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Modernisierung der staatlichen Opferentschädigung – rechtsdogmatisch zwingend oder nur rechtspolitisch geboten?

von Thorsten Rachvoll (Autor:in)
©2016 Dissertation 184 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor geht der Frage nach, ob die seit Erlass des Opferentschädigungsgesetzes geltende formale Einordnung in die Materie des sozialen Entschädigungsrechts (noch) opferinteressengerecht erscheint. Er erwägt Alternativen, die hypothetisch strukturell ebenfalls eine dogmatische Heimat für den Anspruch von Gewaltopfern gegen den Staat bieten könnten; dabei widmet er sich vorrangig einer möglichen Staatshaftung auf der Basis subjektiv-rechtlicher Komponenten grundrechtlicher Schutzpflichten und einer opferspezifischen Ausformung des Strafzwecks der Spezialprävention. Letztlich plädiert er für eine differenzierte Anwendung des bürgerlichen Schadensrechts bei der Ausgestaltung der Rechtsfolgen der staatlichen Opferentschädigung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung: Opferschutz und Opferentschädigung in der Rechtsordnung
  • I. Berücksichtigung der Opfer von Straftaten in der Rechtsordnung
  • 1. Ausgangspunkt der Opferdiskussion im Strafrecht
  • 2. Ausgleichsinstrumente zu Gunsten des Opfers im Überblick
  • II. Das Opferentschädigungsgesetz von 1976
  • 1. Historische Entwicklung
  • 2. Dogmatische Einordnung
  • a) Eine besondere Verantwortung des Staates als Leistungsgrund
  • aa) Haftung des Staates für eigenes Versagen
  • bb) Das Auferlegen eines Sonderopfers
  • cc) Opferverhalten als Verteidigung der Rechtsordnung
  • dd) Das Opfer als Mitglied einer Gefahrengemeinschaft
  • ee) Gerechtigkeitsempfindungen
  • b) Die Abgrenzung zu anderen möglichen Anspruchsgrundlagen
  • aa) Abgrenzung zum Schadensersatzanspruch bürgerlich-rechtlicher Art
  • bb) Abgrenzung zur gesetzlichen Unfallversicherung
  • cc) Abgrenzung zu öffentlich-rechtlichen Aufopferungsansprüchen im engeren Sinne
  • (1) Sonderopfer
  • (2) Allgemeinwohlbezogenheit des „Eingriffs“
  • c) Die Fundierung als soziale Entschädigung
  • aa) Sozialrecht
  • bb) Soziale Entschädigung
  • 3. Der Opferbegriff
  • a) Der Opferbegriff des OEG
  • b) Der Opferbegriff dieser Untersuchung
  • III. Besserstellung des Opfers durch Reform oder Weiterentwicklung des OEG?
  • 1. Kritik an der geltenden Ausgestaltung und den praktischen Wirkungen des OEG
  • a) Mangelnde Opferinteressengerechtigkeit des OEG aus rechtstatsächlicher und empirischer Sicht
  • b) Rechtspolitische Kritik
  • 2. Wege zu einer Erhöhung der Wirksamkeit des OEG
  • a) Anderweitige dogmatische Einordnung staatlicher Opferentschädigung
  • b) Ergänzung oder Erweiterung der Rechtsfolgen der Opferentschädigung
  • B. Das OEG als Versuch einer Entschädigungsregelung für die Opfer von Gewalttaten
  • I. Die Anspruchsbegründung
