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Dogmatik der Haftung und Grenzen der Leitungsmacht durch unbezifferten Nachteilsausgleich im faktischen Aktienkonzern

von Stephan Hufnagel (Autor:in)
©2016 Dissertation 282 Seiten

Zusammenfassung

Der Bundesgerichtshof hat sich in seinen Entscheidungen zum 3. Börsengang der Deutschen Telekom AG und zum Verkauf des Osteuropageschäfts der Hypovereinsbank mit der Frage der Zulässigkeit des unbezifferten Nachteilsausgleichs im faktischen Aktienkonzern beschäftigt. Nach eingehender Analyse der Dogmatik der Haftung nach §§ 311, 317 AktG und der Grenzen der Zulässigkeit des Nachteilsausgleichs im faktischen Aktienkonzern kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass sich die Verantwortlichkeit nach §§ 311, 317 AktG als ein positiv normierter Fall der culpa-Haftung für negotiorum gestio darstellt. Darauf basierend untersucht der Autor mögliche Fälle des unbezifferten Nachteilsausgleichs und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser den Konzerngeschäftsleitern nur sehr eingeschränkten Spielraum eröffnet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsübersicht
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: Problemstellung und Untersuchungsgegenstand
  • 1. Kapitel: Grundlagen des Rechts der verbundenen Unternehmen
  • § 1 Die Konzerngefahr
  • A. Die Begriffe „Konzern“ und „verbundene Unternehmen“ im Aktiengesetz
  • B. Die Konzerngefahr im Spannungsfeld zwischen Schutzzweck- und Konzernorganisationslehre
  • C. Grundzüge der Leitungsmacht in der normtypischen AG und im Unternehmensverbund
  • D. Überblick: Die Reaktion auf die Konzerngefahr durch das Aktiengesetz
  • I. Die Rechtslage im „Vertragskonzern“
  • II. Die Rechtslage im „faktischen Konzern“
  • E. Resümee
  • § 2 Historische Entwicklung des Konzernrechts
  • A. Die Rechtslage vor 1937
  • B. Das Aktiengesetz vom 30. Januar 1937
  • C. Das Aktiengesetz vom 6. September 1965
  • I. Der Referentenentwurf eines Aktiengesetzes vom 7. Oktober 1958
  • II. Der Regierungsentwurf eines Aktiengesetzes vom 13. Juni 1960
  • III. Reaktionen auf den Regierungsentwurf und endgültige Fassung im Aktiengesetz vom 6. September 1965
  • D. Neuere Gesetzgebungstendenzen und Einfluss des Europarechts
  • E. Resümee
  • 2. Kapitel: Nachteil, Ausgleich und Schadensersatz im Sinne der §§ 311 ff. AktG
  • § 3 Der Nachteilsbegriff des § 311 AktG und daran anknüpfende dogmatische Überlegungen
  • A. Ursache für das Anknüpfen an einen Nachteil im Rahmen der Schadensersatzhaftung
  • B. Unterscheidung von im Regelungszusammenhang benutzten Termini zur Konkretisierung des Nachteilsbegriffs
  • I. Das Begriffspaar „Nachteil“ und „Schaden“ sowie Auswirkungen auf den „Ausgleich“
  • 1. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung des Nachteils
  • 2. Determinierung des „Ausgleichs“ durch den „Nachteil“
  • a) Meinungsstand
  • b) Stellungnahme
  • c) Ergebnis
  • 3. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung des Schadens und die Relevanz des Nachteils zu diesem Zeitpunkt
  • a) Kein Schaden ohne Nachteil im jeweils relevanten Zeitpunkt
  • b) Anerkennung eines Mindestschadens in Höhe des Nachteils?
  • aa) Meinungsstand
  • bb) Stellungnahme
