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Phonologische Diversität - Wechselbeziehungen zwischen Phonologie, Morphologie und Syntax

von Emmerich Kelih (Autor:in)
©2016 Monographie 272 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor untersucht Wechselbeziehungen zwischen dem Phoneminventarumfang und phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Eigenschaften. Der Phoneminventarumfang gilt als quantitativer Gradmesser für phonologische Komplexität. Diese hängt mit Fragen der Sprachökonomie, Kompensationstheorien und Selbstregulation sprachlicher Systeme zusammen. Nach einer kritischen Neubewertung derartiger Wechselbeziehungen plädiert er für eine statistische Modellierung, die konzeptuell auf synergetischen Sprachtheorien beruht. Die empirische Analyse slawischer Sprachen zeigt eine vorrangige Wirkung des Phoneminventarumfangs auf die phonologische Ebene selbst und eine multidirektionale Beeinflussung anderer sprachlicher Ebenen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Linguistische Relevanz des Phoneminventarumfangs
  • 2.1 Phoneminventarumfang und Sprecherzahl: Zusammenhänge?
  • 2.2 Beschränkungen von Phoneminventaren: Erklärungsversuche
  • 2.2.1 Exkurs: Merkmal- vs. inventarbasierte Ansätze
  • 2.3 Universalienforschung: Häufigkeit von Inventarumfängen
  • 2.4 Zusammenfassung
  • 3. Wechselbeziehungen des Phoneminventarumfangs
  • 3.1 Segmentale Eigenschaften und Merkmale
  • 3.1.1 Anzahl von Vokalen und Konsonanten im Phonemsystem
  • 3.1.2 Häufigkeit von Vokalen und Konsonanten: System vs. Text
  • 3.1.3 Phonemhäufigkeiten und Wiederholungsrate
  • 3.1.4 Zwischenbilanz (1)
  • 3.1.5 Phonemkombinatorik und Ausnutzungsgrad: Quantitative Aspekte
  • 3.1.6 Silbenstrukturelle Merkmale
  • 3.1.7 Zwischenbilanz (2)
  • 3.2 Suprasegmentale Eigenschaften und Merkmale
  • 3.2.1 Wechselbeziehungen des Akzents
  • 3.2.2 Implikationen
  • 3.2.3 Holistische Ansätze
  • 3.2.4 Typologische Ansätze
  • 3.2.5 Zwischenbilanz (3)
  • 3.3 Morphologische Eigenschaften und Merkmale
  • 3.3.1 Kleines Phoneminventar – lange Morpheme?
  • 3.3.2 Ein Experiment: Phoneminventar, Morphemlänge und Morphemtypen
  • 3.3.3 Morpheminventar, Allomorphie und Morphemlänge
  • 3.4 Von der Wirkkraft der sprachlichen Ökonomie
  • 3.4.1 Sprachökonomie: Paradigmatische und syntagmatische Aspekte
  • 3.5 Synergetische Aspekte: Grundlagen
  • 3.5.1 Phoneminventar – Länge sprachlicher Einheiten: Synergetische Aspekte (1)
  • 3.5.2 Ähnlichkeit, Distinktivität, Ambiguität: Synergetische Aspekte (2)
  • 3.6 Kompensation und linguistische Komplexität
  • 3.6.1 Kompensation: Grundlegendes und Fallbeispiele
  • 3.6.2 Linguistische Komplexität: Allgemeines
  • 3.6.3 Kompensation der linguistischen Komplexität: Fallbeispiel Phoneminventar
  • 3.6.4 Kritische Abschlussbemerkungen zur Kompensation und zur Komplexität
  • 3.7 Semantische Eigenschaften – Ein integrativer Ansatz
  • 4. Wechselbeziehungen: Vom Modell zur Beobachtung
  • 4.1 Terminologisches: Linguistische Wechselbeziehungen
  • 4.2 Beschreibung und Modellierung linguistischer Wechselbeziehungen
  • 4.2.1 Statistische Korrelationen und Regressionsmodelle
  • 4.2.2 Theoretische Modellierung: Ein nichtlinearer Ansatz
  • 4.2.3 Axiome und Voraussetzungen einer Modellierung
  • 5. Interagierende Eigenschaften: Phoneminventar – Wortlänge
  • 5.1 Einleitung
  • 5.2 Empirische Evidenz aus den Sprachen der Welt
  • 5.3 Klärung von Randbedingungen der Untersuchung von slawischen Sprachen
  • 5.3.1 Bestimmung des Phoneminventars
  • 5.3.2 Prinzipien der Transkription
  • 5.3.3 Wortlänge im slawischen Basiswortschatz (Swadesh-Liste)
  • 5.3.4 Wortlänge in slawischen Paralleltexten
  • 5.4 Abschließender empirischer Befund
  • 6. Zusammenfassung und Perspektiven
  • 7. Literaturverzeichnis
  • 8. Abbildungsverzeichnis
  • 9. Tabellenverzeichnis
  • 10. Autorenregister
  • 11. Sachregister