  • 1. Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 OEG sowie bestehender Tatbestandserweiterungen
  • a) Eröffnung des sachlichen und persönlichen Geltungsbereichs
  • aa) Unmittelbarkeit der Schädigung
  • bb) Anknüpfung an den Erfolgsort
  • b) Erfordernis eines vorsätzlichen und rechtswidrigen tätlichen Angriffs
  • aa) Objektive Merkmale – der tätliche Angriff
  • (1) Definition
  • (2) Unterlassen
  • (3) Erweiterung anhand des Schutzzwecks
  • bb) Subjektive Merkmale – der Vorsatz
  • cc) Rechtswidrigkeit des Angriffs
  • dd) Schuldhaftes Verhalten nicht erforderlich
  • ee) Zusammenfassung
  • c) Tatbestandserweiterung gemäß § 1 Abs. 2 und Abs. 3 OEG
  • aa) Ergänzende Straftatbestände
  • bb) Einbeziehung bestimmter Unfälle
  • cc) Ausnahme: Kraftfahrzeug als Tatmittel
  • d) Gesundheitsschädigung
  • e) Gesundheitsstörung
  • f) Kausalität
  • aa) Haftungsbegründende Kausalität
  • (1) Äquivalenz
  • (2) Adäquanz
  • (3) Wesentliche Bedingung
  • bb) Haftungsausfüllende Kausalität
  • g) Antrag
  • h) Beweisgrundsätze
  • 2. Ausschlusstatbestand oder fehlende Durchsetzbarkeit
  • a) Einbeziehung ausländischer Staatsangehöriger in den Kreis der Anspruchsberechtigten
  • aa) Ausgangspunkt: Prinzip der Gegenseitigkeit
  • bb) Erweiterung des persönlichen Geltungsbereichs durch das 2. OEG-Änderungsgesetz
  • b) Ruhen bei Anspruchskollision
  • aa) Kollision mit Ansprüchen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
  • bb) Kollision mit anderen Anspruchsgrundlagen des sozialen Entschädigungsrechts
  • c) Anspruchsausschluss nach Maßgabe von § 2 Abs. 1 OEG
  • aa) Mitverursachung durch den Geschädigten
  • (1) Gleichrangigkeit des Mitverursachungsbeitrags
  • (2) Schuldhaftigkeit des Mitverursachungsbeitrags
  • (3) Einzelfälle
  • bb) Unbilligkeit
  • (1) Unbestimmter Rechtsbegriff
  • (2) Verhalten des Geschädigten jenseits tatbezogener Mitverursachung
  • (3) Gründe für das Erfordernis einer Unbilligkeitsklausel
  • (4) Einzelfälle
  • d) Fehlende Mitwirkung des Geschädigten bei der Aufklärung des Sachverhalts
  • e) Sonstige Ausschlusstatbestände
  • II. Rechtsfolgen
  • 1. Heilbehandlung
  • 2. Rentenleistungen
  • 3. Fürsorgeleistungen
  • III. Wirkungen des OEG auf das Haftungssystem
  • 1. Konkurrenz zu bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzansprüchen
  • 2. Kostenerstattungsanspruch der gesetzlichen Krankenkassen
  • IV. Konsequenzen für Gewaltopfer – zusammenfassende Bestandsaufnahme
  • 1. Begrenzte Reichweite des Tatfolgenausgleichs
  • a) Leichte oder mäßige Schädigung
  • aa) Zivilrechtliche Inanspruchnahme des Täters
  • bb) Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
  • cc) Inanspruchnahme von Leistungen auf der Grundlage des OEG
  • b) Schwere oder irreparable Schädigung
  • aa) Bürgerliches Recht
  • bb) Inanspruchnahme der gesetzlichen Krankenversicherung
  • cc) Leistungen nach dem OEG
  • 2. Schlussfolgerung
