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Erzählen – Identität – Erinnerung

Studien zur deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1890–1935

von Magdolna Orosz (Autor:in)
©2016 Monographie 380 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch analysiert die Wandlungen der Kultur und Literatur der frühen Moderne der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wien und Budapest. Die Autorin reflektiert Veränderungen des Erzählens und der poetologischen Ansichten und fokussiert Probleme wie Ich-Konzepte, Sprachkrise und Fragen der sprachlichen Vermittlung. Sie untersucht Bildlichkeit, Intertextualität und Intermedialität, Metaphorisierung und Phantastik, die narrative Gestaltung von Erinnerung. Das Buch bezieht in einem Ausblick die Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie mit ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung. Abgrenzungen und Zielsetzungen
  • 2. Kultur und Literatur der Frühen Moderne
  • 2.1. Jahrhundertwende und frühe Moderne: Kultur im Wandel
  • 2.2. Sprache und Sprachlichkeit
  • 2.2.1. Sprachproblem und Sprachkrise in der Literatur
  • 2.2.1.1. Sprache und Metapher: Nietzsche und Mauthner
  • 2.2.1.2. Sprachkrise und literarisch-ästhetische Reflexionen bei Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Musil, Schnitzler
  • 2.2.2. Sprachkrise – Auswege: Bild, Visualität, neues Sehen
  • 2.2.2.1. Sprache und Visualität bei Hofmannsthal
  • 2.2.2.2. Sehen lernen und Visualität als poetologisches Prinzip bei Rilke
  • 2.2.3. Sprachlichkeit: Verständigung und Zerfall
  • 2.2.3.1. Utopie der ideellen Sprache
  • 2.2.3.2. Sprachenvielfalt und Staatenzerfall
  • 3. Identität und Erzählen
  • 3.1. »Der Faden der Erzählung«. Identitätsproblematik und Erzählen
  • 3.2. Erzählte Identitäten
  • 3.2.1. Eine Vater-Sohn-Geschichte in perspektivierender Umschreibung
  • 3.2.2. Unerreichte und unerreichbare Erkenntnis – verhinderte Identität
  • 3.2.3. Tod und Selbstverlust als Quelle von Erkenntnis und Selbstfindung
  • 3.2.4. Identität zwischen Trennung und Vereinigung
  • 3.2.5. Ich-Spaltung und Identitätsverlust
  • 3.2.6. Intertextuelle Modelle und Identitätssuche
  • 3.2.7. Eigenes, Fremdes, Mehrfachidentitäten – erzählerische Identitätsstiftung
  • 4. Erzählen und Metapher
  • 4.1. Metaphorisiertes Erzählen
  • 4.2. Metaphorizität der erzählten Welt bei Arthur Schnitzler
  • 4.2.1. Durch die Blume: metaphorische Setzungen
  • 4.2.2. Theatralische Blumensymbolik
  • 4.2.3. Rollenspiele und inszenierte Intrige
  • 4.2.4. Metaphorisierungsverfahren und Schnitzlers Modernität
  • 4.3. »Ich war der Spiegel«. Gesicht und Maske: metaphorische Spiegelungen bei Rilke
  • 4.3.1. Narration in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: Konstruktion der Topographie der Großstadt, der Kindheit und von Historie
  • 4.3.2. Vernetzte Räume und Zeiten: gegenseitige Spiegelungen, Metaphorisation und ihre Dekonstruktion
  • 4.4. Metaphorisierung des Erzählens bei Viktor Cholnoky
  • 4.4.1. Sprachspielerische Metaphorisierung des Erzählens
  • 4.4.2. Erzählte Kunstmetapher
  • 4.5. Identität, Metaphorisierung und Phantastik bei Leo Perutz
  • 4.5.1. Erzählte Erinnerungen – narrative Rekonstruktionen
  • 4.5.2. (Re)konstruierte Identitäten
  • 4.5.3. Ambivalentes Erzählen, Intertextualität, Metaphorisierung und phantastische Elemente
  • 5. Erzählen und Erinnerung
  • 5.1. Historische Krisenzeiten und Erinnerungsdiskurse
  • 5.2. Arthur Schnitzlers Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Erinnerung
  • 5.2.1. Erzählte Erinnerung an eine untergegangene Welt: Szenerien der erzählten Geschichte
  • 5.2.2. Erzähler und Erzähldiskurs: Traum, Erinnerung und Unzuverlässigkeit
  • 5.2.3. Beständigkeit und Veränderungen Schnitzlerschen Erzählens
  • 5.3. Untergangsgeschichten im Rückblick: Joseph Roth und Robert Musil in Konkurrenz
  • 5.3.1. Verfall und Untergang: Zuflucht ins Private in Roths Radetzkymarsch
  • 5.3.2. Möglichkeit und Unmöglichkeit: Geschichtsparadoxon in Musils Der Mann ohne Eigenschaften
  • 5.3.3. Musil und Roth in Parallelaktion
  • 5.4. Monarchie-Diskurs und Erinnerung bei Gyula Krúdy
  • 5.4.1. Narrative Erinnerungssteuerung im Roman Meinerzeit
  • 5.4.2. Untergegangene Welt der Monarchie: Erinnerung und Weiterleben im Alltag
  • 5.5. Rückblick, Erinnerung, Übergang als Grenzerfahrung bei Sándor Márai
  • 5.5.1. Idylle: Jugend in der Monarchie
  • 5.5.2. Grenzerfahrungen: Odyssee eines Bürgers
  • 5.6. Vergessen, Erinnerung und Erzählen bei Leo Perutz
  • 5.6.1. Erinnern und die »eingefrorene« Zeit
  • 5.6.2. Erinnern und Nicht-Vergessen-Wollen
  • 5.6.2.1. »Suche« als narratives Modell
  • 5.6.2.2. Mißlingen, Einsicht, Erkenntnis – der negative »Held« von Perutz
  • 5.6.2.3. Individuelle Geschichte und Zeitgeschichte
  • 5.6.3. Erinnerung als Vergangenheitskonstruktion
  • 5.6.3.1. Erinnerung als Rekonstruktion individueller Geschichte
  • 5.6.3.2. Kollektives Gedächtnis – »versteinerte Geschichte«
  • 5.6.3.3. Geschichte als Nachbildung
  • 6. Nachwort
  • 7. Literaturverzeichnis
  • 8. Namenregister
  • Reihenübersicht

