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Goethes Persien-Bild

Eine intertextuelle Studie zum «West-Östlichen Divan»

von Atefeh Soleimani (Autor:in)
©2016 Dissertation 246 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin rekonstruiert Goethes Persien-Bild, wie es sich einerseits aus dem «West-Östlichen Divan» und andererseits aus den umfangreichen Nachforschungen, Lektüren, Briefwechseln und Schriften ergibt, die der Dichter im Verlauf der Entstehung und Produktion seines Werkes herangezogen hat. Sie fasst Goethes Text als eine Art Austauschprojekt zwischen Ost und West und nicht als eine bloße Rekonstruktion orientalischer Dichtungstraditionen auf. Transkulturell verstanden, thematisiert der «Divan» eine Öffnung zwischen okzidentalischen Bausteinen und orientalischen Werten. Das Buch diskutiert die Rolle der persischen Dichter Saʿdi und Ḥāfeẓ als intertextuelle Quellen sowie Goethes literarische Verarbeitung der Vorlagen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Transkriptionstabelle
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Fragestellung und Zielsetzung
  • 1.2 Informationen zur Forschungslage
  • 1.3 Aufbau und Methode
  • 2 Textgenetische Aspekte: Zur Entstehungsgeschichte des West-Östlichen Divan
  • 2.1 Übersicht zur Entstehungsgeschichte des Divan
  • 2.2 Entstehungsgeschichte des Divan laut kritischem Bericht der ‚Berliner Ausgabe‘ (1979)
  • 2.3 Ergänzungen zur Entstehungsgeschichte nach dem Kommentar der ‚Frankfurter Ausgabe‘ (1994) und der ‚Münchner Ausgabe‘ (1998)
  • 2.4 Weitere Aspekte der Entstehungsgeschichte
  • 3 Einführung in die klassische persische Dichtung
  • 3.1 Der Ursprung der Poesie in der Mystik des Sufismus
  • 3.2 Die Formen der Persischen Poesie
  • 3.2.1 Das Ġazal
  • 3.2.2 Die Qaṣīde
  • 3.2.3 Die Qeṭʿe
  • 3.2.4 Das Robāʿī
  • 3.2.5 Das Matnawī
  • 3.3 Die fünf Vertreter des „Siebengestirns“ der klassischen persischen Dichtung
  • 3.3.1 Ferdōsī
  • 3.3.1.1 Ferdōsīs Leben
  • 3.3.1.2 Das Šāhnāme („Königsbuch“)
  • 3.3.2 Anwarī
  • 3.3.3 Neẓāmī
  • 3.3.4 Moulānā Ğalāleddīn Rūmī
  • 3.3.5 Ğāmī
  • 3.3.5.1 Ğāmīs Werke
  • 4 Saʿdi
  • 4.1 Saʿdis Leben
  • 4.2 Saʿdis Werke
  • 4.2.1 Būstān („Baumgarten“)
  • 4.2.2 Gōlestān („Rosengarten“)
  • 4.3 Der Diwan von Saʿdi
  • 5 Ḥāfeẓ
  • 5.1 Ḥāfeẓ’ Leben
  • 5.2 Fürsten zu Ḥāfeẓ’ Lebzeiten
  • 5.3 Ḥāfeẓ und die Mystik
  • 5.4 Liebe bei Ḥāfeẓ
  • 5.5 Ḥāfeẓ’ Sprache und seine poetische Kunst
  • 5.6 Metaphern bei Ḥāfeẓ
  • 6 Der deutsche Blick auf die klassische persische Dichtung
  • 6.1 Adam Olearius
  • 6.2 Johann Gottfried von Herder
  • 6.3 Joseph von Hammer-Purgstall
  • 6.3.1 Die Probleme bei der Übersetzung von Ḥāfeẓ’ Diwan
  • 6.4 Friedrich Rückert
  • 7 Intertextualität und Interkulturalität im West-Östlichen Divan
  • 7.1 Zur Buchgestalt
  • 7.2 Die Bedeutung des Orients, des Islams und Tausendundeiner Nacht
  • 7.3 Goethe und die persische Lyrik
  • 7.4 Saʿdis Einflüsse auf Goethe
  • 7.5 Goethes Verhältnis zu seinem ‚Zwillingsbruder‘ Ḥāfeẓ
  • 8 Literaturverzeichnis
  • 8.1 Primärliteratur / Quellen
  • 8.2 Sekundärliteratur
  • Reihenübersicht