  • C. Gebieten rechtsdogmatische Gründe eine Besserstellung des Opfers durch Neuverortung der Opferentschädigung?
  • I. Opferentschädigung aus unechter gesetzlicher Unfallversicherung
  • 1. Gemeinwohlbezug der Viktimisierung?
  • 2. Gefahrengemeinschaft der Kriminalitätsopfer?
  • II. Opferentschädigung im bürgerlichen Recht oder das Problem hoheitlichen Handelns
  • III. Opferentschädigung als Staatshaftung
  • 1. Verhältnis zum allgemeinen polizeirechtlichen Entschädigungsanspruch
  • 2. Staatliche Opferentschädigung als spezialgesetzlicher Anwendungsfall des allgemeinen Aufopferungsanspruchs?
  • a) Der allgemeine Aufopferungsanspruch
  • b) Zurechnungszusammenhang: Eingriff in aufopferungsrechtlich geschützte Positionen durch Unterlassen
  • aa) Qualifiziertes versus schlichtes Unterlassen
  • bb) Notwendigkeit einer rechtlich fundierten Handlungspflicht
  • cc) Handlungspflicht bei bloßer Gefahrerhöhung durch Unterlassen?
  • dd) Handlungspflicht aus grundrechtlich fundierter Anerkennungspflicht?
  • (1) Das subjektiv-öffentliche Recht: Interesse und Rechtsmacht
  • (2) Staatliche Schutzpflichten aus Grundrechten
  • (3) Die Konkretisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten
  • ee) Handlungspflicht aus Übertragung des im Strafrecht entwickelten Gedankens opferspezifischer Spezialprävention?
  • (1) Die Strafzwecke in der Strafrechtswissenschaft – eine Übersicht
  • (2) Übertragung der Strafzwecke auf die Opferperspektive – opferspezifische Spezialprävention
  • (3) Übertragungsfähigkeit in das Staatshaftungsrecht
  • c) Exkurs: das Sonderopfer
  • D. Modifizierung von Tatbestand und Rechtsfolgen der sozialrechtlichen Opferentschädigung?
  • I. Gründe einer Modifikation von Tatbestand und Rechtsfolgen der Opferentschädigung
  • 1. Berücksichtigungsfähige Interessen
  • 2. Besserstellung des Gewaltopfers gegenüber anderen Konstellationen der sozialen Entschädigung
  • II. Mögliche Modifikationen im Einzelnen
  • 1. Tatbestand des OEG
  • a) Kausalität
  • b) Beweiserleichterungen
  • c) Einbeziehung ausländischer Geschädigter
  • d) Ruhenstatbestände
  • e) Mitverursachung
  • f) Unbilligkeit
  • g) Fehlende Mitwirkung bei der Tataufklärung
  • 2. Rechtsfolgen
  • 3. Gewährung eines Schmerzensgeldes?
  • a) Begriff der Genugtuung
  • b) Opferspezifische Spezialprävention als Genugtuungsprävention durch staatliche Leistungen?
  • aa) Missbilligung des Täterverhaltens durch Gewährung staatlicher Leistungen
  • bb) Wiederherstellung des Anerkennungsverhältnisses zwischen Täter und Opfer durch staatliche Leistungen
  • cc) Genugtuung auf Grundlage einer spezifisch sozialentschädigungsrechtlichen Ausgestaltung opferspezifischer Spezialprävention?
  • E. Schlussbemerkung
  • Schrifttumsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Mit Rücksicht auf die in dieser Schrift verwendeten Abkürzungen wird Bezug genommen auf das Werk von