Magdolna Orosz

Erzählen – Identität – Erinnerung

Studien zur deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1890–1935

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AUTORENANGABEN

Magdolna Orosz ist Professorin für neuere deutsche Literatur im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Narratologie, Literatursemiotik, Literatur der Romantik, deutschsprachige und ungarische Literatur der frühen Moderne und Intertextualitäts-und Intermedialitätsforschung.

ÜBER DAS BUCH

Das Buch analysiert die Wandlungen der Kultur und Literatur der frühen Moderne der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wien und Budapest. Die Autorin reflektiert Veränderungen des Erzählens und der poetologischen Ansichten und fokussiert Probleme wie Ich-Konzepte, Sprachkrise und Fragen der sprachlichen Vermittlung. Sie untersucht Bildlichkeit, Intertextualität und Intermedialität, Metaphorisierung und Phantastik, die narrative Gestaltung von Erinnerung. Das Buch bezieht in einem Ausblick die Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie mit ein.

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INHALTSVERZEICHNIS

1.             EINLEITUNG. ABGRENZUNGEN UND ZIELSETZUNGEN

2.             KULTUR UND LITERATUR DER FRÜHEN MODERNE

2.1.          Jahrhundertwende und frühe Moderne: Kultur im Wandel

2.2.          Sprache und Sprachlichkeit

2.2.1.       Sprachproblem und Sprachkrise in der Literatur

2.2.1.1.    Sprache und Metapher: Nietzsche und Mauthner

2.2.1.2.    Sprachkrise und literarisch-ästhetische Reflexionen bei Hofmannsthal, Beer-Hofmann, Musil, Schnitzler

2.2.2.       Sprachkrise – Auswege: Bild, Visualität, neues Sehen

2.2.2.1.    Sprache und Visualität bei Hofmannsthal

2.2.2.2.    Sehen lernen und Visualität als poetologisches Prinzip bei Rilke

2.2.3.       Sprachlichkeit: Verständigung und Zerfall

2.2.3.1.    Utopie der ideellen Sprache

2.2.3.2.    Sprachenvielfalt und Staatenzerfall

3.             IDENTITÄT UND ERZÄHLEN

3.1.          »Der Faden der Erzählung«. Identitätsproblematik und Erzählen

3.2.          Erzählte Identitäten

3.2.1.       Eine Vater-Sohn-Geschichte in perspektivierender Umschreibung

3.2.2.       Unerreichte und unerreichbare Erkenntnis – verhinderte Identität

3.2.3.       Tod und Selbstverlust als Quelle von Erkenntnis und Selbstfindung

3.2.4.       Identität zwischen Trennung und Vereinigung

3.2.5.       Ich-Spaltung und Identitätsverlust

3.2.6.       Intertextuelle Modelle und Identitätssuche

3.2.7.       Eigenes, Fremdes, Mehrfachidentitäten – erzählerische Identitätsstiftung

4.             ERZÄHLEN UND METAPHER

4.1.          Metaphorisiertes Erzählen

4.2.          Metaphorizität der erzählten Welt bei Arthur Schnitzler

4.2.1.       Durch die Blume: metaphorische Setzungen

4.2.2.       Theatralische Blumensymbolik

4.2.3.       Rollenspiele und inszenierte Intrige

4.2.4.       Metaphorisierungsverfahren und Schnitzlers Modernität

4.3.          »Ich war der Spiegel«. Gesicht und Maske: metaphorische Spiegelungen bei Rilke

4.3.1.       Narration in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge: Konstruktion der Topographie der Großstadt, der Kindheit und von Historie

