher

Formen des Jenseitsglaubens und ihre Funktion im Diesseits

Abstract

The introductory essay gives an overview over the most common forms of belief in a life after death which existed (and exist) in Europe, illustrating the subject primarily by texts of ancient and medieval writers. The basic types of that culturally most important fantasy are: The idea of a perpetuation of the psychsomatic whole in the grave or at another place – the idea of the soul living on without its body in a realm on earth or beyond – the idea of the soul‘s entrance into a foreign body (metempsychosis etc.) – the idea of a resurrection of body and soul rejoined. Related ideas are that of a continuity of life in the memoria of the others, or in one‘s descendants, and the expectation of a complete annihilation of the psychosomatic entity. Also the speculations of how to prolongate life by medical and other means must be mentioned.

Further, I discuss how these ideas could emerge and what their functions in life may be. Often, to speak about afterlife was and is no disinterested musing but has specials advantages for certain groups of the society. The Christian churches can be understood as having been, in the main, an institution selling places in the other-world for earthly goods. Unconsciously, the quasi automatic correlation of religion with perpetuation of life seems to be a major reason for the persistence of the religions‘ influence in our otherwise desacralized civilization.

Omnibus curae sunt et maximae quidem, quae post mortem futura sint […]
Cicero, Tusculanae disputationes 1, 14, 31.

Ominöserweise wenige Tage vor seinem Tode fällt dem Senator Thomas Buddenbrook „halb gesucht, halb zufällig“ ein Band „eines berühmten metaphysischen Systems“ in die Hände, in dem er „in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt“ wendet. Es überkommt ihn wie eine Erleuchtung: „Der Tod war ein Glück… Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken […] Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib […] Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und hassenswerte Hindernis, etwas anderes und Besseres zu sein! War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? […] Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft … Wo ich sein werde, wenn ich tot bin? […] In all jenen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und sagen werden […]” Und ein ungeheuer tröstendes Glücksgefühl durchströme ihn1.

Es ist nicht schwer, in dem ungenannten Autor des Systems Schopenhauer zu entdecken und im 41. Kapitel der Ergänzungen zum 4. Buch seines Hauptwerks den Abschnitt „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“2. Hier trägt der Philosoph seine bekannte Theorie von der über das Individuum reichenden Kontinuität des Willens vor und schließt sich der buddhistischen Lehre von ← 13 | 14 → der Palingenese an. Wie sehr auch Schopenhauer sich einem Wunschdenken hingibt (das sich an ihm selbst freilich bewahrheitet hat), zeigt seine kaum zu verfizierende Meinung: „Ruhig und sanft ist in der Regel der Tod jedes guten Menschen…“3

Solche Überlegungen gehen jedoch dem Wesen des Abendländers à contrecoeur, der sich auch dem Eschaton gegenüber nur als Individuum zu denken vermag. In einem seiner Dreiminutenspiele schildert Thornton Wilder, wie die Seelen der Ertrunkenen aus den Wassern zum Jüngsten Gericht aufsteigen. Ein Schrei bricht aus jeder Seele hervor, der Schrei ihrer Angst, unwiderruflich und unkenntlich mit den anderen zu einer Einheit verschmolzen zu werden: “O God, do not take away my identity! Do not take away my myself!“4

Wir werden daher alle Formen von „Unsterblichkeit“ auszuklammern, die ohne Perpetuierung des individuellen Bewußtseins konzipiert sind, also etwa jene, nach denen die Bestandteile der Seele irgendwie separiert weiterexistieren müssen, da weder Energie noch Materie im All verloren gehen können, ebenso jene, die davon ausgehen, daß wir im Gedächtnis der Nachwelt weiterleben oder in den Genen der Nachfahren. Es gab bereits in der Antike – so in der späten Stoa5 – die Vorstellung, die Seele würde sich mit der alles durchdringenden Weltseele vereinigen. Derartiges jedoch berührt mich nicht, ist gänzlich irrelevant, da ich von dieser Form der Weiterexistenz nach dem Tode nichts wissen oder fühlen werde. Daher wird Punkt 5 (s.u.) hier nicht behandelt.

Einleitend wird (im wesentlichen an europäischem Material) gezeigt, auf welche Grundtypen sich die zahllosen Formen des Glaubens an ein individuelles Weiterleben nach dem Tode reduzieren lassen und wie ihre Entstehung zu erklären ist6. Gefragt wird sodann nach den psychologischen Aspekten des Unsterblichkeitsglaubens sowie danach, welche Funktionen solche Erwartungen im diesseitigen Leben haben können und wie das Sprechen darüber im Sinne bestimmter Interessen funktionalisiert wird.

Daß an dieser Stelle genauere Differenzierungen nicht möglich sind (es gibt im Volksglauben bisweilen sowohl gender- als auch alterspezifische Jenseitsvorstellungen wie auch solche, die von der Todesart abhängen), dürfte hell sein. Es gilt das ovidsche: „Plurima cum subeant audita et cognita nobis, / pauca super referam.“7 Denn ein Kenner der Materie8 gab 1877 die damals vorhandene Literatur zum Jenseitsglauben mit etwa 7000 Bänden an; sie heute wenigstens auf das Doppelte zu schätzen, wird kaum verfehlt sein, wenn man bedenkt, wie zahlreich die alljährlich erscheinende ← 14 | 15 → Sekundärliteratur schon in einem einzigen Sonderbereich wie z.B. der altnordischen Religion ist9.