Kirchner (Begr.), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Aufl., Berlin 2015.

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A. Einleitung: Opferschutz und Opferentschädigung in der Rechtsordnung

Opfer von Straftaten müssen besser geschützt werden – ein Satz, der häufig zu hören oder zu lesen ist.1 Hinter dieser Formulierung verbirgt sich jedoch eine häufig komplexe Gemengelage, die ganz unterschiedliche Komponenten der Eigenschaft als Opfer einer Straftat umfasst – worin soll der Schutz bestehen? Es liegt auf der Hand, dass es bei einem wie auch immer gearteten Opferschutz nur um Dinge gehen kann, die zeitlich nach der erlittenen Straftat liegen – präventive Ansätze, die die Tat selbst zu vermeiden suchen, spielen insoweit also keine Rolle. Die Lage des Opfers nach einer Straftat erweist sich indes häufig als ebenso herausfordernd wie etwaige Tatpräventionsbemühungen in deren Vorfeld.

Mit Blick auf die rechtliche Stellung des Opfers einer Straftat lässt der Diskurs zwei verschiedene Ansätze zur Stärkung der Opferposition erkennen: zum einen die Stärkung der Opferposition als Verfahrensbeteiligter im Strafverfahren selbst, zum anderen die Frage nach materiellen Ausgleichsinstrumenten zur Milderung der Tatfolgen, die das Opfer infolge der Straftat getroffen haben.2 Dies liegt nahe, da es um Kernelemente der Opferstellung geht: Im Strafprozess wird das Opfer ggf. als Zeuge gehört und unterliegt Belastungen, die sich etwa aus der Konfrontation mit dem Täter im Gerichtssaal ergeben können. Die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Tat können demgegenüber die gesamte Lebensführung des Opfers betreffen und zu erheblichen Einbußen in den genannten Bereichen führen.

Diese Untersuchung befasst sich allein mit dem letztgenannten Aspekt und wirft die grundsätzliche Frage auf, ob das geltende Opferentschädigungsinstrumentarium sowohl mit Blick auf seine dogmatische Fundierung als auch seine Rechtsfolgen noch als zeitgemäßer Opferschutz begriffen werden kann. Dabei ← 19 | 20 → wird die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die in vielfacher Weise geäußerte Kritik an der geltenden Konzeption staatlicher Opferentschädigung, die durchweg auf einem rechtstatsächlichen, empirischen oder rechtspolitischen Fundament ruht,3 um eine rechtsdogmatisch begründete Flanke ergänzt werden kann. Mit anderen Worten: Gebieten nicht nur die gegenwärtige Anwendungspraxis, sondern auch systematische Erwägungen eine Modifizierung oder Reform des staatlichen Opferentschädigungsrechts? Und falls ja, in welchem Umfange?

I. Berücksichtigung der Opfer von Straftaten in der Rechtsordnung

Im Jahre 1976 trat in der Bundesrepublik Deutschland das Opferentschädigungsgesetz4 (OEG) in Kraft. Es diente und dient der Bewältigung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen von Straftaten mit Gewaltanwendung gegen oder Gewalteinwirkung auf Personen.5 Das Inkrafttreten des Gesetzes markierte den – naturgemäß vorläufigen – Abschluss einer Entwicklung, die eine Erweiterung der gesetzgeberischen Perspektive über den Kreis des Täters hinaus auf die Opfer von Straftaten zum Gegenstand hatte.6

Hintergrund der Einführung des OEG war letztlich eine Situation, in der der Geschädigte einer Gewaltstraftat vor den durch ihn nicht zu verantwortenden – in erster Linie wirtschaftlichen – Folgen jener Straftat geschützt werden sollte.7 Die Begründung eines selbständigen, einen Anspruch gegen den Staat vermittelnden Entschädigungstatbestands war Gegenstand einer Diskussion, in deren Rahmen ← 20 | 21 → erstmals der besonderen Stellung des Opfers – und gerade nicht des Täters – einer (Gewalt-) Straftat Rechnung getragen wurde.

Bis zu jenem Zeitpunkt hatte die entschädigungsrechtliche Position des Opfers zumindest im deutschen Recht ein Schattendasein gefristet. Freilich lösten die vom späteren OEG erfassten vorsätzlichen tätlichen Angriffe stets zivilrechtliche Schadensersatz- und ggf. auch Schmerzensgeldansprüche aus; diese liefen indes leer, wenn – wie häufig – der Täter nicht hinreichend solvent war. Anderweitige effektive gesetzliche Möglichkeiten standen indes nicht zur Verfügung; es existierte lediglich das bereits in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführte Konstrukt des Adhäsionsverfahrens, in dessen Rahmen aus einer Straftat erwachsende zivilrechtliche Ansprüche ihrerseits im Strafverfahren geltend gemacht werden konnten.8 Ungeachtet des Umstands, dass sich das Adhäsionsverfahren bis zum heutigen Tage in der Praxis kaum hat durchsetzen können,9 stand und steht es inhaltlich vor denselben Schwierigkeiten, die bei einer Geltendmachung aus der Straftat resultierender Ersatzansprüche im Zivilprozess resultieren: Mangelnde Liquidität des Täters lässt die berechtigten Ansprüche des Opfers ins Leere laufen. Im bürgerlichen Recht selbst wiederum war wenig Anlass zu erkennen, eine spezifische Diskussion gerade über die Opfer von Straftaten zu führen, waren sie doch bloß Teilmenge der großen Gruppe deliktisch Geschädigter.