4.3.2.       Vernetzte Räume und Zeiten: gegenseitige Spiegelungen, Metaphorisation und ihre Dekonstruktion

4.4.          Metaphorisierung des Erzählens bei Viktor Cholnoky

4.4.1.       Sprachspielerische Metaphorisierung des Erzählens

4.4.2.       Erzählte Kunstmetapher

4.5.          Identität, Metaphorisierung und Phantastik bei Leo Perutz

4.5.1.       Erzählte Erinnerungen – narrative Rekonstruktionen

4.5.2.       (Re)konstruierte Identitäten

4.5.3.       Ambivalentes Erzählen, Intertextualität, Metaphorisierung und phantastische Elemente

5.             ERZÄHLEN UND ERINNERUNG

5.1.          Historische Krisenzeiten und Erinnerungsdiskurse

5.2.          Arthur Schnitzlers Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Erinnerung

5.2.1.       Erzählte Erinnerung an eine untergegangene Welt: Szenerien der erzählten Geschichte

5.2.2.       Erzähler und Erzähldiskurs: Traum, Erinnerung und Unzuverlässigkeit

5.2.3.       Beständigkeit und Veränderungen Schnitzlerschen Erzählens

5.3.          Untergangsgeschichten im Rückblick: Joseph Roth und Robert Musil in Konkurrenz

5.3.1.       Verfall und Untergang: Zuflucht ins Private in Roths Radetzkymarsch

5.3.2.       Möglichkeit und Unmöglichkeit: Geschichtsparadoxon in Musils Der Mann ohne Eigenschaften

5.3.3.       Musil und Roth in Parallelaktion

5.4.          Monarchie-Diskurs und Erinnerung bei Gyula Krúdy

5.4.1.       Narrative Erinnerungssteuerung im Roman Meinerzeit

5.4.2.       Untergegangene Welt der Monarchie: Erinnerung und Weiterleben im Alltag

5.5.          Rückblick, Erinnerung, Übergang als Grenzerfahrung bei Sándor Márai

5.5.1.       Idylle: Jugend in der Monarchie

5.5.2.       Grenzerfahrungen: Odyssee eines Bürgers

5.6.          Vergessen, Erinnerung und Erzählen bei Leo Perutz

5.6.1.       Erinnern und die »eingefrorene« Zeit

5.6.2.       Erinnern und Nicht-Vergessen-Wollen

5.6.2.1.    »Suche« als narratives Modell

5.6.2.2.    Mißlingen, Einsicht, Erkenntnis – der negative »Held« von Perutz

5.6.2.3.    Individuelle Geschichte und Zeitgeschichte

5.6.3.       Erinnerung als Vergangenheitskonstruktion

5.6.3.1.    Erinnerung als Rekonstruktion individueller Geschichte

5.6.3.2.    Kollektives Gedächtnis – »versteinerte Geschichte«

5.6.3.3.    Geschichte als Nachbildung

6.             NACHWORT

7.             LITERATURVERZEICHNIS

8.             NAMENREGISTER ← 7 | 8 →

1. EINLEITUNG – ABGRENZUNGEN UND ZIELSETZUNGEN

Historische, kulturelle und literarische Veränderungen lassen sich in vielfältiger Weise wahrnehmen und reflektieren, sie implizieren aber immer bestimmte, von den jeweiligen Untersuchungsabsichten und -aspekten beeinflußte Perspektivierungen: Das kann weitgehend zu unterschiedlichen Diagnosen, Einteilungen und Bezeichnungen führen, wie das am Beispiel einer bedeutsamen Zeitspanne der deutschen bzw. europäischen Literatur und Kultur nachweisbar ist.

