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Evolutionär orientierte Bioethik im Zeitalter der Life-Sciences

Einführung in die nichtmedizinische Bioethik aus hermeneutisch-phänomenologischer Perspektive

von Bernhard Irrgang (Autor:in)
©2016 Monographie 172 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor entwirft einerseits eine Bioethik für den nichtmenschlichen Bereich, die die naturwissenschaftliche Zugangsweise der Evolutionsforschung insbesondere ethologischer Art (Verhaltensforschung) mit der molekularbiologischen Rekonstruktion des Lebendigen verbindet. Er konkretisiert andererseits den Gerechtigkeitsgrundsatz einer Gleichbehandlung unter vergleichbaren Umständen. Dies geschieht mithilfe des empirisch modellierbaren Kriteriums anwachsender Komplexität der Möglichkeiten von Lebewesen zu intelligentem Sozialverhalten. Damit setzt er sich von den bisherigen utilitaristischen und anthropomorphen Kriterien wie Schmerzempfindungsfähigkeit, Glück, Lebenswillen, Interessen oder Tierwürde ab.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 0. Bioethik im Zeitalter der Life-Sciences
  • 1. Der biologisch-evolutionäre Rahmen für mögliche Bioethiken – das neue Bild des Lebendigen: Vom Gen zum Organismus
  • 2. Ökologisch relativierte Anthropozentrik: Tier-Mensch-Unterschiede und der Ansatz einer Bioethik
  • 3. Der technische Eingriff in die belebte Natur: Aspekte einer Ethik der Life-Sciences und das Leitbild der Nachhaltigkeit in der Umweltethik
  • 4. Konkretisieung der Umweltethik für natürliche, gentechnisch veränderte und synthetische Mikroorganismen
  • 5. Ethische Probleme im Umgang mit Pflanzen, transgenen nachwachsenden Rohstoffen, industrialisierter Nahrungsmittelproduktion und functional Food
  • 6. Ethik für wildlebende, domestizierte und transgene Tiere sowie für Nutz- und Versuchstiere
  • 7. Schluss: Bioethik als Forschungsethik
  • Literatur

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Vorwort

Knapp 25 Jahre nach der Verabschiedung von HUGO, dem Human Genome Project der EU in Brüssel Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, an dem ich als ethischer Fachvertreter maßgeblich im Ausschuss ESLA (Ethical, social. legal aspects) beteiligt war, können wir heute besser übersehen, was damals noch unklar war. Dieses Megaprojekt molekularbiologischer Forschung hat uns zwar auf breiter Front noch nicht die praktischen Folgen gebracht, welche uns versprochen oder auch befürchtet worden waren, sondern vielmehr hat das Schlüsselprojekt der Genom-Forschung für die moderne Biologie und Anthropologie umfassende neue Erkenntnisse erarbeitet, die sich auch in der ethischen Beurteilung niederschlagen sollten. Das zweite Großereignis war das Klonen des Schafes Dolly durch Jan Wilmut. Ich möchte daher als Summe meiner Arbeit an der Bioethik hier einen kleinen Entwurf einer zeitgemäßen Bioethik präsentieren, die nicht Ethik dogmatisch voranstellt, sondern aus einer Reflexion der Biologie auf der Basis der Genom-Forschung heraus erwachsen lässt.

In der technologischen wie in der wissenschaftlichen Forschungspraxis verflüchtigt sich der Gegensatz von natürlich und künstlich, von Natur und Technik immer mehr, während er in der ethischen Diskussion immer emphatischer herangezogen wird. Die hier entworfene Bioethik verdankt sich dem Paradox der Life-Sciences: Das Natürliche und das Lebendige wird am effizientesten mit modernster Techno-Science erforscht und verstanden. Der erfolgreiche technische Zugang zum Lebendigen wie zum Organismus und seiner Organisation sind wesentlicher Ausgangspunkt auch für die Analyse der sittlichen Dimensionen der Erkenntnis des Lebendigen und des Umgangs mit ihm. Bioethik beschränkt sich nicht auf medizinische Ethik und das Arzt-Patienten-Verhältnis, sondern erwächst dem Boden jener Technik, die in der Medizin wie in der Biologie seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in stark anwachsendem Maße herangezogen werden, nicht nur, um im Sinne medizinischer Reparatur zu heilen oder Gesundheit wiederherzustellen, sondern weil der biomedizinischen Eingriff Aussicht auf Verbesserung verheißt. Daher steht hier ein handlungsorientierten Ansatz ← 7 | 8 → und Fragen des Umgangs mit Lebendigem und vor allem mit dem Menschen im Vordergrund.