Transkriptionstabelle1

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1          Carl Brockelmann: Die Transliteration der arabischen Schrift in ihrer Anwendung auf die Hauptliteratur der islamischen Weltsprachen. Denkschrift, dem 19. Internationalen Orientalistenkongreß in Rom vorgelegt von der Transkriptionskommission der deutschen morgenländischen Gesellschaft Carl Brockelmann, August Fischer, W. Heffening und Franz Taeschner. Mit Beiträgen von Ph. S. van Ronkel und Otto Spies, Leipzig 1935, S. 9.

1    Einleitung

1.1    Fragestellung und Zielsetzung

Ziel der vorliegenden Studie ist es, Goethes Persien-Bild zu rekonstruieren, wie es sich einerseits aus dem West-Östlichen Divan2 und andererseits aus den umfangreichen Nachforschungen, Lektüren, Briefwechseln und Schriften ergibt, die der Dichter im Verlauf der Entstehung und Produktion seines Werkes herangezogen hat. Der Begriff des Persien-‚Bildes‘ erscheint insofern gerechtfertigt, als Goethe sich nicht etwa nur mit persischen Dichtern, sondern auch mit deren kulturellem und historischem Umfeld auseinandergesetzt hat – fasziniert von der ihn reizenden Fremde des Orients und vom Wunsch, die interkulturelle Rezeption auf literarisch produktive Weise zu entfalten: in einer eigenen Dichtung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ständig auf persische Dichter, deren sprachliche und literarische Eigenarten sowie deren theologisch-philosophische Grundlagen verweist. Er tritt mit dem West-Östlichen Divan als Dichter hervor, aber auch als Gelehrter, der seine eigene Dichtungspraxis in mitveröffentlichten Kommentaren und Anmerkungen offenlegt, so dass er der erste Interpret seines eigenen Werkes genannt werden kann. Goethes Persien-Bild ist ein Resultat dichterischer und poetologischer Praxis.

Dass Goethe sich überhaupt mit persischer Dichtung ferner Zeiten befasste, wurzelt zwar im allgemeinen Interesse Goethes an fremden Kulturen, Literaturen und Künsten; aber es gibt einen konkreten Anlass, eine Motivation, die durchaus nicht aus dem Orient kam, sondern aus dem aktuellen ← 13 | 14 → historisch-politischen Zusammenhang: der ausgehenden Napoleon-Zeit, die Goethe dazu veranlasste, sich umgekehrt zur nationalen Euphorie der Befreiungskriege zu verhalten und sich zurückzuziehen. Diese Motivation hat er gleichsam als Programm im Gedicht „Hegire“ (S. 12) ausgeführt, und zwar gleich in dessen erster Strophe:

Aus heutiger Perspektive könnte man sagen, dass im Bild vom „reinen Osten“ nicht nur der kulturelle Fluchtort des Divan, sondern auch die aufwertende, maßstabsetzende Hochschätzung des Orients durchschimmert.

Diese Haltung hat Goethe selbstverständlich auch im heutigen Persien viel Aufmerksamkeit eingebracht. Zugleich gehört sein West-Östlicher Divan wahrscheinlich – vor allem neben dem ersten Teil seines Dramas Faust (1808) – zu jenen Werken des Dichters, denen bis heute weltweit die größte Resonanz zuteil geworden ist. Beispielsweise wird faktisch jeder Studierende des Fachs Germanistik im heutigen Iran unweigerlich mit dem Divan konfrontiert (ob diese Aussage auch z. B. für die Wilhelm Meister-Romane oder Dramen wie Torquato Tasso und Götz von Berlichingen zutrifft, ist dagegen durchaus fraglich). Auch auf Goethes Zeitgenossen hat der Gedichtzyklus teilweise eine große Wirkung gehabt; so ist etwa recht offensichtlich, dass Friedrich Rückerts Nachdichtungen der Lyrik des großen persischen Dichters āfe – erschienen 1822, also zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung von Goethes Sammlung – durch die Lektüre des Goethe’schen Divan angeregt worden ist. Der West-Östliche Divan, erstmals erschienen 1819 (Genaueres zur Entstehungsgeschichte liefert Kap. 2), kann als eine kulturelle Brücke zwischen Orient und Okzident betrachtet werden:

Das Werk zeigt, dass die Literatur als eine Botschaft gedeutet werden kann, die alle Nationen in Brüderlichkeit und friedlicher Gemeinschaft zusammenbringen kann: „Große literarische Werke wirken über Landesgrenzen hinweg und werden insofern zum Eigentum der gesamten Menschheit.“4 Im Gedichtband des West-Östlichen Divan ist Goethes Weltliteraturbegriff zu erkennen. Seine berühmte, in einem der Gespräche mit Johann Peter Eckermann (1792–1854), seinem Vertrauten in den letzten Lebensjahren, getätigte Äußerung (notiert am 31. Januar 1827), lautet:

Ich sehe immer mehr, […] daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hunderten von Menschen hervortritt. […] National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.5

Den Begriff „Weltliteratur“ hat Goethe in seiner Zeit in Briefen und Gesprächen geprägt. Das oben genannte Zitat sagt, was Goethe genau unter „Weltliteratur“ verstand. Goethes intensive Beschäftigung mit der fremden orientalischen Kultur ermöglichte dem Rezipienten ein literarisches Werk, das zur Idee der Weltliteratur gehört. Unmittelbar nach der Zeit der napoleonischen Niederlage entsteht Goethes West-Östlicher Divan. Es ist zugleich die Zeit der technischen Neuerungen und des Warenaustausches. Hierdurch entstand eine (mit einem heutigen Begriff formuliert) ‚Globalisierung‘ durch einen Kulturaustausch zwischen Orient und Okzident. In diesen Kontext gehört der Divan, dessen Entstehung die Idee einer „Weltliteratur“ im Verständnis Goethes zu realisieren versuchte. Er verstand das Werk als ein Modell für den interkulturellen Verbund der Nationen.

Goethe hat genauere kulturelle Forschungen unternommen, um seine Ideen zur „Weltliteratur“ weiter zu entwickeln und zu vertiefen. Ein Resultat dieser intensiven Auseinandersetzung mit der Kultur des Orients ist der West-Östliche Divan, der zeigt, dass kulturelle Grenzen überschritten werden können, ohne sie jedoch aufzuheben. „Die Popularisierung seines Orientinteresses war ein wesentlicher Begleitfaktor während der Entstehung des Divans.“6 ← 15 | 16 →

Häufig haben soziale Gruppen, etwa Angehörige einer bestimmten Ethnie, gegenüber den Angehörigen anderer Gruppen ein (prinzipiell nicht berechtigtes) Überlegenheitsgefühl. Goethe hingegen scheint aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit und seines anthropologischen Grundverständnisses dieser kurzsichtigen Mentalität bzw. Haltung nicht zum Opfer gefallen zu sein.7 Nur so konnte mit dem Divan, wie Hofmann meint, gewissermaßen ein „hybrides Drittes“8 entstehen, das heißt: das Fremde bzw. Andere (Orientalische) wird mit Respekt und Behutsamkeit mit dem Eigenen (Europäischen) von Goethe zu etwas Neuem (Drittem) verflochten. Bronfen und Marius haben den Begriff der Hybridität wie folgt beschrieben:

Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des sampling, des Bastelns zustandegekommen ist.9

Die erwähnte ‚Hybridität‘ des Divan kommt laut Hofmann auch darin zum Ausdruck, dass sich westliche wie orientalische Allegorien, Metaphern bzw. symbolische Bilder immer wieder vermischen.10 Seine orientalischen Erkenntnisse hat Goethe freilich nur aus Büchern. Um das Fremdartige des Orients zu erfahren, zieht er Reiseberichte, Übersetzungen und weitere Quellen zu Rate. Goethe stellt die sozialen Inhalte der kulturellen Literaturgeschichten des Orients in den Mittelpunkt seines Divan, wobei er die unsicheren Aspekte des Fremden in Kauf nimmt, weil er gerade am kulturellen Fremden äußerst interessiert ist. Sein großes Interesse für alles Orientalische hat sogar zur Verbindung der Poetik der Moderne mit allegorischen Dichtungen geführt, die er sich aus orientalischen Quellen aneignete und somit der deutschen Dichtung öffnete.11 Goethe nimmt das Fremde als ein solches an, vermittelt es in deutscher Dichtungssprache und erreicht damit etwas, das zwar nicht als ideale Kombination zu begreifen ist, aber einen dauernden Wechsel zwischen Eigenem und Fremden herzustellen versucht.12 „Das Eigene und das Andere treten gleichwertig nebeneinander im Sinne des Austausches und der Vereinigung auf. Um dies zu erreichen, fordert der Autor seine Leser auf, sich zu orientalisieren.“13 ← 16 | 17 →