Die Diskussion konnte deshalb nur an einer Stelle beginnen, an die sie eigentlich nicht gehört: im Strafrecht. Gestützt wurde diese Entwicklung durch die eingangs genannte Perspektive einer Opferbeteiligung im Strafprozess, die gerade das Strafrecht als die vermeintlich naheliegende Materie zur Behandlung opferspezifischer Fragestellungen erkennen ließ.10

Ausgehend von einer Rechtsmaterie, die ihren Fokus nach wie vor auf die Person des Delinquenten legte (und auch gegenwärtig noch vielfach legt) – nämlich derjenigen des Strafrechts –, erreichte im Zeitraum der Einführung eines Opferentschädigungsgesetzes die Diskussion um die Frage der Stellung des Opfers des Delinquenten einen ersten Höhepunkt;11 diese Diskussion lieferte einen Anlass, ← 21 | 22 → die gebotene Betrachtung der Opferperspektive rechtsgebietsübergreifend zu führen. Die Rechtsstellung des Opfers einer Straftat lässt sich nämlich innerhalb des Strafrechts selbst lediglich unzureichend erfassen, da es insoweit eben primär um die Sanktionierung des Täters geht und der Natur der Materie nach auch gehen muss. Sekundärrechte des Opfers außerhalb des Kernstrafrechts lassen sich insoweit nur schwerlich erfassen.

1. Ausgangspunkt der Opferdiskussion im Strafrecht

Der Schwerpunkt des Diskurses über die rechtliche Stellung des Opfers einer Straftat fundierte dennoch ganz überwiegend12 auf einer strafrechtsimmanenten Betrachtungsweise: Die Konsequenzen, die das Auftreten von Kriminalität in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen für die betroffenen Opfer regelmäßig mit sich bringt, sind vielfältiger Natur und wurden schon in die frühere strafrechtlichen Diskussion bei weitem nicht mit demjenigen Gewicht eingestellt, das ihnen schon angesichts ihrer objektiven Bedeutung – körperliche und seelische Tatfolgen beim Opfer – gebührt.13 Dies mag darauf beruhen, dass dem Tatopfer im Strafrecht eine eher formale Position zugewiesen ist – z.B. als Zeuge –, darüber hinausreichende Positionen in einem vollumfänglich auf die Sanktionierung des Täters ausgerichteten Rechtsgebiet aber kaum dogmatisch sachgerecht zu erfassen waren.14 Das Strafrecht der Neuzeit stellt in erster Linie ein Recht der Reaktion des Staates gegenüber denjenigen dar, die spezifische Normen übertreten. Von diesem Standpunkt aus beantwortet das Strafrecht seiner Natur nach die Frage nach den Folgen normdifformen Verhaltens für die Übertretenden;15 es liefert jedoch keine Antwort auf die sich spiegelbildlich aus der durch die Straftat begründeten (deliktischen) Beziehung zum Geschädigten ergebende Frage, ob ← 22 | 23 → und welche Folgen die Tat auf dessen Seite in rechtlicher Hinsicht hat. Dieses Defizit dürfte in erster Linie historisch begründet sein: Mit der Entwicklung eines Strafrechts, das nicht mehr auf privater Vergeltung, sondern dem staatlichen Gewaltmonopol basiert, bleibt typischerweise wenig Raum für opferbezogene Erwägungen. Gerade letzterer Gedanke erweist sich aber als das grundlegendste Hindernis, wenn die strafrechtliche Diskussion sich der Stellung des Opfers im Recht staatlicher Normübertretungssanktion annimmt: Ist die Reaktion auf die Straftat staatliche Angelegenheit, so kann es auf der Passivseite dieser Tat grundsätzlich auch keine „Kompensation“ dergestalt geben, dass dem Opfer innerhalb des Strafrechts eine eigene, subjektiv-rechtlich fundierte Stellung im Verhältnis zum Täter eingeräumt wird, selbst wenn diese eben nicht strafender, sondern nur interessenbefriedigender Natur ist. Das Adhäsionsverfahren stellt insoweit eine punktuelle, wenngleich – wie bereits aufgezeigt – rein verfahrensrechtliche Ausnahme dar; es basiert seinerseits lediglich auf außerstrafrechtlichen Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen.16