Die sogenannte Jahrhundertwende um 1900 ist für literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen ein »weites Feld«, ihre Einordnung in den Kontext der frühen Moderne, die ungefähr in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930 situierbar ist, läßt sich auf Grund der vielfältigen sozialen, kulturellen und künstlerischen Prozesse dieser Zeitspanne weitgehend begründen und auch in die um die Moderne und Postmoderne geführten Debatten einreihen.1 Dabei ist allein der Begriff der ›Moderne‹ schillernd und mehrfach bestimmbar: Die ›Moderne‹, wie sie in der Geschichtswissenschaft verstanden wird, sei an und für sich schwer abzugrenzen und mit langwierigen Transformationen verbunden. Koselleck äußert daher, auf Grund allgemeinhistorischer Ausführungen, die Behauptung, »[d]ie Dynamik der Moderne wird als sui generis gesetzt. Es handelt sich um einen Zeitigungsprozeß, dessen Subjekt oder Subjekte nur in der Reflexion auf den Prozeß zu ermitteln sind, ohne damit den Prozeß determinierbar zu machen.«2 Der Anfang dieses Prozesses wäre am Ende des 18. Jahrhunderts zu situieren, wie dies auch aus den Ausführungen von Welsch indirekt hervorgeht, der mehrere Moderne-Begriffe erwähnt und zugleich feststellt, es »bestehen gravierende Unterschiede beispielsweise zwischen einer Moderne der Rationalisierung, einer Moderne der ästhetischen Existenz und einer Moderne des Liberalismus«.3 In Hinsicht auf Kunst und Literatur spricht er gerade von »ästhetischen Modernen«, und in Hinsicht auf Literaturgeschichte unterscheidet er »mindestens drei unterschiedliche Moderne-Konzepte: das der ›ästhetischen Revolution‹ kurz vor 1800, das der Baudelaireschen ›modernité‹ um 1850 und das vom Kreis um Apollinaire ausgehende Programm der Avantgarde zu Beginn dieses Jahrhunderts.«4 Obwohl die Betrachtungen von ← 9 | 10 → Welsch zumindest in Bezug auf die Zeit um 1900 ein wenig pauschal anwendbar zu sein scheinen und in ihnen eben die Prozessualität der mit der Moderne zusammenhängenden Phänomene zu kurz kommt, soll die von Welsch betonte Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Erscheinungen hervorgehoben werden, die – zumindest um 1900 und danach – »die vorgebliche Unilinearität einer Entwicklung definitiv unglaubhaft«5 macht. Die vielfältige Ausdifferenzierung der Literatur um 1900 in verschiedene Stilrichtungen und Programme, ihre widersprüchlichen Einstellungen zu unterschiedlichen Traditionen ihrer eigenen Konzeptionen können die Weitverzweigtheit der Ästhetik und Literatur der Jahrhundertwende und der frühen Moderne wohl aufzeigen.