1.2    Informationen zur Forschungslage

Selbstverständlich hat sich auch die inzwischen geradezu unübersehbare Goethe-Forschung mit dem Persien-Bild des Dichters befasst. Allein zum Divan liefert eine Detailsuche in der sicherlich bekanntesten allgemeinen Bibliographie der deutschsprachigen Linguistik und Literaturwissenschaft, BDSL, rund 270 (!) Titel.14

Dem Thema āfe und dessen Einfluss auf Goethe wurden bereits ausführlichere Arbeiten gewidmet. Die Goethe-Gesellschaft veröffentlichte im Jahr 2012 in Göttingen ausgewählte Schriften von Katharina Mommsen. Dieser Band beinhaltet ihre Reden und Studien, die sie in Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Goethe und die Weltkulturen veröffentlichet hat.15 Das Kapitel „orientalische Poesie“ hat Goethes Bild vom Orient und besonders von Persien zum Inhalt.16 Dem deutschen Leser war persische Literatur lediglich durch den aus dem 13. Jahrhundert stammenden Rosengarten und den Baumgarten von Saʿdi bekannt, übersetzt von Adam Olearius;17 außerdem kannte man noch ein paar orientalische Fabeln und Sprichwörter. Dies entsprach dem Rationalismus im 18. Jahrhundert, der auf Belehrung und Moral Wert legte. Vor diesem Hintergrund war es ein großes Lektüre-Erlebnis für Goethe im Mai 1814, als er den ersten Kontakt mit āfeDiwan hatte, was grundlegend für seine enge Beziehung zum Orient wurde. Gleichzeitig entdeckte er nun seine gewisse Verwandtschaft mit āfe und bemühte sich, derart angestachelt, um einen großen Überblick über die Dichtung des Orients. Goethe deutete auf die Anfänge der alten Perser hin, also auf die vorislamische Zeit. Damals wurden, wie Goethe es besonders über die Religion der alten Perser sagte, alle vier Elemente vergöttert, nicht nur Feuer allein, sondern auch Luft, Erde und Wasser.18 Es ist zu erkennen, dass Goethe diese altpersische Religion so beschrieb, dass er sie mit seiner eigenen Weltanschauung in Ver ← 17 | 18 → bindung brachte. So besteht eine Übereinstimmung zwischen der altpersischen Hervorhebung der Natur als Ganzes mit seiner eigenen pantheistischen Art des Denkens. Das Gleiche galt auch für viele gebildete Zeitgenossen Goethes und erklärt das Interesse für diesen Teil der alten orientalischen Kultur. Goethe entwickelte im Divan viele Analogien und Vergleiche. So vermittelte er als einer der ersten seinen Lesern im Westen die großen ästhetischen Werte orientalischer Kunst und Literatur.19

Mahmood Falaki hat 2012 seine Dissertation Goethe und Hafis: Verstehen und Missverstehen in der Wechselbeziehung deutscher und persischer Kultur veröffentlicht. Er beschäftigt sich in einem langen Abschnitt seiner Arbeit mit āfe’ Weltsicht. Darin untersucht er Goethes Rezeption der orientalischen Kultur und vergleicht das Liebesmotiv im West-Östlichen Divan mit āfe’ sowie Goethes Westöstlichkeit mit dem gegenwärtigen Okzident-Orient-Verhältnis.

Faranak Haschemi setzt sich in ihrer Dissertation von 2012 mit dem Thema Deutsche Dichter begegnen Saʿdi, Saʿdi-Rezeption in Deutschland auseinander. Die Arbeit befasst sich mit Übersetzungen, aber auch Nachahmungen und Nachdichtungen von Saʿdis Werken. Haschemi versucht, durch Vergleiche die Unterschiede zwischen den Übersetzungen hervorzuheben.