  • 4. Ergebnis
  • II. Das Begriffspaar „Nachteil“ und „Verlust“
  • III. Zwischenresümee
  • C. Die Bestimmung des Nachteils im Sinne von § 311 AktG und die Relevanz von § 317 Abs. 2 AktG
  • I. Meinungsstand
  • II. Stellungnahme
  • 1. Relevanz des Meinungsstreits
  • 2. Auslegung der relevanten Normen
  • a) Auslegung anhand des Wortlauts
  • b) Auslegung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und ihre Relevanz
  • aa) Historische Auslegung
  • bb) Relevanz der Auslegung anhand der Gesetzgebungshistorie
  • c) Auslegung anhand der systematischen Stellung der Normen und ihres Regelungszusammenhanges
  • aa) Der Regelungszusammenhang
  • bb) Zur Normstruktur im Vergleich zu §§ 93, 309 AktG
  • d) Auslegung nach Sinn und Zweck
  • aa) Überwinden der fehlenden Organbeziehung
  • bb) Verschuldenshaftung nach § 317 Abs. 1 und Abs. 3 AktG
  • cc) Zum Verständnis von § 317 Abs. 2 AktG als „Doppeltatbestand“
  • dd) Zur Haftung wegen „negotiorum gestio“
  • (1) Verantwortlichkeit für aktives Tätigwerden
  • (2) Verantwortlichkeit für Unterlassen
  • (3) Zwischenergebnis
  • e) Konsequenzen der Einordnung als verschuldensabhängige Haftung
  • aa) Auswirkungen des Ergebnisses auf den Inhalt des Abhängigkeitsberichts
  • bb) Berücksichtigung von Mitverschulden oder Verweis auf Innenausgleich der Gesamtschuldner?
  • (1) Haftungssystematische und teleologische Erwägungen
  • (2) Rechtsmethodische Erwägungen
  • (3) Zwischenergebnis
  • cc) Beachtlichkeit schuldausschließender Rechtsirrtümer
  • dd) Zwischenresümee
  • f) Keine der Auslegung entgegenstehenden materiellen Wertungsgesichtspunkte
  • aa) Materieller Schutz der abhängigen Gesellschaft trotz formell weitergehenden Nachteilsverständnisses gewahrt
  • bb) Trennung von Nachteil und Bewertung des dazu führenden Verhaltens
  • cc) Exemplifizierung des objektiven Nachteilsverständnisses
  • g) Keine der Auslegung entgegenstehenden rechtsmethodischen Bedenken
  • 3. Ergebnis
  • D. Resümee
  • § 4 Der Ausgleich nach § 311 Abs. 2 AktG
  • A. Grenzen der Suspendierung des Ausgleichs
  • I. Meinungsstand
  • II. Stellungnahme
  • 1. Auslegung anhand des Wortlauts
  • 2. Auslegung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte
  • 3. Auslegung anhand der systematischen Stellung der Normen und ihres Regelungszusammenhanges
  • 4. Auslegung nach Sinn und Zweck
  • a) Normzweck von § 311 Abs. 2 AktG
  • b) Die Pflichtenbindung des Vorstands der abhängigen AG
  • c) Ergebnis
  • III. Zwischenresümee
  • B. Inhalt und Modalitäten des Nachteilsausgleichs
  • I. Einseitige Festlegung oder Ausgleichsvereinbarung?
  • II. Auswirkungen der Exkulpationsmöglichkeit auf den Ausgleich
  • 1. Entfallen der Ausgleichspflicht
  • 2. Leistungsstörungen
  • III. Der Grundsatz der notwendigen Quantifizierbarkeit
  • C. Dogmatische Qualifikation des § 311 Abs. 2 AktG
  • I. Meinungsstand
  • II. Stellungnahme
  • 1. Pflichten und Obliegenheiten
  • a) Begriffsbestimmung
  • b) Anwendung auf § 311 Abs. 2 AktG
  • aa) Zum „Suspensivelement des Schädigungsverbots“
  • bb) Die Klagbarkeit als Abgrenzungsmerkmal
  • cc) Auslegung anhand des Normzwecks
  • (1) Zur Einordnung als Leistungspflicht
  • (2) Zur Einordnung als Obliegenheit