Je nach Untersuchungsinteresse und disziplinärer Verankerung kann die Situierung der Moderne bzw. ihrer Phasen verschiedenartig ausfallen: Jauß nimmt in der Erörterung des Prozesses der ästhetischen Moderne auf Kosellecks Ausführungen Bezug6, dabei sieht er in der deutschen Frühromantik »eine Epochenwende, […] von der man sagen kann, daß der Anbruch einer neuen Moderne wohl nie so dezidiert im ästhetischen Bewußtsein vorweg proklamiert und kategorial entworfen wurde wie gerade hier und jetzt«.7 Grimminger spannt den Bogen der als »Neuzeit« verstandenen ›Moderne‹ weit zurück, betont das romantische Selbstverständnis als ›modern‹ und hebt die Bedeutung der »neuen Schwelle«, an der die Modernität am Ende des 19. Jahrhunderts angekommen sei, besonders hervor, denn hier setzt »›die Moderne‹ den zweiten Beginn einer Neuzeit« als »die Ankunft einer unvergleichlich neuen Epoche«.8 Sabine Schneider, die die intermedialen Wandlungen der Literatur verfolgt und sie damit in einen breiteren Kontext zu stellen sucht, spricht von der Zeit um 1900 ebenfalls als von der »zweiten Umbruchszeit der Moderne«.9

In anderen Arbeiten wird dagegen die Moderne vorwiegend auf literarische Prozesse beschränkt und zugleich mit der Einsicht in die Folgen dieser Einschränkung verknüpft: Becker und Kiesel verstehen in ihrer Analyse unter ›Moderne‹ die im Naturalismus geprägte Auffassung der in den 1880er Jahren einsetzenden naturalistischen Bewegung und den sich danach entfaltenden Stilpluralismus. Sie erwägen dabei auch die Diskrepanzen einer »gesellschaftliche[n] Modernisierung ← 10 | 11 → und [der] kulturelle[n] Moderne«10 und gelangen zur Annahme, die »Moderne wäre sodann die kategorische und permanente Hinterfragung von Modernisierungsprozessen«.11 Wünsch und Titzmann konzentrieren sich in einem engeren Sinne auf die Wandlungen der (vor allem deutschsprachigen) Literatur und bestimmen die Zeit etwa zwischen 1880 bis 1930 als den Anfang einer ›Moderne‹ bzw. ihre Anfangsphase als die ›Frühe Moderne‹.12 Der so verstandene Begriff der ›Frühen Moderne‹ berücksichtigt zwar allgemeine Veränderungen des Selbstverständnisses von Literatur, ist aber vor allem auf die deutschsprachige Literatur bezogen, wobei die die Grenzen von »Nationalliteraturen« überschreitenden vielfachen literarischkulturellen Wechselbeziehungen der Zeit diese Sicht differenzieren könnten. So können allein schon im Vergleich der Berliner und der Wiener Moderne und ihrer unterschiedlichen Akzentsetzungen, in den Selbstbestimmungen der miteinander konkurrierenden und/oder sich ablösenden Bestrebungen neuer/moderner literarischer Programmatiken gravierende Unterschiede und Verschiebungen festgestellt werden: Berlin war zwar der Ort der »erste[n] Proklamation der Moderne im deutschsprachigen Raum«13, »[g]leichwohl ist aber festzustellen, daß Wien um die Jahrhundertwende zu einem Sammelpunkt von Autoren wurde, die in besonderer Weise innovativ wirkten und die Moderne vorantrieben.«14 In weniger im Zentrum europäischer literaturgeschichtlicher Aufmerksamkeit stehenden Literaturen (wie in der ungarischen, die jedoch für die zeitgenössischen Bestrebungen besonders offen war) können die Phasen einer literarischen Moderne anders oder mit einigen Verzögerungen auftreten15, bei eingehender Untersuchung sind hingegen viele Parallelitäten und Ähnlichkeiten zu entdecken, »da man freilich, besonders in einem internationalen Rahmen, mit der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen rechnen muß«.16 ← 11 | 12 →