Traditionell wurde in der Bioethik der moralische Status von Pflanzen, Tieren (jeweils Gattungen von Lebewesen), individueller Tiere (Nutztiere, Schimpansen), des menschlichen Embryos und des autonomen Menschen aus einem Naturkontext heraus diskutiert und für den Menschen das Personprinzip herangezogen. Funktionale Bewertung ist aber von ethischer Bewertung zu unterscheiden, aber als „Wert des menschlichen Lebens“ neben der personal-leiblichen Würde des Menschen zu berücksichtigen. Bioethik soll also nicht als Naturethik, sondern als Ethik einer spezifisch menschlichen Praxis entworfen werden, die allerdings ihre Wurzeln in der natürlichen Evolution und insbesondere in der Entwicklung des Gehirns und des durch dieses Organ gesteuerte Verhalten. Nicht die Geschichte der Ethik ist maßgeblich für die zu entwickelnden Normen, sondern menschliche Handlungen. Schlüsselfragen sind dabei die nach der Autonomie des Sittlichen, nach dem Bezug der Ethik zur Empirie und die Bewertung des Tier-Mensch-Unterschiedes.

Dresden, im Frühsommer 2016

Bernhard Irrgang

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0.  Bioethik im Zeitalter der Life-Sciences

Nicht das Leben selbst wirft die meisten bioethischen Probleme auf, sondern der technische Umgang mit Lebendigem. Nehmen wir gleich am Anfang ein provozierendes Beispiel: Befruchtung ist ein Vorgang, der nichts spezifisch Menschliches an sich hat, sondern z. B. bei Säugetieren hunderttausend oder millionenfach abläuft. Natürlicherweise stand und steht am Anfang einer menschlichen Embryonalentwicklung ein Befruchtungsvorgang mit menschlichen Genen. Heute kann dieser Vorgang technisch erzwungen (Mikroinjektion des Spermas in die Eizelle) oder durch den Vorgang des Klonens, bald auch durch den der Stimulation einer weiblichen Eizelle ersetzt werden. Geboren wird in allen drei Fällen ein Mensch. Alle drei technischen Alternativen nutzen das natürliche Entwicklungspotential weiblicher Eizellen. Natur kann also nicht die Entscheidungsgrundlage für die Auswahl einer technischen Methode abgeben. Aber lässt sich aus der Analyse der technischen Handlung alleine ihre ethische Bewertung ableiten? Vorsicht erscheint angebracht.

Die Lage der Bioethik als Bereich anwendungsorientierter Ethik ist keineswegs beneidenswert. Oft ersetzt emotionale Betroffenheit die erforderliche ethische Argumentation. Eine einheitliche Verwendung des Terminus Bioethik gibt es nicht. Die Vorsilbe „Bio“ bezieht sich nach einer verbreiteten Sichtweise auf die Biomedizin und die Biotechnologie; Ethik meint die theoretische bzw. philosophische Beschäftigung mit Fragen der Moral. Bioethik ist nicht deckungsgleich mit Medizinethik, die bisweilen auf normative Fragen im Arzt-Patienten-Verhältnis beschränkt wird. Einige Theoretiker beziehen die Vorsilbe „Bio“ generell auf das Leben und alles Lebendige. Dieser Interpretation zufolge gehören auch die Tierethik und die ökologische Ethik dazu. Beide Dimensionen sollen in dieser Bioethik im Vordergrund stehen. Ich werde die damit verbundenen Fragen insbesondere aus der Perspektive der Lebenswissenschaften darstellen. Bioethiker werden als Moralexperten betrachtet. Aber worin besteht das Expertentum, wenn es um die ethische Beurteilung geht? Die Antwort sollte in ethischer Analyse und Diskussion der Probleme mithilfe spezifischer Kompetenzen erarbeitet werden. Expertengremien wie Ethikkommissionen beschäftigen ← 9 | 10 → sich mit Fragen der Bioethik in zunehmendem Maße. Eine anwachsende Internationalisierung der Forschung ist zu verzeichnen. Angewandte Ethik meint dabei nicht, dass man bestimmte Ethiktheorien auf Fragen der Bioethik anwendet. Es ist auch fraglich, ob Kasuistik als Alternative zum Theorienstreit eine Lösung anbietet.

Details

Seiten
172
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631693353
ISBN (PDF)
9783653072068
ISBN (MOBI)
9783631693346
ISBN (Hardcover)
9783631677063
DOI
10.3726/978-3-653-07206-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)

Biographische Angaben

Bernhard Irrgang (Autor:in)

Bernhard Irrgang ist Professor für Technikphilosophie und Lehramtsassessor am Institut für Philosophie der TU Dresden. Er war an den Universitäten Würzburg, Siegen, München sowie an der Technischen Universität Braunschweig tätig.

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