Im Jahr 2010 erschien der Aufsatz Goethes Persien-Bild im „West-östlichen Divan“ und die Idee einer Selbstreflexion des „Divan“-Dichters, den Hamid Tafazoli im Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft veröffentlichte. Tafazoli beschäftigt sich mit dem Persien-Bild und dem Bild des „Alten Iran“. Er ist der Meinung, dass ein Werk der deutschen Literatur, das sich hauptsächlich mit Persien beschäftigt, als Ausnahme hervorzuheben ist, insbesondere, wenn es das verschiedene Aspekte wie Wissen und Erfahrung, Poesie und Diskurs zusammenfügt und zu Diskussionen anregt: Dies sei bei Goethes West-Östlicher Divan der Fall.20 In vielen Arbeiten werde über die Entstehungsgeschichte des Divan und auch über Persien geredet.21 Wenn der Einfluss des persischen Dichters āfe auf die Divan-Entstehung untersucht wird, nimmt der heutige Leser den persischen Dichter mehr als orientalischen Dichter an. Jedoch geht es vielmehr um die Literatur und die Sprache seiner Dichtung und weniger um seine Nationalität; und diese Sprache ist das Persische, für welches der modernere Begriff Fārsī die aktuellste Bezeichnung ist. Die Frage stellt sich nun, wie sich das Persische in Goethes Divan neben den Dichtungen von āfe bestehen kann.22 ← 18 | 19 →

Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass das Persische, das Goethe in den Übersetzungen und Nachdichtungen vorfindet, als Sprachsystem einen gewissen Unterschied gegenüber dem im heutigen Iran aufzeigt: wenn von Persien die Rede ist, dann ist damit ein historisch-politischer und kulturgeschichtlicher Begriff gemeint, nicht der heutige Iran. Es geht also nicht um Iran-Forschung, sondern um ein Persien-Bild, das Goethe im Wesentlichen aus den historischen Quellen erfuhr und sein eigenes daraus schöpferisch entwickelte.23 An erster Stelle soll daher das Literarische und Poetische des Persien-Bildes stehen. Das in Gesprächen erreichte Wissen und die Poesie verschiedener Divan-Exemplare des Dichters sind zusätzlich zu betrachten. Eine Rolle spielt schließlich auch die Bedeutung des Persien-Bildes für den Divan insgesamt. Goethes Arbeiten zum Divan lassen sich aufgrund diverser Aufzeichnungen und Notizen ziemlich genau rekonstruieren, von der Materialbasis eines Persien-Bildes bis hin zu dessen Ursprüngen. Anzumerken ist, dass der Zeitraum, der als Alter Iran bezeichnet wird, eine fast tausendjährige Zeitspanne umfasst, die vom 6. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 7. Jahrhundert n. Chr. reicht, also bis zur Islamisierung.24 Dichtungsgeschichtlich spielt das Epos Šāhnāme von Ferdōsī eine entscheidende Rolle als Epochenzäsur. Der Šāhnāme, den auch Goethe kannte und von dem er sich anregen ließ, leitet den Neuanfang im islamischen Zeitalter des Irans ein, sprachlich also das Neupersische.

Weitere Quellen sind neuzeitlicher Art. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert erschienen einige Reiseberichte, die für Goethe der Einstieg zur Entwicklung seines Persien-Bildes im Divan waren. Goethe weist auf verschiedene Reiseberichte während seiner Divan-Studien 1814/15 hin, so z. B. auch einige Berichte europäischer Reisender aus dem 17. Jahrhundert über die Stadt Persepolis nahe Šīrāz, deren Ruinen großer Paläste früh als altiranische Hochkultur anerkannt wurden, erstellt eine Liste dieser Reisenden und nutzt deren Schriften als Material für seine Arbeit. Im Ganzen liefern alle Reiseberichte das erste Grundverständnis, das durch Fachtexte über persische Kultur, Religiosität und Philologie weiterentwickelt wurde.25