Außer der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Abschnitte wird die Moderne auch oft (oder parallel) geographisch-räumlich definiert, so wird Paris als einem führenden Zentrum der Moderne bereits von den Zeitgenossen eine große Bedeutung eingeräumt. In Bezug auf die deutschsprachige Literatur wird – wie dies gleich bei der Diskussion zeitlicher Prioritäten ersichtlich ist – unter diesem geographischen Aspekt von einer Berliner und einer Wiener Moderne gesprochen, die einander auch mehrfach gegenübergestellt werden können, obwohl sie vielfältige (persönliche wie institutionelle) Beziehungen zueinander unterhielten, indem z.B. Hermann Bahr aus Berlin – über Paris – kommend die Wiener Moderne anspornte oder Berliner Verleger und Theater die Werke von Wiener Autoren verlegten bzw. aufführten. In dieser Hinsicht räumt Kiesel der Berliner Moderne eine zeitliche Priorität ein, die von dem Selbstverständnis des sich behauptenden Naturalismus um 1880 geprägt war, andererseits betont er aber auch, daß die Wiener Moderne oft mit der Moderne schlechthin gleichgesetzt wird, indem »der Begriff der literarischen Moderne eng mit dem Namen Wien verbunden [ist]. Schon im Bewußtsein vieler Zeitgenossen der frühen Moderne, erst recht aber im Bewußtsein vieler Nachgeborener figurierte Wien als Ursprungsort der Moderne.«17

Die Wiener Moderne, die weniger offensiv war und Tradition und Modernität miteinander zu verbinden wußte18, hatte einen starken innovativen Charakter und eine Ausstrahlung, die auch für andere, weniger bekannte »Modernen« von Bedeutung werden konnte. Wien als Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie vereinigte in sich selbst auch all die »Heterogenitäten und Differenzen«19, die die Monarchie zeit ihres Bestehens kennzeichneten; ihre Auswirkung auf andere »lokale« oder (im Verhältnis zu Wien als Zentrum) »periphere« Zentren hat die regionalen kulturellen und künstlerisch-literarischen Vernetzungen weitgehend beeinflußt (obwohl hier immer auch vielfältige Wechselwirkungen vorhanden waren). So spielte (neben anderen Städten der k.u.k.-Monarchie wie u.a. Prag) auch Budapest und eine »Budapester Moderne« – gerade infolge vielfacher Transfererscheinungen – um die Jahrhundertwende bzw. in der frühen Moderne eine nicht unbedeutende Rolle.20 Die enge Vernetzung und Parallelität der Zentren der frühen Moderne wie Berlin und Wien stehen für die Literaturwissenschaft außer Frage, da »sie sich in einem gemeinsamen europäischen Rahmen und in enger ← 12 | 13 → Berührung miteinander entfalteten«21 – eine Weiterführung der vergleichenden Analysen in Bezug auf andere Zentren der frühen Moderne wie Budapest bzw. Berlin-Budapest und vor allem Wien–Budapest könnte auch neue Einsichten in die Epoche bringen.