I.   Formen

Wenn wir nach den Vorstellungen über die Situation nach dem Tode fragen, treffen wir auf eine Reihe von grundlegenden Mustern oder Erzählungen, und zwar in der ganzen Spannweite von ungeprüft angenommenem Glaubensgut bis zu intensiv reflektierten Konstrukten:

1. – Die Vorstellung von der ganzheitlichen Weiterexistenz,

2. – die Vorstellung von der ausleibigen Seele, d.h. dem Weiterleben des vom Leib getrennten Bewußtseins auf der Erde oder in außerirdischen Räumen,

3. – die Vorstellung von der Wiedergeburt, d.h. dem Übergehen der Seele in einen anderen menschlichen oder tierischen Leib,

4. – die Vorstellung von der Auferstehung, d.h. dem Neueinsetzen der ganzheitlichen Existenz nach einer Zwischenphase der völligen Abwesenheit,

5. – die Vorstellung vom Vermächtnis, d.h. der Fortexistenz in der Memoria und, ist hinzuzufügen: in den Genen späterer Generationen,

6. – die Vorstellung von der kompletten Vernichtung von Leib und Seele (besser: der psycho-somatischen Einheit).

7. – Nur ergänzend, da die Zeit vor dem Tode betreffend, ist vom irdischen Weiterleben, d.h. der Lebensverlängerung bis ins Unendliche, zu reden.

Dies scheinen alle in der Menschheitsgeschichte vertretenen Möglichkeiten einer postmortalen Weiterexistenz zu sein; aufgrund der Beschränkungen der menschlichen Gehirntätigkeit, die immer an eine nicht erweiterbare Zahl von Denkkategorien gebunden ist (Raum, Zeit, Kausalität…), ist auch die Zahl vorstellbarer Lösungen der grundlegenden Existenzfragen beschränkt.

Da für die westliche Kultur die Vorstellungen der Einmaligkeit des Daseins und der Geschichte zusammen mit jener der Willensfreiheit prägend wurden, ist für uns das Leben stärker wertbesetzt als für den Anhänger einer Kultur, in der der Glaube an die Wiederholbarkeit der Existenz zusammen mit Fatalismus dominiert. Darin dürfte ein wesentlicher Grund für die differente Lebenshaltung östlicher Völker liegen. Speziell im Christentum gilt das irdische Leben als einzige Gelegenheit, das eigentliche und unendliche Leben im Jenseits zu erlangen oder zu verfehlen. Darin dürfte ein besonders wichtiges Moment für den europäischen Sonderweg liegen, der seit dem 16. Jahrhundert zu einer lange währenden Weltbeherrschung (in der Praxis aufgrund technischer Überlegenheit) führte, aber ebenso zu einer auf den Einzelnen ausgerichteten Ethik10. ← 15 | 16 →

1.   Die Vorstellung einer ganzheitlichen Weiterexistenz

Sei es die eines jeden Einzelnen, sei es die nur besonderer Menschen, bezog sich ursprünglich zweifelsohne auf sein Dasein im Grab, das „sit tibi terra levis“ vieler Funeralinschriften11 erinnert noch daran. Auch Bräuche des Totenkults, die einmal Gegenstand lebendigen Glaubens und nicht bloße Konvention waren, erklären sich so: Bescheidenstes Relikt ist noch heute das Licht, das viele von uns Toten auf das Grab stellen, obwohl selbst fromme Gläubige sehr gut wissen, daß der Selige dessen im Himmel nicht bedarf, und Agnostiker, daß ein Toter überhaupt nichts bedarf. Die Interpretation, dies sei ein Symbol für die Lebenden, ist gänzlich sekundär.

Um die Konkretheit der Vorstellung einer den Tod überdauernden Verbindung zwischen leiblichen Überresten und Seele zu illustrieren12: Noch in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts fütterte man etwa in Oberösterreich die Totenschädel im Karner, indem man ihnen in Schüsseln ein Abendessen vorsetzte13. Liegt dem eine weniger palpable Eschatologie zugrunde als es etwa jene der Ureinwohner Cubas war, die den Spaniern freiwillig auf ihre Karavellen folgten, weil diese versicherten, sie kämen aus dem im Süden gelegenen „Lande des Wiederfindens“ (Toten-Paradies) und würden die Insulaner zu ihren toten Angehörigen bringen – tatsächlich aber in die Sklaverei14?

Details

Seiten
286
ISBN (ePUB)
9783631693162
ISBN (PDF)
9783653060386
ISBN (MOBI)
9783631693155
ISBN (Hardcover)
9783631668368
DOI
10.3726/978-3-653-06038-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Imaginationen des Mittelalters Frömmigkeitsgeschichte Leben nach dem Tod
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 286 S., 32 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christa A. Tuczay (Band-Herausgeber:in)

Christa Agnes Tuczay ist Dozentin für ältere deutsche Sprache und Literatur am Institut für Germanistik in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erzählforschung, Kulturkunde und Magiegeschichte.

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Titel: Jenseits
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