  • (3) Zur Einordnung als Rücksichtnahmepflicht
  • c) Kohärenz mit der obigen Einordnung als Folgepflicht der Geschäftsführung ohne Auftrag
  • d) Klagbarkeit als Folge des Pflichtenverständnisses
  • e) Ergebnis
  • 2. Folgerungen für die dogmatische Qualifikation von § 311 Abs. 2 AktG
  • a) Zur Leistung des Ausgleichs auf den Schadensersatzanspruch
  • b) Zur pflichtwidrigen Geschäftsleitung
  • 3. Rechtsgrund der Rücksichtnahmepflicht
  • III. Ergebnis
  • D. Resümee
  • § 5 Pflichtenpluralismus, der zu ersetzende Schaden und der „innere Haftungsgrund“
  • A. Meinungsstand
  • B. Stellungnahme
  • I. Keine universelle Maßgeblichkeit der Veranlassung
  • 1. Notwendigkeit einer Pflichtwidrigkeit zum Zeitpunkt der Veranlassung
  • 2. Der Wortlaut von § 317 Abs. 3 AktG
  • a) Bezugnahme auf die veranlassenden Personen
  • b) Historisch bedingte Ungenauigkeit des Wortlautes?
  • c) § 317 Abs. 3 AktG vor dem Hintergrund der Haftung wegen fremdnütziger Geschäftsführung
  • 3. Zur Frage der Überlagerung des Verbandszwecks
  • 4. Zwischenergebnis
  • II. Kein universelles Abstellen auf das Ausbleiben des Ausgleichs
  • 1. Rechtswidrigkeit bei Veranlassung
  • 2. Die Anerkennung präventiven Rechtsschutzes
  • 3. Zwischenergebnis
  • III. Die Frage nach der Pflichtwidrigkeit bei Insuffizienz des zeitgleich mit der Veranlassung gewährten Ausgleichs
  • IV. Die Frage nach der Pflichtwidrigkeit bei zulässiger Suspendierung und Ausbleiben des Ausgleichs
  • 1. Entstehen einer Schwebelage mit Veranlassung
  • 2. Kritik an der Konstruktion eines Schwebezustands
  • 3. Zwischenergebnis
  • V. Die Frage nach der Pflichtwidrigkeit bei zulässiger Suspendierung und Insuffizienz des Ausgleichs
  • C. Resümee
  • 3. Kapitel: Unbezifferte Nachteile und unbezifferter Nachteilsausgleich
  • § 6 Ökonomische Hintergründe der unbezifferte Nachteile hervorrufenden Geschäftsleitungsmaßnahmen
  • § 7 Die Problematik der Bezifferung
  • A. Existenz von Marktpreisen
  • B. Preisfindung im Übrigen
  • I. Methoden zur Annäherung an Marktpreise
  • II. Sonderfall: Unternehmensbewertung
  • C. Resümee
  • § 8 Unbezifferte Nachteile und ihr Ausgleich in der Rechtsprechung
  • A. 3. Börsengang der Deutschen Telekom AG
  • I. LG Bonn, Urteil vom 1. Juni 2007 – 1 O 552/05
  • II. OLG Köln, Urteil vom 28. Mai 2009 – 18 U 108/07
  • III. BGH, Urteil vom 31. Mai 2011 – II ZR 141/09
  • IV. Zwischenresümee
  • B. Verkauf des Osteuropageschäfts der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG an die UniCredito Italiano S.p.A.
  • I. LG München I, Urteil vom 10. Dezember 2009 – 5 HK O 13261/08
  • II. OLG München, Urteil vom 22. Dezember 2010 – 7 U 1584/10
  • III. BGH, Urteil vom 26. Juni 2012 – II ZR 30/11
  • IV. Zwischenresümee
  • C. Resümee
  • § 9 Unbezifferte Nachteile und ihr Ausgleich in der Literatur
  • A. Übernahme unbezifferter Nachteile
  • I. Grundsätzliche Unzulässigkeit
  • II. Ausnahmsweise Zulässigkeit bei Ausgleichsfähigkeit
  • III. Präventiver Nachteilsausgleich durch bedingte Ausgleichsgewährung
  • B. Resümee
  • § 10 Stellungnahme zum unbezifferten Nachteilsausgleich
  • A. Zur Existenz unbezifferter Nachteile und der Auswirkungen der ihnen inhärenten Imponderabilität