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Vorwort

In der gegenwärtigen linguistischen Literatur ist eine lebendige Diskussion über die Bedeutung des Phoneminventars entbrannt. Insbesondere geht es um die linguistische Relevanz, die der Anzahl von Phonemen über die eine Sprache verfügt, zugesprochen werden kann. Aus vergleichenden typologischen Untersuchungen ist – die theoretischen Fragen und Probleme der Bestimmung eines Phoneminventars sind einstweilen auszublenden – eine erstaunliche Diversifikation in dieser Hinsicht bekannt: Natürliche Sprachen sind sowohl mit 13 Phonemen als auch mit über 120 Phonemen vollkommen funktional und stellen für die menschliche Sprachverarbeitung keine kognitive Hürde dar. In allen Fällen dienen die Phoneme als grundlegende Bausteine für die Bildung von sprachlichen Einheiten (wie z. B. Silben, Morphemen, Wortformen, Sememen u. Ä.). Das gilt für Sprachen mit relativ wenigen Phonemen genauso wie für Sprachen, die über eine hohe Anzahl von Phonemen verfügen. Im Kontext von Sprachursprungstheorien und der anthropologischen Linguistik wird gegenwärtig die Frage intensiv diskutiert, ob die Anzahl von Phonemen pro Sprache in irgendeiner Weise mit extralinguistischen Faktoren zusammenhängt. Im Konkreten geht es darum, ob z. B. der Phoneminventarumfang einer Sprache mit der jeweiligen Anzahl von Sprechern in einer wechselseitigen Beziehung steht – eine Diskussion, die nicht nur im engen linguistischen Kreis stattfindet, sondern mittlerweile auch die Leser von Science erreicht hat. Die genauen Hintergründe dieser Diskussion, die auf eine Wechselbeziehung von inner- und extralinguistischen Faktoren hinausläuft, werden einleitend nachzuzeichnen sein. Gleichzeitig ist aber die Diskussion auch der Ausgangspunkt für die eigentliche Frage- und Problemstellung, die im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht: Welche Wechselbeziehungen lassen sich ausgehend vom Phoneminventarumfang zu weiteren sprachlichen Merkmalen und Eigenschaften herleiten? Oder anders gefragt: Determiniert die Anzahl von Phonemen phonologische, silbenstrukturelle, morphologische, morphosyntaktische und lexiko-semantische Merkmale einer Sprache? Tendieren eventuell Sprachen mit einem geringen Phoneminventar zu einer bestimmten Art von Silbenstruktur? Kommen Sprachen mit einem hohen Inventar vielleicht mit relativ kurzen Morphemen aus? Hängt der (im Idealfall quantitativ charakterisierbare) morphologische Typus einer Sprache mit den grundlegenden Merkmalen des Phonemsystems zusammen? Welche Rolle spielt der Akzent als eine zentrale suprasegmentale Eigenschaft in dem skizzierten Beziehungsgeflecht? ← 11 | 12 → Die Frage derartiger Wechselbeziehungen – in der gegenwärtigen typologischen Literatur wird in diesem Zusammenhang auch von Ko-Varianz gesprochen, d. h. vom Zusammenspiel und dem gegenseitigen Einfluss von unterschiedlichen linguistischen Merkmalen und Eigenschaften auf den unterschiedlichen Ebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexik, Semantik) bzw. zwischen ihnen – steht seit Langem im Fokus der Sprachwissenschaft. Die Einführung strukturalistischer Denkschemata in die Linguistik führte vordergründig zur Überwindung einer bloßen Beschreibung (als isoliert verstandener) sprachlicher Einheiten und Ebenen, denn es wurde erkannt, dass Einzelteile noch kein funktionierendes Gesamtsystem ergeben. Aber gerade deshalb sind holistische Ansätze (die das „Ganze“ vor Augen haben) von besonderer Bedeutung für das Verstehen des Funktionierens sprachlicher Systeme. Erinnert sei an dieser Stelle an die grundsätzlichen „holistischen“ Überlegungen eines der Pioniere der modernen Sprachwissenschaft und Typologie Georg von der Gabelentz oder aber an die Arbeiten des Prager Typologen Vladimír Skalička. Beide Sprachwissenschaftler, deren Arbeiten und Überlegungen zeitweise fast in Vergessenheit gerieten, rückten Zusammenhänge, Verbindungen, Wechselwirkungen, gegenseitige Abhängigkeiten und wechselseitig bedingte Einflüsse, kurz gesagt Wechselbeziehungen zwischen sprachlichen Eigenschaften und Merkmalen, in den Fokus der modernen Sprachwissenschaft. Im Anschluss an diese älteren Ansätze wurden in den letzten Jahrzehnten darüber hinaus in der quantitativen und synergetischen Linguistik methodologische Ansätze entwickelt, die es nun erlauben die Frage nach linguistischen Wechselbeziehungen – eingebettet in einen systemtheoretischen Rahmen – auf eine valide theoretische, methodologische und empirische Basis zu stellen. In dem vorliegenden Buch wird die zentrale Frage nach den Wechselbeziehungen in sprachlichen Systemen anhand eines selektiven Merkmals, nämlich der Anzahl von Phonemen, über die eine Sprache verfügt (=Phoneminventarumfang), schrittweise erörtert. Deren Relevanz wurde, wie einleitend erwähnt, in der gegenwärtigen Diskussion zwar erkannt und mehr oder weniger zur Kenntnis genommen, dennoch ist in diesem Zusammenhang eine Reihe von Aspekten und Problemen unberücksichtigt geblieben. Es ist daher ein zentrales Anliegen des vorliegenden Buches einerseits forschungsrelevante theoretische und methodologische Fragen anzusprechen und andererseits auf die Vielzahl linguistischer Probleme und Schwierigkeiten zu verweisen, die sich bei der empirischen Untersuchung von mit dem Phoneminventarumfang verbundenen Eigenschaften ergeben können. In einem ersten Schritt ist mithin eine in Teilen wissenschaftshistorische Perspektive auf den Themenkomplex funktioneller Wechselbeziehungen geboten, die – ausgehend vom Phoneminventarumfang ← 12 | 13 → einer Sprache – von phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Eigenschaften eingegangen werden können.