Die grundsätzliche Ausrichtung des Strafrechts auf den Täter17 vermag deshalb durch keine noch so breit angelegte Diskussion über die Stellung des Opfers im Strafrecht außer Kraft gesetzt zu werden; jede Stärkung von Opferrechten im Verfahrensrecht oder im materiellen Recht muss hier ihre Grenze finden, soll die „strafrechtliche Sozialkontrolle“18 nicht in Frage gestellt werden. Dies verdeutlicht, weshalb die Diskussion um die Rechtsnatur der Opferentschädigung letztlich keine innerstrafrechtliche ist und auch keine solche sein kann; es stellt sich vielmehr die Frage nach Instrumentarien außerstrafrechtlicher Rechtsgebiete, die zu einer Stärkung der Tatopferstellung beitragen können. Dennoch – und das begründet die Schwierigkeiten bei der Konzeption staatlicher Opferentschädigung – bleibt die Regelung tatbestandlich, also bei der Formulierung der Anspruchsvoraussetzungen strafrechtlichen Begriffen verhaftet. Es müssen also strafrechtliche Begriffe daraufhin untersucht werden, ob sie außerstrafrechtlich spezifische Folgen für eine nicht-sanktionierende Gesetzgebung haben müssen; dort liegt der Kern der Frage nach Einordnung und potentieller Fortentwicklung einer derartigen Materie. ← 23 | 24 →

Dementsprechend begann sich das Augenmerk mit den ersten (bundesdeutschen) Vorschlägen zur Tatopferentschädigung zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch auf Instrumentarien anderer Rechtsgebiete zu erstrecken. Das bis zu jenem Zeitpunkt gleichsam als unausgesprochenes „Spiegelbild“ des Täters im Strafrecht mitgedachte Opfer musste aus der engen, rein strafrechtlichen Betrachtung gelöst werden; eine vom engen Blickwinkel des Strafrechts losgelöste Betrachtung kam folglich nicht umhin, die Spiegelbildlichkeit aufzugeben und den Kontext der Opferperspektive spezifisch ausgleichsrechtlich zu bewerten.

Um diesen „Gedankensprung“ heraus aus der Enge der strafrechtlichen Betrachtung hinein in eine entschädigungsrechtliche Perspektive zu ermöglichen, bedurfte es zunächst eines Blicks auf das de lege lata zur Verfügung stehende Ausgleichsinstrumentarium, das zu Gunsten des Opfers zur Minderung insbesondere wirtschaftlicher Tatfolgen zumindest theoretisch in Betracht kam.

2. Ausgleichsinstrumente zu Gunsten des Opfers im Überblick

Die möglichen Ausgleichsinstrumente sind in der Folge aus Sicht der gegenwärtigen Rechtslage dargestellt; ein inhaltlich vergleichbarer Kanon möglicher Anspruchsgrundlagen bestand indes auch zur Zeit der Einführung des OEG, wie im Abschnitt über dessen Entstehungsgeschichte unten noch auszuführen sein wird. Es erwies sich, dass gerade die mangelnde Eignung der bereits vorhandenen Anspruchsgrundlagen zur Ermöglichung einer opferspezifischen Entschädigungsleistung den Erlass des OEG befördern musste; dessen konkrete dogmatische Einordnung fiel allerdings schwer und blieb in der Folge noch längere Zeit offen.19

Ausgehend von einem infolge einer Straftat körperlich geschädigten Opfer ließen bzw. lassen sich folgende Anspruchsgrundlagen in Erwägung ziehen:

Jedenfalls hinsichtlich der materiellen Folgen ist zunächst an zivilrechtliche Ansprüche des Opfers gegen den Täter zu denken, insbesondere aus §§ 823, 826 i.V.m. §§ 249 ff. BGB. Insoweit handelt es sich um Schadensersatzansprüche, die weit überwiegend auf den Ausgleich einer erlittenen Beeinträchtigung in Geld hinauslaufen werden, da die Wiederherstellung des vor der Tat bestehenden körperlichen und seelischen Zustands des Tatopfers – also Naturalrestitution – nicht durch den Täter selbst in Person erfolgen kann (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) oder durch niemanden erbracht werden kann, z.B. bei irreparablen Dauerschäden beim Opfer infolge der Gewalteinwirkung (§ 251 Abs. 1 BGB). ← 24 | 25 → Daneben kommt ein Geldausgleich der erlittenen Immaterialschäden gem. §§ 823, 253 Abs. 2 BGB in Betracht. Diese Anspruchsgrundlagen sind überwiegend kompensatorischer Natur; zu bedenken ist aber wie bereits ausgeführt – und dies erweist sich als entscheidend –, dass sich diese Möglichkeit eines direkten Vorgehens gegen den Täter dann als sinnentleert darstellt, wenn letzterer mittellos ist.20

Ebenso greift die Inanspruchnahme einer Versicherungsgesellschaft im Falle vorsätzlicher Straftaten regelmäßig nicht Platz, da versicherungsrechtliche Ansprüche aus einer etwa bestehenden Versicherung des Täters in diesem Falle kraft Gesetzes ausgeschlossen sind.21 In nahezu sämtlichen denkbaren versicherungsrechtlichen Konstellationen ist das Opfer einer vorsätzlichen Gewaltstraftat mithin nicht gegenüber dem Handeln des Täters durch eigene hieraus erwachsende Ansprüche gegen dessen Versicherungsgesellschaft geschützt; eine wie auch immer ausgestaltete Opferentschädigung kommt auf dieser Grundlage nicht in Betracht. Ebenso scheidet eine vom Opfer selbst abgeschlossene Versicherung gegen das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, aus; nicht sämtliche Folgen der Opferwerdung sind durch den Kanon diesbezüglich möglicher Versicherungen abgedeckt, gleichviel, ob es sich um Lebens-, Kranken- oder Unfallversicherungen handelt.22 Diese Versicherungen decken regelmäßig allenfalls Teilbereiche der Viktimisierungsfolgen ab.

Gleiches gilt von den möglichen gesetzlichen Versicherungen des Opfers.
Die gesetzliche Unfallversicherung – auf die unten noch zurückzukommen sein wird – erfasst bereits im persönlichen Anwendungsbereich nicht sämtliche Opferkonstellationen, da sie sich lediglich auf Beschäftigte, Auszubildende, Nothelfer und gewisse vergleichbare Personenkreise erstreckt.23 In sachlicher Hinsicht knüpft die Versicherung an ein Unfallgeschehen an, das in § 1 SGB VII namentlich durch Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren umschrieben wird. Der Anwendungsbereich kann sich insofern zwar auf die spezifische Situation des Opfers einer Gewaltstraftat erstrecken, dies jedoch nur dann, wenn es sich bei der zu Grunde liegenden Straftat um einen Arbeitsunfall handelt. Eine vollumfängliche Abdeckung der möglichen Opferkonstellationen findet nicht statt.
← 25 | 26 →Die gesetzliche Krankenversicherung hat den Zweck, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB V). Sie umfasst sachlich damit auch die Opferkonstellationen nach straftatbedingt erlittenen körperlichen Beeinträchtigungen. Versicherte haben Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.24 Die gesetzliche Krankenversicherung umfasst insoweit jedoch Leistungen, die nicht spezifisch an eine Opferstellung anknüpfen, sondern in Fällen von Krankheit oder Behandlungsbedürftigkeit jeder Art in Betracht kommen. Zudem werden auch insoweit nicht sämtliche Tatfolgen, sondern überwiegend die gesundheitsspezifischen, an der Heilbehandlung ausgerichteten Folgen erfasst; die gesetzliche Krankenversicherung ist auf Prävention, Krankenbehandlung und Rehabilitation beschränkt.25