  • B. Ungewisse Nachteile und Präzisierung der Begriffe „Nachteil“ und „Risiko“ durch Bildung von Fallgruppen
  • I. Entstehung und Höhe eines Nachteils „objektiv unklar“ (1. Fallgruppe)
  • 1. Die „konkrete Gefährdung“ als Nachteil
  • a) Ziel: Schutz der Vermögens- und Ertragslage der abhängigen AG
  • b) Unterscheidung von „konkreter“ und „abstrakter“ Gefährdung?
  • c) Überlegungen zum strafrechtlichen Gefährdungsschaden
  • aa) Überblick im Zusammenhang mit §§ 263, 266 StGB
  • bb) Übertragung auf § 311 AktG
  • d) Nachteilsbegründende Vermögensgefährdung als Abgrenzungskriterium
  • e) Zwischenergebnis
  • 2. Bezifferung des Risikos aufgrund nachteilsbegründender Vermögensgefährdung
  • a) Rückgriff auf Prinzipien zur bilanziellen Rückstellungsbildung bei „ungewissen Verbindlichkeiten“?
  • aa) Der Begriff der „ungewissen Verbindlichkeit“
  • bb) Die Bemessung der Rückstellungen für „ungewisse Verbindlichkeiten“
  • b) Übertragung der bilanziellen Erkenntnisse auf die Bezifferungsproblematik im Rahmen von § 311 AktG
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnis
  • II. Entstehung eines Nachteils „objektiv unklar“ (2. Fallgruppe)
  • 1. Behandlung im Bilanzrecht
  • 2. Übertragung der Überlegungen auf § 311 AktG
  • 3. Ergebnis
  • III. Höhe eines Nachteils „objektiv unklar“ (3. Fallgruppe)
  • IV. Subjektive Ungewissheit (4. Fallgruppe)
  • V. Zwischenresümee
  • C. Unbezifferter Nachteilsausgleich
  • I. Denkbare Ausgleichsszenarien
  • II. Ausgleich dem Grund und der Höhe nach ungewisser Nachteile (1. Fallgruppe)
  • 1. Lösungsmöglichkeiten
  • 2. Grundsätzliche Ausgleichsfähigkeit
  • 3. Praktische Umsetzung des Nachteilsausgleichs
  • a) Ausgleich durch Risikoeliminierung
  • b) Ausgleich durch Kompensation mittels unbezifferter Vorteile
  • aa) Kein äquivalenter Schutz der abhängigen AG
  • bb) Auswirkungen von § 317 Abs. 2 AktG
  • cc) Zwischenergebnis
  • c) Ergebnis
  • III. Ausgleich bei „objektiv unklarer“ Nachteilsentstehung (2. Fallgruppe)
  • 1. Ausgleich durch Vollkompensation aller potenziellen Beeinträchtigungen
  • 2. Ausgleich durch Risikoeliminierung
  • 3. Ergebnis
  • IV. Ausgleich bei „objektiv unklarer“ Nachteilshöhe (3. Fallgruppe)
  • 1. Bezifferbarkeit im Laufe des Geschäftsjahres erwartet
  • 2. Keine Bezifferung bis zum Ende des Geschäftsjahres zu erwarten
  • a) Unzulässigkeit der Ausgleichssuspendierung
  • b) Verpflichtung zum späteren Nachteilsausgleich
  • aa) Lösungsmöglichkeiten
  • bb) Kritische Würdigung
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnis
  • V. Unbezifferter Ausgleich bezifferbarer Nachteile wegen subjektiver Ungewissheit (4. Fallgruppe)
  • 1. Bezifferter Nachteilsausgleich
  • 2. Möglichkeit des unbezifferten Nachteilsausgleichs
  • a) Problematik
  • b) Lösungsmöglichkeiten
  • c) Stellungnahme
  • aa) Voraussetzungen der Ausgleichssuspendierung
  • bb) Bedingte Nachteilsfeststellung
  • cc) Insbesondere: Entscheidung eines Gerichts über das Bestehen und den Umfang eines Nachteils
  • dd) Relevanz von § 317 Abs. 2 AktG
  • 3. Zwischenergebnis
  • VI. Ergebnis
  • D. Kohärenz der Entscheidungspraxis des BGH
  • E. Resümee
  • § 11 Fazit
  • Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