In diesem Sinne geht es u. a. um ein bewusst induktiv gehaltenes schrittweises Aufdecken von mit dem Phoneminventarumfang in Zusammenhang stehenden Merkmalen und Eigenschaften. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich eine Vielzahl von einschlägigen Überlegungen aus unterschiedlichen Richtungen der Linguistik (Sprachtypologie, Systemlinguistik, Psycholinguistik, synergetische Linguistik, historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, quantitative Linguistik, frequenzbasierte Linguistik, Universalienforschung etc.) extrahieren. Die aufeinander aufbauende Darstellung z. T. überkommener Annahmen zur Relevanz des Phoneminventarumfangs dient aber neben dem Ziel einer zusammenfassenden Synthese als zentrale Grundlage für das Aufdecken einiger Widersprüche und Inkonsequenzen, die sich aus dem kritischen Überblick ergeben. In einer abschließenden Zusammenschau geht es dann um eine Systematisierung der vielen mit dem Phoneminventarumfang in Zusammenhang stehenden Merkmale und Eigenschaften. Als ein weiteres Resultat der Arbeit wird ein sowohl theoretischer als auch methodologischer Vorschlag für eine systematische Untersuchung von linguistischen Wechselbeziehungen und Zusammenhängen präsentiert. Es wird insbesondere dafür plädiert, den Begriff Wechselbeziehung in einem statistischen bzw. mathematischen Sinne zu interpretieren und mit Hilfe bestimmter mathematischer Funktionen zu erfassen. Damit wird in einem letzten Schritt die Modellebene, die aus epistemologischer Sicht als die höchste Stufe der linguistischen Theoriebildung anzusehen ist, erreicht. Die vorliegende Arbeit bleibt aber einen genuin empirischen Beitrag zu dieser Art von Modellbildung nicht schuldig: Im abschließenden Teil wird am Beispiel slawischer Sprachen aufgezeigt, auf welche Art und Weise eine hypothesengeleitete Untersuchung selektiver Wechselbeziehungen des Phoneminventarumfangs durchzuführen ist. Es sind die entsprechenden Randbedingungen (Wahl der phonologischen Transkription, Bestimmung des Untersuchungsmaterials, Operationalisierung) zu reflektieren. Slawische Sprachen stehen dann im Mittelpunkt einer empirischen Untersuchung von zuvor im Detail begründeten Wechselbeziehungen zwischen dem Phoneminventarumfang und der Wortlänge. Auf dieser Basis werden eine Reihe von Konsequenzen für weiterführende Diskussionen abgeleitet. Für die Lektüre des vorliegenden Buches sind keine speziellen mathematischen oder statistischen Kompetenzen nötig, vielmehr steht die Diskussion relevanter linguistischer Hypothesen im Vordergrund. Die Entstehung des Buches geht auf eine langjährige Auseinandersetzung mit der Phonologie slawischer Sprachen und den Theorien und Methoden der quantitativen und synergetischen ← 13 | 14 → Linguistik zurück, die zunehmend auf empirische Probleme und die damit verbundenen Bereiche fokussiert ist. Gabriel Altmann, Wolfgang Eismann, Peter Grzybek, Reinhard Köhler, Ján Mačutek und Steffen Heidinger sei in diesem Zusammenhang für wertvolle Anmerkungen und kritische Hinweise gedankt. Dem historisch-philologischen Geist der Wiener Slawistik sind konzeptuell einige Präzisierungen und Zuspitzungen der vorgestellten Problembereiche zu verdanken. Frank Steffen ist für das bewährte und umsichtige Lektorieren des Manuskriptes herzlichst zu danken. Zu danken ist auch dem Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät für den geleisteten Druckkostenzuschuss.