In diesem Zusammenhang ist ein Gedicht aus dem „Hafis Nameh – Buch Hafis“ (S. 27–33 und S. 319–327) von Bedeutung, weil es den historisch-kulturellen Rezeptionsprozess Goethes veranschaulicht, und zwar das Gedicht „Beyname“ (S. 28), ein Dialoggedicht zwischen einer Figur, die „Dichter“ genannt wird und hinter der wir Goethe vermuten können, und āfe, der auf die Fragen der Dichterfigur antwortet. Das Gespräch beginnt der Dichter: „Mohamed Schemsedinn sage, / Warum hat dein Volk, das hehre, / Hafis dich ← 19 | 20 → genannt?“ āfe sagt kurz etwas und zieht seine Schlüsse daraus, um auf sich selbst Bezug zu nehmen. Das Gespräch liest sich wie ein interkultureller Dialog: „Ich ehre, / Ich erwiedere deine Frage. / Weil, in glücklichem Gedächtniß, / Des Corans geweiht Vermächtniß / Unverändert ich verwahre.“

āfe stellt hier nur die Maske des Dichters dar und sein Zeitraum den imaginären Raum, worin sich auch der Dichter spiegelt. Der Dichter weist im Morgenblatt für gebildete Stände (S. 549) vom 24. Februar 1816 darauf hin, dass im „Hafis Nameh“ auch „das Verhältniß ausgesprochen“ wird, „in welchem sich der Deutsche zu dem Perser fühlt, zu welchem er sich leidenschaftlich hingezogen äußert, und ihn der Nacheiferung unerreichbar darstellt.“ In Bezug auf āfe verwendet Goethe erstmals die Bezeichnung „der Perser“. Das Bild Persiens beinhaltet nunmehr nicht nur Moammad, den Koran und den Islam; es ist auch das Bild des „Alten Iran“ (Feuer-Anbeter, Parsen, Zarathustra); Goethe selbst nimmt in Form des Ausdrucks „Perser“ zudem eine Unterscheidung zwischen dem „Alten [=vorislamischen] Iran“ und dem islamischen Iran vor.26

Im Gedicht „Beyname“ vollzieht Goethe im Prinzip eine Selbstidentifizierung mit āfe; im „Buch Hafis“ fungiert der Dichter als Hauptperson und die Dichtung steht als Hauptgedanke im Zentrum dieses Buchs. Damit wird zugleich eine raffinierte Form der literarischen Autoreflexivität unter Beweis gestellt. Auch im Gedicht „Anklage“ (S. 29) wird eine Diskussion präsentiert, deren Hauptthema die Dichtkunst des Dichters als regelrechte kulturelle Verpflichtung ist.

Das „Buch der Parsen“ kann durchaus als ein Akt der Maskierung verstanden werden: Die Natur – und dazu gehört auch alles, was lebt, und das heißt auch der Dichter – ist mit der Gottheit gleichzusetzen; diese, von den religiösen Machthabern sowohl im Islam als auch im Judentum und im Christentum meist zu allen Zeiten als Häresie betrachtete Haltung kommt auch im Gedicht „Vermächtnis alt persischen Glaubens“ (S. 122 f.) zum Ausdruck, in dem ebenfalls das Göttliche der ganzen Natur besungen wird. Für den Dichter ist im Divan – sowohl im āfe’schen als auch im Goethe’schen – dem Persien-Bild und dem Bild des Alten Iran im übertragenen Sinn der Raum gegeben, in den er sich selbst mit Gedanken der ‚Selbstreflexion‘ und ‚Selbstfindung‘ einbringt. Vor diesem Hintergrund wird die große Bedeutung erkennbar, die das Persien-Bild für Goethe und seine ästhetischen Ideale gehabt hat. ← 20 | 21 →

1.3    Aufbau und Methode

Aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive lässt sich Goethes Rezeption mit dem Begriff der Intertextualität und Interkulturalität verbinden. Der Begriff der Intertextualität wurde im Jahre 1966 von Julia Kristeva in ihrem Aufsatz Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman (1967) geprägt,27 in dem sie sich auf Michail Bachtins Begriff der Dialogizität28 rückbezog, um das, was sich zwischen Texten ‚abspielt‘, d. h. den Bezug von Texten auf andere Texte, zu umschreiben. Die vorliegende Arbeit folgt einem intertextuellen Konzept nach Manfred Pfister und Ulrich Broich.29 Nach ihren Definitionen ist Intertextualität dann gegeben, wenn der Autor sich bei der Texterstellung sowohl mit anderen Textinhalten beschäftigt, als auch von den Rezipierenden erhofft, dass ihnen ein Verständnis um die eigenen Texte und andere Texte des Autors wichtig ist und damit eine große Bedeutung für den Gesamtinhalt hat.30 Der Intertextualitätsbegriff kann sich auch auf Textinhalte beziehen und bewusst gesetzte Referenzen mit anderen Texten verbinden. Laut Pfister und Broich kommen im Text häufig Intertextualitätssignale vor, die dem Leser die intertextuellen Bezüge verdeutlichen. Solchen Signalcharakter kann der Titel eines Buches haben (Goethes West-Östlicher Divan erinnert intertextuell an den Diwan des āfe31). Auch Motto bzw. Vor- und Nachwort dienen als Markierung intertextueller Bezüge.32