| 21 →

Einleitung: Problemstellung und Untersuchungsgegenstand

50 Jahre nach Erlass der Regelungen über verbundene Unternehmen und die Verantwortlichkeit bei Fehlen eines Beherrschungsvertrages (§§ 311 ff. AktG) ist das Recht des sogenannten „faktischen Konzerns“ weiterhin nur selten Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Gleichwohl widmet das rechtswissenschaftliche Schrifttum diesem Themenkomplex nach wie vor hohe Aufmerksamkeit, was in Anbetracht seiner enormen praktischen Relevanz nicht verwundert. Weil eine Vielzahl der deutschen Aktiengesellschaften in einen Unternehmensverbund integriert ist und steuerrechtlich dem Abschluss eines Beherrschungsvertrages nicht mehr die vormalige Bedeutung zukommt, wird bereits der „Abschied vom Vertragskonzern“ und die „Renaissance des faktischen Konzerns“ ausgerufen.1

In dieses Bild fügen sich die Entscheidungen mehrerer Gerichte betreffend die Verantwortlichkeit eines faktisch über eine AG herrschenden Unternehmens ein.2 Die Konzerngeschäftsleiter betreiben, ohne dass ein Beherrschungsvertrag abgeschlossen worden ist, Konzernpolitik und leiten den Unternehmensverbund im Sinne der von ihnen festgelegten Konzernstrategie, was die Vollziehung von Umsetzungsmaßnahmen auf Ebene faktischer abhängiger Unternehmen erforderlich macht. Das Risiko der Benachteiligung von abhängigen Unternehmen ist bekannt, und um nicht in die Haftung zu geraten, werden Nachteilsausgleichsvereinbarungen geschlossen, die sicherstellen sollen, dass eine den Anforderungen der §§ 311 ff. AktG entsprechende Kompensation erfolgt. Dies stellt sich insofern als problematisch dar, als dass einer abhängigen AG durch teilweise strukturändernde Maßnahmen möglicherweise nicht bezifferbare Nachteile auferlegt werden, deren Zulässigkeit fraglich ist, weil kein bezifferter Ausgleich erfolgen kann. Ein Ausweg könnte in der Anerkennung nicht quantifizierter Ausgleichsleistungen liegen.

Während der II. Zivilsenat des BGH in einer Entscheidung einen solchen unbezifferten Nachteilsausgleich anerkannt hätte,3 lehnten die selben Richter 13 Monate später eine unbezifferte Ausgleichsgestaltung als nicht zulässig ab.4 Im Schrifttum ← 21 | 22 → herrscht keine Einigkeit, ob überhaupt und wenn ja, in welchen Fällen und auf welche Art und Weise, ein Ausgleich von nicht bezifferten Nachteilen in Betracht kommt.5

Damit gerät das faktische Aktienkonzernrecht in das Blickfeld gleichsam von Rechtsprechung, Rechtswissenschaft und gesellschaftsrechtlich beratenden Rechtsanwälten. Die Beratungspraxis wird vor die Aufgabe gestellt, den Geschäftsleitern Wege aufzuzeigen, wie sie einen Unternehmensverbund leiten und konzernintegrative Maßnahmen unter Vermeidung von Ersatzansprüchen durchführen können, ohne dass der Abschluss eines Beherrschungsvertrages notwendig wäre.