Wien, im September 2016

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1. Einleitung

Die Phonologie spielte lange Zeit die Rolle einer sprachwissenschaftlichen Königsdisziplin. In diesem Bereich wurde ein grundsätzlicher Terminologie- und Methodenapparat geschaffen, der von nachhaltiger Bedeutung für viele linguistische Schulen und Richtungen sowie die Beschreibung von linguistischen Einheiten ist. Die bedeutungsunterscheidende Funktion von Phonemen, die Merkmalsanalyse, die Eruierung von Minimalpaaren, die Berücksichtigung des distributionellen Kontextes (Phonemdistribution, Phonotaktik) und das stetige Anwachsen der Kenntnisse über grundlegende qualitative Eigenschaften der phonologischen Systeme der Sprachen unserer Welt ist mittlerweile integraler Grundbestand linguistischen Wissens. Wenngleich am Rande, werden aber – wie zu zeigen sein wird – mit erstaunlicher Beharrlichkeit auch immer wieder quantitative Charakteristika phonologischer Systeme thematisiert. Als ein auf den ersten Blick simpel erscheinendes quantitatives Merkmal eines phonologischen Systems gilt dabei die Anzahl von Phonemen (=Phoneminventarumfang)1. Diese Eigenschaft wird in dem vorliegenden Buch in einen entsprechenden Kontext gestellt und es wird nach ihrem aktuellen Stellenwert gefragt.

So geht es im zweiten Kapitel um die gegenwärtige Diskussion zum Phoneminventarumfang und die potenziellen Wechselbeziehungen zu extralinguistischen Faktoren, konkret um die Anzahl von Sprechern. Damit werden Fragen der sprachlichen Diversifikation und des Zusammenspiels von internen und externen Faktoren (Phoneminventarumfang als immanentes Merkmal vs. Sprecherzahl) angesprochen. Darüber hinaus wird aber die empirische Bandbreite hinsichtlich der Anzahl von Phonemen in den Sprachen der Welt aufgezeigt. Hierzu hat die Sprachtypologie und Universalienforschung in den letzten Jahrzehnten umfangreiches Wissen beigesteuert. Neben diesen durchaus interessanten Aspekten gilt es aber auch den Phoneminventarumfang als eine systemimmanente Eigenschaft zu interpretieren. Ein Phonemsystem ist ein abgeschlossenes Inventar von Einheiten, welches gut die quantitativen Beschränkungen sprachlicher Systeme vor Augen führt. Im konkreten Fall lassen sich die empirisch beobachtbaren Beschränkungen (es gibt keine natürliche Sprache ← 15 | 16 → mit z. B. 200 Phonemen) durch physische und psychologische Gegebenheiten begründen. Diese Beschränkungen zeigen auch die Grenzen der menschlichen Sprachverarbeitung auf. Gleichzeitig spielt der Phoneminventarumfang aber auch eine zentrale determinierende Rolle für über der Phonemebene liegende Eigenschaften und Merkmale.