Freilich verfügt ein infolge einer (Gewalt-) Straftat etwa dauerhaft arbeits- oder berufsunfähig gewordenes Tatopfer über Ansprüche auf Leistungen der Grundsicherung im Wege der Sozialhilfe (§ 1 SGB XII). Diese Ansprüche dienen jedoch allein der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums;26 sie werden damit kaum einer Situation gerecht, in der das Opfer durch die Straftat aus seinen spezifischen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen herausgerissen wurde. Die zwischen der Gewährleistung des bloßen Existenzminimums und der vor der Tat bestehenden Situation liegende Differenz wird im Sinne einer Deckungslücke durch Ansprüche auf Sozialhilfe nicht beseitigt.

Zu erwägen waren allerdings Ansprüche aus Staatshaftung. Diese konnten geeignet sein, Opferinteressen zu befriedigen, da sie auf der Rechtsfolgenseite grundsätzlich das gesamte Instrumentarium der §§ 249 ff. BGB umfassen können.27 Voraussetzung derartiger Ansprüche ist jedoch eine wie auch immer geartete Verantwortung des Staates bzw. seiner Institutionen für die konkrete Opferwerdung, jedenfalls eine Zurechenbarkeit des Täterverhaltens zum Staat. Anspruchsgrundlagen der Staatshaftung umfassen entweder Schadensersatz ← 26 | 27 → i.S.d. §§ 249 ff. BGB28 – wegen der in Deutschland nach wie vor geltenden Konstruktion der mittelbaren Staatshaftung nicht im Wege der Naturalrestitution29 – oder Entschädigung in Geld außerhalb der §§ 249 ff. BGB.30 Anders als Ansprüche im unmittelbaren Verhältnis des Opfers zum Täter steht dem Tatopfer bei staatshaftungsrechtlichen Anspruchsinstituten ein solventer Anspruchsgegner gegenüber; das Zurechnungskriterium des Täterverhaltens zum Staat wirft indes hohe Hürden auf.

Jenseits dieser Anspruchsinstitute bestehen inzwischen noch einige anderweitige Möglichkeiten, gerade etwa zur Abmilderung der psychischen Tatfolgen. Im psychischen Bereich ist die Möglichkeit eines sog. Täter-Opfer-Ausgleichs denkbar (§ 46 a Nr. 1 Var. 1 StGB), der helfen könnte, einige der psychischen Auswirkungen auf Seiten des Opfers zumindest abzumildern. Ebenso besteht die Möglichkeit der Schadenswiedergutmachung durch den Täter (§ 46 a Nr. 1 Var. 2 StGB) und des Schadenswiedergutmachungsbemühens (§ 46 a Nr. 1 Var. 3 StGB). Wie die Anerkennung des bloßen Bemühens des Täters um Schadenswiedergutmachung zeigt, sind diese Vorschriften jedoch keine Anspruchsgrundlagen für das Opfer, sondern bloße Strafzumessungskriterien innerhalb eines täterorientierten Strafrechts.31 Sie erweisen sich für die dogmatische Einordnung des Opferentschädigungsanspruchs deshalb nicht als relevant.

Details

Seiten
184
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631697696
ISBN (ePUB)
9783631697702
ISBN (MOBI)
9783631697719
ISBN (Paperback)
9783631697689
DOI
10.3726/978-3-631-69769-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Sozialrecht Grundrechte Schutzpflichten Strafzwecke Schadensrecht Schmerzensgeld
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 184 S.

Biographische Angaben

Thorsten Rachvoll (Autor:in)

Thorsten Rachvoll war zunächst als Staatsanwalt mit Schwerpunkt Jugendsachen tätig und wechselte später als Fachreferent einer Fraktion in den Parlamentsbetrieb des Landtags Nordrhein-Westfalen. Dort befasst er sich vorrangig mit parlaments- und verfassungsrechtlichen Fragestellungen. Daneben ist er freiberuflich als Rechtsanwalt tätig.

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