Im folgenden wird die Untersuchung auf die Kultur und Literatur der Epoche der Jahrhundertwende bzw. der frühen Moderne konzentriert, wobei vor allem die Kultur und Literatur in Zentraleuropa und ihren Zentren in Wien und Budapest in der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, somit besonders zur Jahrhundertwende, in den Vordergrund gestellt werden. Die Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie werden in Form eines Ausblicks als Momente der Fortführung sowie als Abschluß verschiedener Erscheinungen der Jahrhundertwende betrachtet.

Wien und Budapest definierten sich ständig in Gefolge oder in Konkurrenz zu anderen Zentren wie vor allem Paris und Berlin (die beiden teilweise gegeneinander ausspielend), und sie sahen ihre Existenz sowie ihre Eigenart in ambivalenten Brechungen.22 In den folgenden Überlegungen werden die Kultur(en) und Literatur(en) der Österreichisch-Ungarischen Monarchie als ein komplexes und heterogenes Gebilde betrachtet: Die vielfältigen Erscheinungen, Verbindungen und Gegensätze von »Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat« (MoE, 32), wie Robert Musil dieses Land in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften nannte, werden in ihrer Komplexität und Heterogenität angenähert. Die Vielfalt gibt den zu analysierenden Phänomenen und Texten ihr eigenartiges Gepräge und läßt unterschiedliche Betrachtungsweisen zu, u.a. eine kulturwissenschaftliche, die die Kultur der Monarchie als eine dynamische auffaßt, ihre Hybridität aufweist und die kulturellen Prozesse in ihrer Komplexität analysiert.23

Im Vordergrund stehen dabei einige Erscheinungen, die in der Literatur, vor allem in der Erzählliteratur der Jahrhundertwende und der frühen Moderne zu beobachten sind, die auf tiefer greifende kulturelle, ästhetische Wandlungen schließen lassen, wobei eben die Veränderungen des Erzählens sowie der ästhetischen und poetologischen Ansichten selbst direkt oder indirekt die Wandlungen reflektieren.

Das Hauptaugenmerk liegt vor allem auf literarischen narrativen Texten. Aus ihrer Analyse sollten sich Ausblicke auf Veränderungen des Erzählens, aber auch ← 13 | 14 → auf kulturelle und literarische Änderungen ergeben: Ich-Konzepte, Fragen der Sprache, der Sprachlichkeit und der sprachlichen Vermittlung, der Bildlichkeit und der Bildersprache, Intertextualität und Intermedialität, narrative Techniken, Möglichkeiten des Erzählens, Metaphorisierung und Phantastik sowie die narrative Gestaltung von Erinnerung sollen miteinander vernetzt, zugleich deutsch- und ungarischsprachige Texte zusammenführend behandelt werden, ohne sie als Beweise für eine homogene Kultur und Literatur zu betrachten.24

Details

Seiten
380
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631698143
ISBN (ePUB)
9783631698150
ISBN (MOBI)
9783631698167
ISBN (Hardcover)
9783631568378
DOI
10.3726/978-3-631-69814-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Kultur und Literatur der Jahrhundertwende Sprachkrise Identitätskrisen Metaphorisierung des Erzählens Historische Krisenzeiten und Erinnerung k.u.k-Monarchie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 380 S., 3 Graf., 1 Tab.

Biographische Angaben

Magdolna Orosz (Autor:in)

Magdolna Orosz ist Professorin für neuere deutsche Literatur im Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Narratologie, Literatursemiotik, Literatur der Romantik, deutschsprachige und ungarische Literatur der frühen Moderne und Intertextualitäts-und Intermedialitätsforschung.

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Titel: Erzählen – Identität – Erinnerung
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