Das dritte – äußerst umfangreiche – Kapitel ist eine systematische Aufarbeitung von in der Vergangenheit in der linguistischen Literatur diskutierten Wechselbeziehungen, die vom Phoneminventar ausgehen. Wie zu erwarten, sind in erster Linie phonologische Eigenschaften selbst von besonderer Bedeutung. Zentral ist die Differenzierung zwischen segmentalen und suprasegmentalen Eigenschaften, weil in Abhängigkeit davon nicht nur erhebliche Unterschiede bei der Festlegung eines bestimmten Phoneminventarumfangs festzustellen sind; es gilt auch die Bedeutung des Akzents zu klären und (insbesondere quantitativ erfassbare) silbenphonologische Eigenschaften hervorzuheben, da sie ebenfalls mit dem Phoneminventarumfang in einer Wechselbeziehung stehen. In einem weiteren Schritt ist zu klären, inwieweit der Phoneminventarumfang morphologische bzw. morphosyntaktische Eigenschaften einer Sprache determinieren kann. Diskutiert wird die Frage, ob der morphologische Typus einer Sprache in irgendeiner Weise mit der Anzahl von Phonemen zusammenhängt, über die diese Sprache verfügt. Spätestens an dieser Stelle wird die Ausweitung auf eine Vielzahl von potenziellen Einflussfaktoren vor Augen geführt, die in der einen oder anderen Weise mit dem Phoneminventarumfang in Verbindung gebracht werden können. Es sind dies unterschiedliche morphologische Kodierungsstrategien, Längungs- und Kürzungstendenzen sprachlicher Ausdrücke, Fragen der Beschränkung von Morpheminventaren, die Häufigkeit von Morphemen und Lexemen, morphosyntaktische Eigenschaften, aber auch Sprecher- und Hörerbedürfnisse, die Einfluss auf die Ausgestaltung eines sprachlichen Systems haben. Unter anderem sind Distinktivität, Redundanz und Ambiguität sprachlicher Zeichen zu nennen. So gelangt man – selbst wenn die Rolle des Phoneminventarumfangs zunächst in den Hintergrund zu rücken scheint – zu Fragen der semantischen Organisation sprachlicher Systeme, deren grundlegendes Kennzeichen die Polysemie bzw. Ambiguität ist. Auch diese Merkmale lassen sich mit dem jeweiligen Phoneminventarumfang einer Sprache in Verbindung bringen. Die Zusammenschau der Vielzahl von Einflussfaktoren ist begleitet von einer sukzessiven Einbettung der Frage nach dem Phoneminventar in theoretische Probleme der Sprachwissenschaft wie die der sprachlichen Ökonomie, die der Kompensationsmechanismen und die der linguistischen Komplexität. Alle drei Bereiche lassen sich mit dem Phoneminventarumfang in Verbindung bringen, ← 16 | 17 → wenngleich dazu sowohl eine Schärfung des Begriffes Wechselbeziehung als auch die Frage nach einer stringenten empirischen Untersuchung notwendig sind.

Nachdem exemplarisch das Netz von Zusammenhängen auf der Basis des Phoneminventarumfangs illustriert worden ist, widmet sich das vierte Kapitel den unterschiedlichen Interpretationen und dem terminologischen Spielraum der Begriffe Wechselbeziehung, Zusammenhang, Abhängigkeit und Interrelation. Es wird dafür plädiert Wechselbeziehungen nicht in einem breiten Sinne als gegenseitig sich beeinflussende Eigenschaften und Größen zu verstehen, sondern es wird versucht den Begriff Wechselbeziehung auf eine Modellebene zu stellen: Linguistische Wechselbeziehungen lassen sich auf der Ebene statistischer und mathematischer Modelle erfassen. Für die Modellierung sind neben statistischen Korrelationsmethoden – die in der Linguistik mittlerweile in vielen Fällen mit Erfolg angewandt werden – lineare Regressionsmodelle und insbesondere nichtlineare Ansätze von Bedeutung. Die letztgenannte Form mathematischer Modellierung lässt sich vortrefflich aus synergetischen und in der quantitativen Linguistik diskutierten Ansätzen ableiten. So ergibt sich eine sowohl theoretisch als auch methodologisch reflektierte Grundlage, die eine solide Basis für empirische Untersuchungen linguistischer Wechselbeziehungen darstellt.

Details

Seiten
272
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631696897
ISBN (PDF)
9783653055931
ISBN (MOBI)
9783631696903
ISBN (Hardcover)
9783631664322
DOI
10.3726/978-3-653-05593-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016, 272 S., 25 s/w Abb., 12 s/w Tab.

Biographische Angaben

Emmerich Kelih (Autor:in)

Emmerich Kelih ist Assistenzprofessor am Institut für Slawistik der Universität Wien. Er ist Autor mehrerer Publikationen zur Phonologie, Morphologie, Lexikologie slawischer Sprachen und der quantitativen und korpuslinguistischen Sprach- und Textanalyse.

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