Dabei handelt es sich um eine Rechtsfrage, die sich von derjenigen unterscheidet, die unter dem Stichwort „qualifiziert faktischer“ Konzern bis heute diskutiert wird.6 Inhaltlich geht es in jenem Zusammenhang um die als unmöglich propagierte Nachteilsfeststellung wegen nicht mehr isolierbarer Einzelmaßnahmen im faktischen Unternehmensverbund aufgrund zu hoher Leitungsdichte. Im hier zu untersuchenden Kontext hingegen sollen individuell isolierbare Geschäftsvorfälle im Mittelpunkt stehen. Die Ursache der bestehenden Unsicherheit hinsichtlich der Quantifizierung von Nachteilen rührt also nicht daher, dass die Zuordnung von Nachteilen zu einzelnen Leitungsmaßnahmen misslingt, sondern daher, dass die in Frage stehenden singulären Maßnahmen eine so große Komplexität und prognostische Unsicherheit bezüglich ihrer vermögensrelevanten Auswirkungen in sich tragen, dass sie für sich betrachtet das Funktionieren der §§ 311 ff. AktG auf die Probe stellen.

Zur einzelfallbezogenen Quantifizierung eines Nachteils wird im Rahmen dieser Studie auf betriebswirtschaftliche Kalkulationsprinzipien Bezug genommen.7 Aufgrund des juristischen Schwerpunktes und der Vielzahl der in Betracht kommenden Sachverhaltskonstellationen werden nur einige der relevanten Methoden genannt. Auf die eingehende Darstellung der Funktionsweise wird ebenso verzichtet wie auf die Prüfung der Geeignetheit, im Einzelfall eine Quantifizierung durch methodengerechte Annäherung an einen Marktpreis zu erreichen. Im Vordergrund soll die rechtliche Frage der Ausgleichsfähigkeit nicht quantifizierter Nachteile stehen. Aus dem gleichen Grunde bleiben auch einige Problemkreise, die im Zusammenhang mit dem Ausgleich unbezifferter Nachteile diskutiert werden, ausgespart. Dazu gehören etwa die mitunter breit diskutierten Tatbestandsmerkmale der §§ 311, 317 AktG, die nicht unmittelbar den Nachteilsausgleich und die dafür wesentlichen Merkmale Nachteil, Ausgleich und Schaden betreffen. Hierzu sei auf die umfangreichen Kommentierungen zum Aktienkonzernrecht verwiesen. Auch das Konkurrenzverhältnis der §§ 311 ff. AktG zu anderen aktienrechtlichen Instituten, wie dem Beschlussmängel- oder Kapitalerhaltungsrecht, wird nur kursorisch angesprochen. Im Hinblick ← 22 | 23 → auf den Gegenstand dieser Arbeit, der in der Darstellung der Dogmatik der Haftung und der Grenzen des unbezifferten Nachteilsausgleichs liegt, würde eine eingehende Befassung mit weiteren Aspekten, die den Schutz der abhängigen AG betreffen, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.

Die Auseinandersetzung mit der Problematik des Ausgleichs unbezifferter Nachteile soll auf der Darstellung der Dogmatik der Haftung im faktischen Aktienkonzern basieren. Hierzu werden zunächst die historischen wie systematischen Grundlagen des Aktienkonzernrechts aufgearbeitet (1. Kapitel). Sodann erfolgt eine eingehende Würdigung der elementaren Tatbestandsmerkmale Nachteil, Ausgleich und Schaden im Sinne von §§ 311 ff. AktG (2. Kapitel), denn im Schrifttum herrscht keine Einigkeit, wie der Rechtsgrund der Verantwortlichkeit und insbesondere der im Mittelpunkt stehende Nachteilsbegriff zu verstehen und haftungsdogmatisch einzuordnen sind. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des Haftungsregimes bei Fehlen eines Beherrschungsvertrages erfolgt eine darauf aufbauende Befassung mit den auch in den neueren Entscheidungen des BGH aufgetretenen Problemen des unbezifferten Nachteilsausgleichs, wobei sich zeigen wird, dass die dogmatische Erfassung der Verantwortlichkeit auch die Grenzen der Ausgleichsmodalitäten determiniert (3. Kapitel).


1 Hommelhoff/Lächler, AG 2014, 257, 263 f.; vgl. zum Wegfall des Erfordernisses eines Beherrschungsvertrages zur Erzielung steuerrechtlicher Organschaft Emmerich, in Emmerich/Habersack, § 291 Rn. 5 f.

2 Vgl. etwa BGH, Urteil vom 31. Mai 2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7 sowie BGH, Urteil vom 26. Juni 2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753.