Im Folgenden werden Überlegungen zum Begriff Intertextualität im Divan präsentiert. Der Divan ist zweiteilig strukturiert: Der eigentliche Divan und die von Goethe beigefügte Einführung, die „Noten und Abhandlungen“, die als Markierung intertextueller Bezüge benutzt wurde. Um dem westlichen Leser die Gedichte des Divan im Gesamtkontext begreiflich und wirklich nachvollziehbar machen zu können, erwähnt der Prosateil des Divan Goethes Recherche bezüglich des orientalischen Kulturkreises. „Divan“ bezeichnet im Persischen die Sammlung von Gedichten eines Dichters, also dient bereits der Titel als Intertextualitätssignal. ← 21 | 22 →

Goethe lässt in seinem West-Östlichen Divan Figuren aus orientalischen (vor allem persischen) Texten auftreten; er versucht, verschiedene Motive, Anregungen, Inhalte und Themen aus dem orientalischen Raum und den von ihm herangezogenen literarischen Quellen teils zu übernehmen, teils zu bearbeiten. In der vorliegenden Studie sollen der Umgang und die spezifische Rezeptionsweise am Beispiel des West-Östlichen Divan bis ins Detail aufgespürt und mit den jeweiligen persischen Vorlagen verglichen werden. Dabei stehen nicht allein thematische und inhaltliche Analogien im Mittelpunkt; Goethes Blick auf die persischen Quellen, die ihm in Übersetzungen vorlagen, ist derart genau, dass er bis in die Analogie der Bild- und Metaphernstrukturen eindringt und sich dadurch zu seiner produktiven Rezeption anregen lässt. So stellt er – nur ein Beispiel für den Bearbeitungsprozess – die äußere Schönheit der Geliebten in Bildern wie „moschusduftende Lockenschlangen“ (S. 79), „Rubinenmund“ (S. 88) und (in positiver Bedeutung!) „Mondgesicht“ (S. 95) dar, die zur Bildersprache des persischen Dichters āfe gehören. Dabei geht es nicht nur um den Lobpreis sichtbarer Schönheit; wie sein persisches Vorbild bedeutet die Konzentration auf die Liebesthematik eine Aktivierung geistiger Interessen: Die Liebe wird zur Inspirationsquelle, fördert die dichterische Schaffenskraft und animiert den Dichter, sich suggestiv in ein orientalisches ‚Milieu‘ zu versetzen. An solchen Beispielen wird deutlich, dass die exakte intertextuelle Arbeit mit persischen Vorlagen – Bildern, Motiven, Themen – zugleich auch eine interkulturelle Vermittlungspraxis entfaltet. Goethe veranschaulicht also nicht allein persische Dichtung, die er für seine eigene Produktion nutzt, sondern er gibt auch den Rezipienten die Möglichkeit, sich in einen ihnen fremd und exotisch erscheinenden Kulturkreis hineinzufinden.

Details

Seiten
246
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631694541
ISBN (PDF)
9783653071085
ISBN (MOBI)
9783631694534
ISBN (Hardcover)
9783631675700
DOI
10.3726/978-3-653-07108-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Die fünf Vertreter des „Siebengestirns“ der klassischen persischen Dichtung Saʿdi Ḥāfeẓ Goethe und die persische Lyrik Saʿdis Einflüsse auf Goethe Die Formen der Persischen Poesie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 246 S.

Biographische Angaben

Atefeh Soleimani (Autor:in)

Atefeh Soleimani studierte Deutsche Literatur und Sprache und ihre Didaktik und wurde an der Universität Siegen promoviert.

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Titel: Goethes Persien-Bild
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