3 BGH, Urteil vom 31. Mai 2011 – II ZR 141/09, BGHZ 190, 7, 16–18 Tz. 24–27.

4 BGH, Urteil vom 26. Juni 2012 – II ZR 30/11, ZIP 2012, 1753, 1756 Tz. 22–25.

5 Tendenziell großzügig bezüglich der Legitimität des Ausgleich unbezifferter Nachteile etwa Wirth, in Liber Amicorum M. Winter, S. 775, 780 f.; Arnold/Gärtner, in FS Stilz, S. 7, 17–20; zurückhaltend hingegen H.-F. Müller, in Spindler/Stilz, § 311 Rn. 52; ders., in FS Stilz, S. 427, 436 f.; eingehend zum Schrifttum unter § 9.

6 Jüngst monografisch Nitsche, Nachteilszufügungen, passim; vgl. zur Frage der Relevanz des „qualifiziert faktischen“ Aktienkonzerns auch die Nachweise in Fn. 796.

7 Hierzu unter § 7.

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1. Kapitel: Grundlagen des Rechts der verbundenen Unternehmen

§ 1 Die Konzerngefahr

A. Die Begriffe „Konzern“ und „verbundene Unternehmen“ im Aktiengesetz

Nach der rechtsformneutralen Definition in § 18 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AktG stellt der Konzern eine Unternehmensgruppe dar, die sich dadurch auszeichnet, dass ein Unternehmen8 eines oder mehrere andere Unternehmen einheitlich leitet. Damit stellt jene Norm im Ersten Buch des Aktiengesetzes das Bindeglied zwischen dem Recht der verbundenen Unternehmen, das im Dritten Buch mit Regelungen bedacht worden ist, und dem sogenannten Konzernrecht dar.

Es ist dies das Konzernrecht, das Gegenstand unzähliger rechtswissenschaftlicher ebenso wie betriebswirtschaftlicher Publikationen ist, obschon es nur einen ← 25 | 26 → Teilbereich des Rechts der verbundenen Unternehmen darstellt. Mittelpunkt der Diskussion ist das Konzernrecht gleichwohl nicht ohne Grund. Die Ursache liegt in den weiteren Sätzen von § 18 Abs. 1 AktG, die dazu führen, dass verbundene Unternehmen sehr häufig auch Konzernunternehmen sind. Nach Satz 2 wird unwiderlegbar vermutet,9 dass ein Konzern besteht, wenn ein Beherrschungsvertrag abgeschlossen oder ein Unternehmen in das andere eingegliedert ist. Für die Praxis ist Satz 3 von noch größerer Bedeutung, da auch im Falle der Abhängigkeit eine – im Unterschied zu Satz 2 widerlegbare10 – Vermutung normiert ist. Wann ein Unternehmen von einem anderen abhängig ist, kann §§ 16 und 17 AktG entnommen werden. Nach § 17 Abs. 1 AktG bedarf es dazu des beherrschenden Einflusses eines Unternehmens auf ein anderes. § 17 Abs. 2 AktG vermutet, dass ein in Mehrheitsbesitz stehendes Unternehmen von dem an ihm mit Mehrheit beteiligten Unternehmen abhängig ist, wobei nach § 16 Abs. 4 AktG auch mittelbarer Anteilsbesitz berücksichtigt wird.

Die sogenannte Konzernvermutung ergibt sich folglich – für den Fall, dass kein Beherrschungsvertrag abgeschlossen worden und eine Gesellschaft nicht eingegliedert worden ist – aus §§ 16 Abs. 1 und Abs. 4, 17, 18 Abs. 1 Satz 3 AktG, besteht also aus zwei Vermutungen, die der Abhängigkeit nach § 17 Abs. 2 AktG und die der Konzernierung nach § 18 Abs. 1 Satz 3 AktG. Beide Vermutungen können widerlegt werden,11 was in der Praxis offenbar selten gelingt.12

Es gilt zu bedenken, dass für die den Gegenstand dieser Untersuchung bildenden §§ 311 ff. AktG das Vorhandensein eines Konzerns und damit die Vermutung des § 18 ← 26 | 27 → Abs. 1 Satz 3 AktG keine Rolle spielen, obgleich in diesem Zusammenhang meist vom Recht des „faktischen Konzerns“ gesprochen und geschrieben wird. §§ 311 ff. AktG sind anwendbar, sobald eine AG oder eine Kommanditgesellschaft auf Aktien von einem Unternehmen abhängig ist. Diesen Rechtsträgern gleichgestellt ist die Societas Europaea mit Satzungssitz in Deutschland,13 auch wenn fortan nur die abhängige AG erwähnt wird. Die Anwendbarkeit auf eine abhängige GmbH wird hinsichtlich des Nachteilsausgleichssystems heute nicht mehr vertreten.14

Nur wenn beide Vermutungen eingreifen, liegt auch ein (Unterordnungs-)Konzern vor, so dass nur dann von einem „faktischen Konzern“ im Gegensatz zum ← 27 | 28 → Vertrags- und Eingliederungskonzern gesprochen werden sollte.15 Aus Gründen der einfacheren Darstellung und einheitlichen Terminologie sollen jedoch im Rahmen dieser Abhandlung mit „faktischer Konzern“ bezeichnete Unternehmensverbindungen auch solche sein, die nicht einheitlich geleitet werden – inwiefern bei diesen Unternehmensverbindungen Probleme um die Nachteilszufügung und ihres Ausgleichs entstehen, sei dahingestellt.

B. Die Konzerngefahr im Spannungsfeld zwischen Schutzzweck- und Konzernorganisationslehre

Das Konzernrecht intendiert eine Konfliktlösung zu unternehmen, der es im Falle der Unabhängigkeit einer Gesellschaft nicht bedarf. Es handelt sich um ein rechtsformneutrales Problem, das sich im Falle der AG in spezifischer Weise aktualisiert, ist die AG doch ein klassischerweise als Publikumsgesellschaft ausgestalteter Verband, der durch einen erhöhten Streubesitz seiner Anteile geprägt ist.16 Veranschaulichend ist die Bezeichnung als Société Anonyme in verschiedenen französischsprachigen Ländern, der die Zusammenhanglosigkeit der Verbandsmitglieder verdeutlicht.17 Der Tendenz zur Unternehmenskonzentration18 muss bei der AG deshalb auf besondere Art und Weise begegnet werden.

Die Reaktion des Gesetzgebers folgte dementsprechend durch Implementierung von Spezialvorschriften, die die Regelungen zur normtypischen AG ergänzen. Normtypisch ist eine AG, die das Aktiengesetz primär im Auge hat, deshalb, weil eine Unternehmensverbindung im Sinne der §§ 15 ff., 291 ff., 311 ff. AktG nicht besteht. Die Gesellschaft ist „eigenständig“ und damit „nicht verbunden“ im Sinne des Aktiengesetzes, wenn und weil sie sich aufgrund ihres eigenen Willens betätigt und eigene Interessen verfolgt.19 Prononciert zu Tage tritt dieser Befund bei der Betrachtung der Unabhängigkeit des Vorstands der AG im Vergleich zur Rechtsstellung der Geschäftsleiter von Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Personengesellschaften. Während Letztere in erheblichem Maße den Einwirkungsrechten der Gesellschafter unterliegen, welche im Wesentlichen die Geschicke der Gesellschaft bestimmen, soll der Vorstand der AG frei von jeglicher Einflussnahme entscheiden können (§ 76 AktG).20 ← 28 | 29 →

Details

Seiten
282
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631696750
ISBN (PDF)
9783653065275
ISBN (MOBI)
9783631696743
ISBN (Paperback)
9783631671597
DOI
10.3726/978-3-653-06527-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Konzerngeschäftsleiter Negotiorum gestio Konzernrecht Culpa Haftung Verbundene Unternehmen Geschäftsleiterhaftung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 282 S.

Biographische Angaben

Stephan Hufnagel (Autor:in)

Stephan Hufnagel studierte Rechtswissenschaft an der Universität Passau, wo er auch promoviert wurde. Er ist als Rechtsanwalt tätig.

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